Kapitel 29

 

Bajor,

Sternzeit 55598.3

 

In dem Augenblick, als das Glitzern eines Transporterstrahls die Höhle erhellte, wusste Kirk, dass Picard und er verloren hatten. Wer auch immer die Fäden im Hintergrund gezogen hatte: Er kontrollierte die Situation weitaus besser als die beiden unbewaffneten Raumschiffkommandanten.

Doch als Kirk erfuhr, dass der von den Toten wieder auferstandene Sedge Nirra ein Cardassianer war … Da begriff er, dass sie noch gewinnen konnten.

Sein Hinweis Corrin Tal – oder Rals Salan – gegenüber, dass er Bajor, die Propheten und die Tränen genannten Doppelkugeln nicht verstand, entsprach der Wahrheit. Aber er verstand die Gefühle, die Personen veranlassten, sich dem Mystischen zuzuwenden. Auch er hatte den davon ausgehenden Reiz gespürt und wusste, was es bedeutete, sich dem Wunder der Existenz gegenüber klein zu fühlen. Und wie konnten konkrete Pläne geschmiedet werden angesichts einer Herausforderung, die sich nur mithilfe des Glaubens einschätzen ließ?

Aber ein Cardassianer – das war eine ganz andere Sache. Insbesondere ein cardassianischer Soldat.

Das war ein Gegner, von dem man einen genauen Eindruck gewinnen, den man verstehen und manipulieren konnte.

Kirk bezweifelte, dass er jemals zu einem Kampf gegen Engel imstande sein würde. Aber gegen den Teufel konnte er durchaus antreten. Er und der Teufel benutzten die gleiche Sprache.

»Was die Logistik betrifft …«, sagte Kirk zu Atal. »Wir gehen folgendermaßen vor: Zuerst werfen Sie Ihren Disruptor ins Wasser.«

»Damit ich völlig hilflos bin?«, fragte Atal ungläubig.

Kirk durchschaute den Cardassianer sofort. »Atal, versuchen Sie nicht, einen Bluffer zu bluffen. Sie haben die Leiche Ihres Komplizen fortgebeamt. Was bedeutet, dass Sie irgendwie den Transferfokus auf ihn richten konnten. Ich vermute, er verfügte über einen subdermalen Transponder, vermutlich einen, der Biosignale sendete – daher wussten Sie von seinem Tod. Und wenn Ihr Komplize einen solchen Transponder hatte, dann sind Sie sicher auch mit einem ausgestattet. Sie wollen diese Höhle wieder verlassen, indem Sie mit dem Transponder ein Signal senden, das den Transporter aktiviert. Und da Sie diesen Ort jederzeit verlassen können, brauchen Sie den Disruptor nur, um uns zu töten.«

Atal blieb in der Defensive, aber Kirk sah, dass er der überlegenen Strategie nachgab.

»Na schön«, sagte der Cardassianer. »Ich werfe meinen Disruptor weg. Und dann?«

»Dann sage ich Ihnen, wo Sie die Träne finden können.«

Diesmal war Atals Zweifel noch größer. »So einfach ist das?«

»Die Träne befindet sich nicht weit von hier entfernt«, sagte Kirk. »Und während Sie sie holen, verlassen Picard und ich die Höhle. So einfach ist das.«

»Und wenn sich herausstellt, dass sich die Träne nicht an dem Ort befindet, den Sie mir genannt haben?«

»Wir brauchen etwa eine halbe Stunde, um zur Tauchplattform zurückzukehren. Sie haben irgendwo in der Nähe einen Transporter. Und vermutlich liegt dort ein weiterer Disruptor für Sie bereit. Wenn sich die Träne nicht am genannten Ort befindet … Ich schätze, in dem Fall erwarten Sie uns auf der Plattform, um mich auf meinen Fehler hinzuweisen.«

»Jim …«, sagte Picard so, als brächte er es nicht fertig, noch länger zu schweigen. »Das kann er in jedem Fall!«

Aber Kirk schüttelte den Kopf. »Nein. Sobald er die Träne hat, wird er so schnell wie möglich verschwinden. Nicht wahr, Atal?«

Der Cardassianer gab keine Antwort.

»Andernfalls sieht er sich mit einer Starfleet-Fahndung konfrontiert«, sagte Kirk zu Picard.

Atal wog den Disruptor in seiner Hand. »Von einem Soldaten zum anderen – wir haben eine Abmachung. Aber werfen Sie zuerst Ihre Bolzenpistole ins Wasser.«

Kirk zögerte nicht, hob das Halfter vom Boden auf und trat dann zur überfluteten Treppe. Dort ließ er das Halfter mit der Waffe lächelnd ins Wasser fallen; es sank sofort.

»Jetzt sind Sie dran«, sagte Kirk.

Atal schritt zu der Öffnung im Höhlenboden, in der Kirk die ersten gefangenen Screen des Rayl-Fisches gesehen hatte. Er schaute den Captain an, als er den Strahler ins Wasser fallen ließ.

Picard setzte sich sofort in Bewegung, aber Kirk hielt ihn zurück. »Nein. Es ist die Sache nicht wert.«

Picard bedachte ihn mit einem kummervollen Blick. »Ich kenne die Cardassianer, Jim. Man kann ihnen nicht trauen.«

Picard war sein Freund und sie hatten lange Gespräche miteinander geführt – das versetzte Kirk in die Lage, Picards Proteste als Manöver zu erkennen.

Er versteht, dachte Kirk. Gut.

»Wenn du Schwierigkeiten machst, werfe ich dich ins Wasser zurück«, sagte er drohend.

Picard fügte sich widerstrebend, aber nicht ohne den Hinweis, dass er Kirk vor Gericht bringen würde. Der Streit schien Atal zu amüsieren und Kirk war froh über die Ablenkung.

»Und jetzt …«, sagte Atal. »Wo befindet sich die Träne?«

Kirk deutete auf die Öffnung im Boden, aus der er Picard gezogen hatte. »Das Loch beim Felsblock mit dem Symbol, das Bajor und den Tempel repräsentiert.«

Atal trat ans Loch heran, blickte hinein und sah dann wieder zu Kirk. »Wie tief ist es?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Kirk wahrheitsgemäß. »Aber es spielt auch keine Rolle. Die Träne liegt in einer Nische in der Felswand, etwa anderthalb Meter unter dem Wasserspiegel, an der Seite, an der das Symbol angebracht ist.«

Der Cardassianer wirkte verwundert. »Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Atal, diese Höhle war nicht immer überflutet«, sagte Kirk. »Ich glaube, Ihr Volk hatte etwas damit zu tun.«

Atal starrte erneut ins Loch. »Na schön. Wenn Sie meinen …« Er zog sich die rüstungsartige Uniformjacke aus steifem schwarzem Leder über den Kopf. Es überraschte Kirk nicht zu sehen, dass der Cardassianer darunter einen Thermoanzug trug. Atal war Soldat und daher auf alle Eventualitäten vorbereitet.

Kirk fing Picards Blick ein und deutete zu ihrer Ausrüstung. »Machen wir uns auf den Weg«, sagte er leise.

Die beiden Männer legten rasch ihre Westen und Auftriebschläuche an. Kirk nahm das übrig gebliebene Atemgerät. Mit nur einem Gerät würde die Rückkehr zur Tauchplattform alles andere als leicht sein, aber sie konnten es schaffen.

Kirk sah immer wieder zu Atal, der auch Stiefel und Uniformhose abstreifte. Bisher entwickelten sich die Dinge so, wie er es geplant hatte: Die Aufmerksamkeit des Cardassianers galt allein der Bodenöffnung und dem, was sich darin befinden mochte. Allerdings bezweifelte Kirk inzwischen, dass die Träne für Atal ebenso wichtig war wie die Rache für den Verrat, der vor vielen Jahren von Leuten verübt worden war, die längst nicht mehr lebten.

Als Kirk erneut zu Atal sah, zum letzten Mal, wie er hoffte, lächelte der blasse Cardassianer mit dem dünnen Hals wieder. Mit einer kleinen Waffe, die offenbar aus einem verborgenen Halfter stammte, zielte er auf Kirk.

»Sie sind zum Tauchen bereit«, sagte Atal. »Ich schlage vor, Sie holen die Träne für mich.«

»Ich dachte, wir hätten eine Vereinbarung getroffen«, erwiderte Kirk. »Unter Soldaten.«

»Ich sehe keine Nische in der Felswand.«

Kirk hob seine Lampe. »Benutzen Sie dies.«

»Das nützt kaum etwas. Kommen Sie her. Na los!«

Kirk und Picard gingen langsam zu Atal. Kirk hinkte und Picard war sehr erschöpft nach all dem, was er hinter sich hatte.

»Leuchten Sie ins Wasser«, sagte der Cardassianer.

Kirk kam der Aufforderung nach.

Unter der Wasseroberfläche reichte der Lichtstrahl nur einige Zentimeter weit. Es sieht aus wie Tinte, dachte Kirk und erinnerte sich. Dieser Gedanke war ihm auch am vergangenen Abend durch den Kopf gegangen, als er von der Tauchplattform ins Wasser gesehen hatte, von Picards Tod überzeugt.

»Ich tauche nicht in dieses Loch«, sagte Atal. »Es sei denn, einer von Ihnen beweist mir, dass keine Gefahr besteht.«

Kirk leuchtete mit seiner Lampe direkt nach unten und in ihrem Licht erschien ein Vorsprung am Rand des Loches. Er lachte. »Da ist Ihr Problem, Atal.«

Der Cardassianer beugte sich argwöhnisch vor und spähte in die Tiefe. »Wo?«

»Hier«, sagte Kirk, schwang die Lampe jäh herum und schmetterte sie Atal an den Kopf.

Der Höhlenboden neben dem Cardassianer explodierte regelrecht, als ein hochenergetischer Strahl aus dem Lauf der kleinen Waffe dort einschlug.

Atal taumelte zurück und versuchte, den Strahler auf Kirk zu richten.

Aber Kirk schlug die Hand seines Gegners beiseite, woraufhin der Disruptorstrahl erneut das Ziel verfehlte und die Höhlendecke traf.

Wieder trachtete der Cardassianer danach, auf den Menschen zu zielen, und diesmal griff Kirk nach der Hand, zwang sie beiseite.

Atal wechselte seine Taktik und trat Kirk ans verbundene Bein.

Kirk schnappte schmerzerfüllt nach Luft, sank auf die Knie und streckte den Arm, damit der Disruptor auf die Decke gerichtet blieb.

Eine Faust sauste über ihn hinweg und traf Atals Kinn. Picard.

Kirk hielt die Hand des Cardassianers fest, als diesem die Waffe aus den Fingern rutschte und zu Boden fiel.

Eine Sekunde später hatte sich Atal von Picards Angriff erholt und drängte Kirk zur Seite, um nach dem Disruptor zu greifen.

Ein Fuß traf ihn. Noch einmal Picard!

Der Cardassianer wankte und ließ Kirk los, der durch das Atemgerät auf dem Rücken das Gleichgewicht verlor und zur Seite kippte – das gab Picard freie Bahn.

Kirk beobachtete voller Bewunderung, wie Picard verborgene Kraftreserven mobilisierte und Atal einen weiteren Tritt an den Kopf versetzte. Es folgten einige Fausthiebe, die Kopf und Hals galten.

Kirk verstand die Strategie und entsann sich an Atals Hinweis darauf, dass die Operation, die ihm das Aussehen eines Bajoraners verliehen hatte, sehr schmerzhaft gewesen war. Picard versuchte, den chirurgisch veränderten Hals zu attackieren.

Es schien ihm zu gelingen. Atal duckte sich und hob die Arme zum Kopf, um weitere Hiebe abzuwehren.

Picard wich zurück. Er taumelte ein wenig und atmete schwer, ließ aber nicht locker und hielt beim Cardassianer nach einer Blöße Ausschau.

Kirk wusste, was jetzt geschehen würde.

»Jean-Luc!«

Zu spät. Atal warf sich zur Seite, stützte sich mit einem Arm ab, trat mit einem Fuß zu, traf Picards Beine und brachte ihn zu Fall.

Beide Männer lagen neben der Öffnung im Höhlenboden, der kleine Disruptor zwischen ihnen.

Atal und Picard streckten gleichzeitig die Hand danach aus.

Kirk stemmte sich hoch und hatte es ebenfalls auf die Waffe abgesehen.

Aber Atals Finger erreichten sie zuerst, schlossen sich um ihren Kolben und hoben sie. Nur einen Sekundenbruchteil später kam Picards Faust herab und drückte den Strahler wieder nach unten.

Atal und Picard sahen sich an. Kirk wusste: Wenn einer der beiden Kontrahenten die Waffe unter Kontrolle bekam, so bedeutete das den Tod des anderen.

Kirk trat Atal in die Rippen, doch dadurch bekam der Cardassianer das nötige Bewegungsmoment, um Picard den Disruptor endgültig zu entreißen.

Er rollte auf die Seite, hob den Disruptor und zielte auf Kirk.

Kirk ließ sich fallen.

Atal schoss.

Kirk prallte auf den Höhlenboden und das Atemgerät auf seinem Rücken explodierte.

Er sah Sterne und die Wucht des Aufpralls presste ihm die Luft aus den Lungen.

Dunkelheit wogte heran; er drehte den Kopf und sah zu Atal. Der Cardassianer lächelte triumphierend und richtete den Disruptor zu einem letzten Schuss auf Kirk, der sich am Rande des großen Dunkels wusste – das Ende seiner Existenz stand unmittelbar bevor.

Er sammelte Kraft, um noch einmal auf die Beine zu kommen.

Er blickte in Atals Augen.

Und wusste, dass es vorbei war.

Und dann schoss ein Tentakel aus dem tintenschwarzen Wasser und schlug gegen den Cardassianer.

Atal schrie.

Kirk schnappte nach Luft und dachte an kleine Ringe aus Zähnen, angeordnet wie die Saugnäpfe eines Kraken.

Atal schrie erneut, als ein zweiter Tentakel aus dem Loch zuckte und sich ihm um die Beine schlang.

Immer wieder fauchten Disruptorstrahlen, kochten über die Höhlendecke und lösten Gestein aus ihr. Dann fiel die Waffe aus Atals Hand, prallte vom Boden ab und verschwand im Wasser.

Picard wich von der Öffnung im Boden zurück und näherte sich Kirk. »Was ist das für ein Geschöpf, Jim?«

»Es hat dich hierher gebracht«, schnaufte Kirk.

Drei lange Tentakel hatten sich um Atal gewickelt. Der Mund des Cardassianers öffnete und schloss sich in stummer Agonie.

»B'ath b'Etel«, keuchte Kirk. »Hüter der verlorenen Tränen. Auf der Suche nach Buße.«

Atal sah Kirk an, hauchte seinen Namen und flehte um Hilfe.

Aber bevor Kirk reagieren konnte, zogen die Tentakel den Cardassianer ins Loch.

Atal verschwand in der Öffnung, das Wasser spritzte empor, dann folgte Stille.

Ein Mörder hatte seine gerechte Strafe erhalten.

Und Kirk und Picard saßen in der Höhle fest, tief in Bajors Binnenmeer.