Während ich noch über Buehlin grübelte, hatten meine Füße auf dem Weg zum Donaukanal einen Umweg eingeschlagen. In der Clusiusgasse wohnte zu der Zeit ein guter Freund. Bevor ich der Kreditsache weiter auf den Grund ginge, wollte ich noch ein bisschen etwas anderes in Erfahrung bringen, und dafür war er der richtige Mann. Unter den Sommerlinden, neben einer Hauseinfahrt, findet sich in der stillen Gasse ein Milchglasfenster. Dort klopfte ich an. Es dauerte nicht lange, ich hörte Schritte und das Fenster öffnete sich.
»Servus, Arno, willst du reinkommen?«, begrüßte mich eine volle, tiefe Männerstimme, die auch nach langen Jahren des Exils ihren rheinischen Ursprung nicht verleugnen konnte.
»Sicher.«
Ich wuchtete mich auf das Fensterbrett und stieg ein. Wir schüttelten uns die Hände. Shahin ist etwa einsneunzig groß und ein richtiger Kasten von einem Mann. Zehn Zentimeter mehr Schulterbreite und man könnte ihn bei Ikea unter dem Namen »Ririko« kaufen.
»Willst du auch was essen? Ich mache mir nämlich gerade Reis.«
Wenn Shahin einem Reis anbietet, sagt man nicht nein. Die wechselhafte Geschichte des 20. Jahrhunderts hat zwar viele der Verbindungen zu seinen Wurzeln zerstört, aber Shahin macht Reis, wie es eben nur ein Perser kann. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er in der Nähe von Köln aufgewachsen ist. Persischer Reis wird gewaschen, angekocht, wieder gewaschen, dann der Reiskocher mit hauchdünnen Erdäpfelscheiben ausgelegt und der Reis fertig gekocht. Schließlich, wenn der luftig trockene Reis Korn für Korn auf dem Teller liegt, mit den knusprigen Erdäpfelscheiben bedeckt, wird alles andere zur Nebensache. Zum Reis von Shahin kann man sogar Hinkelsteine essen.
»Find ich super, dass du mal wieder vorbeischaust.«
»Ich störe doch nicht?«
»Nein, ich hab heut frei und wollte nur ein bisschen schreiben. Ich muss erst morgen wieder zu meinem verrückten Wirtschaftsprüfer.«
»Gut, weil ich dich was fragen muss. Die ›Hohlwelttheorie‹ ist doch so eine Nazi-Theorie, oder?«
Auf dem Gebiet Drittes Reich, Kriegsgeschichte und Verschwörungstheorien ist Shahin ein Ass. Die Wände seiner Wohnung sind durchgehend von überfüllten Bücherregalen bedeckt, Werke zu diesem Themenkomplex, die er nicht kennt, die gibt es nicht. Selbstredend ist er kein Antifaschist.
Shahin war gerade dabei, sich einen Joint zu drehen, was er immer mit Filter und einer Maschine erledigt, als das Wort ›Hohlwelttheorie‹ seine Aufmerksamkeit vollständig in Besitz nahm.
»Ja, ja, das ist ’ne verrückte Sache.« Er sprang auf und ging mit zwei langen Schritten durchs Zimmer. »Ich hab hier irgendwo’n paar Bücher zu dem Thema …«
»Bleib nur sitzen, so genau muss ich es nicht wissen. Nur überschlagsmäßig.«
Er setzte sich wieder an das kleine Tischchen, das maximal so groß wie seine Handinnenfläche war, obwohl Shahin die kleinen Hände eines Mogulprinzen besaß. Während er seine Maschine in Gang setzte, begann er zu sprechen.
»Die Theorie geht davon aus, dass wir an der Innenseite einer hohlen Kugel leben, daher der Name. Find ich super, das Ganze.« Er zündete den Joint an und inhalierte tief. Mit zusammengekniffenen Augen fuhr er fort. »Ob der Begründer Nazi war, weiß ich nicht, aber in gewissen Kreisen erregte die Theorie Aufsehen und Sympathie, als Alternative zur Relativitätstheorie, die ja jüdischen Ursprungs ist. Man kommt sogar ein Stück weit in der Welterklärung, bloß mit der Mondlandung war das dann alles passé.«
»War das Ganze eine offizielle Doktrin? Musste man das glauben?«
»Nein, nein. Hitler glaubte daran, doch es war kein Gebot. Nur weil er Vegetarier war, durften die anderen ja auch Fleisch essen. Neben Hitler war, soweit ich weiß, da nur mehr die SS dabei.«
»Die SS? Warum denn das?«
»Du musst das so sehen: Die waren total asozial, die Jungs. Das war eine antibürgerliche Revolution, aus diesem Grund, glaube ich.«
»Also, wenn jemand heute so ein Buch bei sich zu Hause hat, praktisch aufgeschlagen, dann …«
»Du kennst jemanden, der so ein Buch hat?«
»Du hast keines?« Ich war erstaunt.
»Nein. Die ganze Theorie war nie sonderlich populär, hat sich nicht wirklich gut verkauft. Man kann es vielleicht in einem Antiquariat auftreiben, aber da muss man Glück haben.«
»Also, du hast noch keinen Primärtext gelesen, nur aus zweiter Hand?«
»Genau. Aber du kennst wen, der ein Original hat?«
»Ja.«
»Wer? Würd ich gerne kennenlernen.«
»Vielleicht später, ist ein bisschen heikel. Ich kann davon ausgehen, dass derjenige einschlägige Kontakte hat?«
»Man kommt nicht automatisch unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, nur weil man so ein Buch kauft. Das nicht, aber es ist ein starker Hinweis, würde ich sagen.«
Ich bedankte mich und wollte das Gespräch schon in andere Bahnen lenken, als Shahin noch einmal darauf zu sprechen kam.
»Weißt du, was ich an der Theorie charmant finde?«
»Schieß los.«
»Dass sie auf eine gewisse Art die Mondlandung doch überlebt hat. Neben der etablierten Geschichte, die in den Lehrbüchern steht, schwirrt doch jede Menge verrücktes Zeug herum.«
»Du meinst, dass die Freimaurer die Welt beherrschen und Elvis in Mistelbach einen Altwarenladen betreibt?«
»Genau. Es gibt die Theorie, ein paar Bücher und Dokus, dass sich die Nazis, als der Krieg verloren war, ins Innere der Welt zurückgezogen haben.«
»Du meinst, dass Adolf nicht nach Argentinien, sondern ins Erdinnere abgehauen ist?«, nahm ich Bezug auf die kruden Theorien, dass der Führer den Zweiten Weltkrieg überlebt haben könnte. So ein Gespräch macht deutlich mehr Spaß, wenn beide dasselbe Spiel spielen.
»Nein, mit einer fliegenden Untertasse.«
Ich war erstaunt. »Wie will man mit einer fliegenden Untertasse ins Erdinnere gelangen?«
»Irgendwie musste er doch in die Antarktis kommen, wo in den 30er-Jahren deutsche Expeditionen den Eingang in das hohle Erdinnere gefunden hatten.«
»Du meinst, die Aliens haben Hitler und seine Kumpane abgeholt und in Sicherheit gebracht?«
»Nein, nein, die Nazis sind die Aliens.«
Nun verstand ich kein Wort mehr.
»Shahin, schön langsam und von vorne bitte. Das ist mir zu hoch.«
»Also, hör zu: Du weißt doch, dass die Deutschen den anderen wehrtechnisch weit voraus waren. Sie hatten nicht nur Panzer von Porsche und Uniformen von Hugo Boss, sondern auch die besten Flugzeuge, Raketenantrieb und solche Sachen.«
»Weiß ich, ja.«
»Also, das war eine verrückte Zeit damals, es herrschte eine ungeheure Aufbruchsstimmung, die Entscheidungsträger waren im Schnitt sehr jung. Man versuchte, in allem neue Wege einzuschlagen. Einer dieser Wege war der Nurflügler.«
»Noch nie gehört, was ist das?«
»Normale Flugzeuge bestehen aus Rumpf und Tragflächen, ein Nurflügler eben nur aus ›Flügeln‹.«
»So wie die amerikanischen Stealthbomber?«
»Genau. Was meinst du, woher die die Idee haben? Nur war die deutsche Variante wesentlich radikaler. Das Ganze soll enorme Vorteile besitzen, was Aerodynamik, Manövrierfähigkeit und so weiter betrifft, frag mich nicht, ich bin kein Ingenieur. Auf jeden Fall hat man das geplant und gebaut. Ich hab schon echte Baupläne gesehen.«
»Sind die Dinger auch geflogen?«
»Das kann man heute nicht mehr so genau sagen.«
»Also alles nur Humbug.«
»Es gibt sowohl alliierte als auch deutsche Augenzeugen, und nach dem Krieg sind in Hollywood die Ufos aufgetaucht, die haargenau so aussehen wie die deutschen Untertassen. In Holland soll so ein Haunebu ’45 ein Dutzend amerikanischer Panzer ausgeschaltet haben.«
»Haunebu, was soll denn das heißen?«
»Das war der Codename für die Nurflügler.«
»Das denk ich mir, und was heißt das?«
»Das weiß niemand. Die Deutschen haben unter strengster Geheimhaltung gebaut und getestet. Das Erste, was die Westalliierten gemacht haben, war, die Raketen- und Haunebu-Leute sicherzustellen. Ebenso die Archive. Man weiß nicht einmal, wer an diesen Projekten gearbeitet hat.«
»Okay, also Hitler soll mit so einem Ding getürmt sein.«
»Nein. Davon weiß ich nichts, da ist sogar noch die U-Boot-Geschichte glaubwürdiger. Weil die Haunebusache von der SS kam, nicht von der Partei und auch nicht von der Wehrmacht. Das war ein SS-Projekt, denen gings um eine neue Welt, die haben da ganz schön investiert. Hitler war dagegen, darum hat er zum Schluss ja auch die Thule-Gesellschaft verboten. Das war der harte Kern der SS, und noch ein paar andere. Die waren sogar Hitler zu asozial.«
»Das ist doch Blödsinn, mit den damaligen Motoren konnte man niemals in die Antarktis kommen. Geschweige denn, die nötigen Menschen für einen Neuanfang hinschaffen.«
»Die hatten auch ein anderes Antriebssystem. Unsere Motoren basieren alle auf der Explosion, das Resultat ist der gewöhnliche Verbrennungsmotor. Die Deutschen, mit dem Mangel an Brennstoff, forschten da auch in andere Richtungen, alternative Energiegewinnung sozusagen. Da gabs unter anderem einen verrückten Österreicher, den Namen hab ich vergessen, der arbeitete an der Implosion. Lach nicht, der Mann hatte eine ganz eigenartige Theorie über die Natur, aber die Sachen, die er gebaut hat, funktionieren.«
»Nur gibt es dafür leider keine Beweise, war zu geheim.«
»Nein, überhaupt nicht, der machte im Zivilleben Strömungsanlagen und Turbinen, die bis heute funktionieren.«
Beim Wort Turbinen klingelte etwas bei mir, doch ich kam nicht darauf, was. Leider vergaß ich es sofort wieder, als Shahin weiterredete.
»Der Mann wurde sofort nach dem Krieg von der CIA geschnappt und nach Nevada geschickt.«
»In die Area 51. Wo die abgestürzten Ufos gelagert werden.«
»Genau.« Shahin überhörte meinen Sarkasmus geflissentlich. »Die Amis waren so versessen auf den Mann, sie wollten ihn nicht mehr gehen lassen. Irgendwann in den Fünfzigern aber gelang es ihm, doch zurückgeschickt zu werden. Und jetzt rate.«
»Er ist dann sofort verstorben.«
»Genau. Vier Tage nach seiner Ankunft. Die Projekte wurden ohne ihn für immer auf Eis gelegt.«
»Also, zusammengefasst, die Thule-Gesellschaft ist in die Antarktis ausgewandert und wohnt jetzt im Erdinneren.
Sollten wir fast mal hinfahren und ihnen einen Besuch abstatten.«
»Vielleicht. Ich weiß nicht, ob sie heute noch dort sind. Auf jeden Fall schickten die Amis kurz nach dem Krieg, ’48 oder so, eine Expedition los, 4.000 Soldaten unter dem Befehl eines kampferprobten Generals. Es kamen nur ein paar Hundert zurück, die sofort kaserniert wurden, weil sie von Untertassen und einer ungeheuren Bedrohung sprachen. Damals begannen auch die Geschichten von den ersten Ufo-Sichtungen.«
»Warum haben die Amis die Nazis in der Antarktis nicht einfach ausgeräuchert?«
»Da war dann der Koreakrieg, der Kalte Krieg ging los und die Theorie sagt, dass die SS in der Antarktis nur ein Zwischenlager hatte.«
»Und wo sind sie jetzt?«
»Man vermutet, auf dem Mars.«
Das war starker Tobak.
»Sag, Shahin, glaubst du den ganzen Unfug?«
»Nein, aber ich finde ihn charmant.«