Eine halbe Stunde später sah mich der Sommernachmittag die Steinbruchgasse hinuntergehen. Die Kleingartensiedlung ging in Einfamilienhäuser über, diese ihrerseits in Wohnblocks. Ein paar rotgraue Ungetüme aus den Siebzigern standen herum, umgeben von Grünflächen, wo die Hausfrauen die Wäsche zum Trocknen hinausgehängt hatten. Ich suchte die Adresse, die mir Neumann gegeben hatte, und stand schließlich vor einer Haustüre. Bei Hausser läutete ich, einmal, zweimal, doch es rührte sich nichts. Als ich meinen Finger zum dritten Mal auf die Klingel legen wollte, sprach mich jemand an. Eine klein gewachsene, dunkelhaarige Frau stand vor mir, einen Wäschekorb in der Hand. Eine zierliche Person, wie ein Porzellanpüppchen, in ausgewaschenen Jeans.
»Zu wem wolln Sie denn?«
»Hausser, Walter.«
Sie verzog das Gesicht, als hätte sie was Übles gerochen. Dabei rümpfte sie das Stupsnäschen wie ein Katzenbaby.
»Zu dem? Sind Sie von der Hausverwaltung?«
Ich verneinte.
»Das ist Riesengfrett mit dem. Rast mit Rollstuhl herum, so dass die Leit vom Gehsteig springen müssen. Einmal hat er sogar Kind angefahren. Stelln sich Ihna vor! Seitdem hat er Hupe am Gefährt, wie ein LKW. Macht Höllenlärm. Wenn bsoffen ist, uriniert Hausser einfach in Öffentlichkeit. Außerdem pöbelt die Leit an. Wir haben an Hausverwaltung geschrieben, wollen wir ihn loswerden, aber rührt sich nix. Seins so gut, machen Tür auf, ja?«
Ich nahm den Schlüssel aus dem Wäschekorb und öffnete die Tür. Anschließend nahm ich ihr den Wäschekorb ab.
»Kommen Sie mit, in meine Küche. Wird sicher bald regnen draußen.« Sie lächelte mich an. »Mach ich Ihnen die Kaffee. Tratschen wir ein bisserl, wenn Hausser heimkommt, hört man eh. Weil spielt dann immer ganz laut Musik. Furchtbarer Lärm. Wohnt leider neben mir. Meine Mann sagt: ›Ich bring ihn um, den Oarsch.‹ Sag ich: ›Super, willst du Messer?‹ Aber macht er einfach nicht.« Sie lächelte mich kopfschüttelnd an, als wollte sie sagen, dass mit den Männern heute auch nichts mehr los sei.
In ihrer Wohnung im Erdgeschoss stellte sie den Wäschekorb auf eine Bank, putzte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und bot mir einen Platz am Küchentisch an. Alles war sauber und ordentlich, die Abstellflächen glänzten und es roch gut. Ein leichter Hauch von Putzmitteln, vermischt mit einer Ahnung klaren Essensduftes. Die Art von Duft, die nur entsteht, wenn jemand wirklich gut und leidenschaftlich kocht.
»Starke Kaffee oder schwache?«
»Stark.«
»Gut. Viel Kaffee ist nix gut in Österreich.« Nach dieser ernsthaften Feststellung ging sie zum Herd, an dem ein paar langstielige Kupferkännchen hingen. Sie brachte Wasser zum Kochen und bereitete in einer umständlichen Prozedur zwei Tassen türkischen Kaffee zu. Siedend heiß, tiefschwarz und mit einem feinen, rot-schwarz glänzenden Schaum bedeckt. Schließlich deckte sie einen mit einem Tuch bedeckten Gugelhupf ab und schnitt zwei dünne Scheiben herunter.
»Gugelhupf machen hab ich hier gelernt. Meine Kinder sind ganz verrückt danach.«
Kaffee und Mehlspeise wurden vor mich hingestellt. Ich nippte am Kaffee und brach ein Stückchen Kuchen ab. Beides war ausgezeichnet.
»Schmeckt’s?«
»Super.«
»Müssen sich Ihna vorstellen, Hausser hat Gewehr. So mit Luftdruck. Manchmal schießt er am Morgen auf die Vögel. Weil, sagt er, singen die so laut!«
Sie hatte sich neben mich gesetzt, viel näher, als mir lieb war, und nippte ihrerseits am Kaffee. Als sie die Tasse zurückstellte, blickte sie mich von unten herauf an. Mit großen Augen.
»Und Sie?«
Mir war ein wenig unwohl zumute. Was würde wohl ihr Mann dazu sagen, wenn er nun heimkommen würde? Es war schätzungsweise ein paar Minuten nach fünf. Um die Zeit kommen Männer von der Arbeit heim. Gefrustet von einem langen Tag. Sie schien meine Gedanken lesen zu können.
»Meine Mann ist auf Montage, irgendwo in Salzburg. Kommt ganze Sommer nicht heim. So wenig Arbeit überall.«
Wieder blickte sie mich an. Von unten herauf, mit den großen Augen. Die Frau war höchstens einsfünfzig groß, wog sicher nicht mehr als 40 Kilo. Zur Not hätte ich sie mit einem Arm aufheben können. Eigentlich hätte sie sich vor mir fürchten müssen, doch meine Hände waren feucht und die weichen Knie unter dem Tisch gehörten zweifellos auch mir. Ich kam mir vor wie ein Riesenkaninchen, das einer winzig kleinen Schlange gegenübersitzt. Ein Kaninchen, das weiß, dass es niemals in den Bauch der kleinen Schlange passen wird. Aber es sieht auch den gewaltigen Hunger in den Augen der kleinen Schlange, einen Hunger, den eine ganze Welt nicht zu stillen vermag.
In dem Moment war draußen auf dem Gang eine Hupe zu hören und eine bösartige, keifende Stimme, die schrie: »Ihr kleinen Rotzpippen, wenn es schlafts, kumm I und nah eich die Augen zua!« Dann das Getrappel von kleinen Füßen und das Surren eines Elektrorollstuhls, der an der Wohnungstür vorbeifuhr. Eine Faust donnerte gegen die Türe, sodass es sie fast aus den Angeln gehoben hätte. Meine Gastgeberin zuckte zusammen.
»Das macht er immer, diese schreckliche alte Mann.«
Es schien fast, als würde sie zu weinen beginnen. Das riss mich aus der Hypnose, ich sprang auf, verabschiedete mich und war schon bei der Tür. Eigentlich schade um den Kaffee und den Gugelhupf. Es müssen Opfer gebracht werden, wenn man überleben will. Als ich die Wohnung verließ, sah ich noch, wie sich auf der anderen Gangseite die Türe hinter Hausser schloss. Mit einem Rumms, so als wollte er sagen: Sehet denn, nun bin ich zu Hause.
Ich ging hinüber und horchte. Musik drang laut durch die papierdünne Türe. Ich klopfte. Der Rollstuhl surrte und die Türe wurde aufgerissen. Aus zusammengekniffenen Augen starrte mich ein alter Mann an, der trotz der Julihitze eine dicke Wolldecke mit Karomuster über die Knie gelegt hatte. Er schien ein paar Jahre älter zu sein als Neumann und Buehlin, aber das konnte auch daran liegen, dass ihn das Leben im Rollstuhl vorzeitig hatte altern lassen. Verbitterung und Hass hatten tiefe Linien in sein hartes Gesicht gegraben. Von den strichdünnen Lippen hing ihm ein Speichelfaden aufs unrasierte Greisenkinn. Die laute Musik schlug mir ins Gesicht.
»Haben Sie ein wenig Zeit?«
»I bin a Krüppel. Zeit is alles, was ich hab. Aber net fir di!«
Er wollte die Türe ins Schloss werfen, doch ich hatte meinen Fuß in den Spalt gezwängt. Gott sei Dank war die Tür leicht und mein Schuhwerk fest. Ein gebrochener Mittelfußknochen ist kein Spaß, der kann auch nie mehr gut werden. Durch die halb offene Tür röhrte ein schmutziges Trompetensolo über einem swingenden Barpiano. Durch den Lärm brüllte mir Hausser mit seinem keifenden Organ entgegen: »I kumm ausse, Burli, wo i scho hingschissen hab, muast du erst amol hinschmecken!«
Er drückte mit aller Gewalt gegen die Tür, sein Rollstuhl surrte wie ein Nest erbitterter Hornissen. Doch ich hielt dagegen. Zentimeter für Zentimeter rang ich ihm ab. Die ganze Zeit über hatte ich das Trompetensolo im Ohr, in den hohen Lagen rein und klar, unten jedoch voller Schmutz und Lust. Ganz böser Blues, das musste Bessie sein.
»Kommen Sie, Hausser, nur ein paar Minuten. Hören wir ein bisschen der Kaiserin zu und reden. Ja?«
»Du kennst Bessie?«
»Sicher. Das ist doch ›Gimme a pigfoot and a bottle of beer‹.«
»Na, Burli, wenn’st die Smith kennst, kannst eina kumman. Bist eh stärker wia i.«
Die Tür öffnete sich. Mir rann der Schweiß in Strömen über das Gesicht, und mein Hemd klebte am Rücken. Ich schnaufte durch, der alte Mann und sein Rollstuhl hatten mir ordentlich zugesetzt. Wenn irgend möglich, war es in der Wohnung noch heißer als auf dem Gang. Die Luft, zum Schneiden dick, stand förmlich im Raum und umhüllte mich wie ein Mantel aus heißem Blei. Der Letzte, der gelüftet hatte, war vermutlich noch Augenzeuge der Sintflut gewesen.
Ich folgte Hausser in seine Wohnküche. Aus den billigen Boxen, die an einen portablen CD-Player angeschlossen waren, dröhnte die letzte Überleitung. Bessie Smith kam gerade zum Ende des Songs. Wie viele der alten Bluesstücke hatte auch dieses eine abschließende ›Confession‹, die an die sakralen Ursprünge dieser Musik erinnerte: ›Gimme a reefer and a gang of gin, play me, cause I’m in my sin, blame me, cause I’m full of gin.‹
Hausser war an den Esstisch gefahren, dessen Tischtuch zahlreiche Brandlöcher aufwies, und schenkte sich ein Gläschen Schnaps aus einer unetikettierten Flasche ein. Nachdem er den Schnaps geschluckt hatte, atmete er geräuschvoll in einem lang gezogenen »Ahhhhh« aus.
»Würd dir a was anbieten, Burli, aber der Trester is nix fir Kinda.«
Ich war froh, nicht ablehnen zu müssen, denn einerseits wollte ich einem Typen wie Hausser gegenüber nicht unhöflich sein, andererseits auch um keinen Preis den Schnaps schlucken müssen. Als er die Flasche entkorkt hatte, war ihr ein penetranter lösungsmittelartiger Geruch entströmt, der mir die Nackenhaare aufgestellt hatte.
»Wie bist denn überhaupt einakumman? Hab di gar net läuten ghert.«
»Ich war schon im Haus, als Sie gekommen sind.«
»Ahh«, er lächelte unsympathisch, »du warst bei der Klanen von gegenüber. Wenn’st zu der sagst: ›Nimm Platz‹, liegt’s scho am Rucken und hot d’Fiaß am Plafond. Schieb die Pornoheftln auf’d Seiten und setz di nieder.«
Ich tat, wie mir geheißen und entdeckte dabei, dass Hausser einen vielseitigen Geschmack besaß. Alles war vertreten, Schwangere, Fette, Dünne, alle Hautfarben und Altersgruppen, Hauptsache weiblich und nackt.
Bessie war unterdessen in den ›Weeping Willow Blues‹ eingestiegen. Der Song fließt langsam und träge, wie ein Südstaatenfluss. Die kommt ohne Schlagzeug aus und in Bessies Gesang sind all die Freuden und Ängste einer sterblichen Seele verankert, so wie sich die Landschaft, durch die ein Fluss fließt, in seiner Oberfläche spiegelt.
»Also, Burli, warum bist du bei mir?«
»Woher kennen Sie Korkarian?«
»Warum kennt ein armer Krüppel einen Kredithai?«
»Haben Sie ihm auch Ihre Seele verkauft?«
Hausser starrte mich an.
»Bist narrisch? Mit solchen Sachen macht ma kan Spaß. Die Seele ist alles, was du bist, und das Einzige, das wirklich nur dir selbst gehört. Eine große Sache. Damit handelt man nicht.« Hausser sagte das mit einer einfachen Bestimmtheit, die mich sprachlos werden ließ. Er war nun ganz ernst und hatte die Umgangssprache abgelegt wie eine Maske.
»Aber du hast ›auch‹ gesagt, wer hat denn seine Seele verkauft?«
»Buehlin.«
»Woher hat denn der davon gewusst?«
»Neumann hat’s ihm gesagt.«
»Alle bösen und gedankenlosen Taten deines Lebens kommen am Ende zu dir selbst zurück.«
Sprachs und versank in Schweigen. Wir saßen still am Tisch, der Blues röhrte dunkel und bedrohlich aus den Plastikboxen, während draußen die Sonne schien und Kinder über die Grünflächen jagten. Das schien eine Million Meilen weg zu sein.
»Ich war damals auf der Suche nach einem Kredit, die Banken wollten mir keinen geben, da bin ich auf Korkarian gestoßen und ich fand die Bedingungen so amüsant. Achtlos hab ich das allen Bekannten erzählt, weil ich es für einen guten Witz hielt. Achtlos war ich.« Er machte eine kleine Pause. »Weißt du, was Naglfar ist?«, fuhr er fort.
»Ja, aus der germanischen Mythologie. Das Schiff, das die Riesen bauen, um zum Ragnarök, dem Weltuntergang, nach Asgard zu gelangen.«
»Und du weißt auch, aus was sie es bauen?«
»Aus Haar, Finger- und Zehennägeln …«
»… die achtlose Verwandte den Toten nicht abgeschnitten haben«, vollendete Hausser den Satz. »Ich halte das für ein sehr schönes Bild, alles geht in die Brüche, weil wir achtlos sind. Achtlos und gedankenlos.«
Hausser ließ die Worte nachwirken. Als ich ihn betrachtete, fiel mir auf, dass der verbitterte, hasserfüllte Mann verschwunden war. Vor mir saß ein Mensch, den das Leben nicht nur körperlich zum Krüppel geschlagen hatte.
»Ich glaube, es war Malebranche«, fuhr Hausser fort, »der meinte, dass nur Narren nicht an Gott glauben, denn wenn es ihn nicht gibt, gewinnt man nichts, …«
»… sollte es Gott geben, verliert man alles. Die Überlegung kenne ich. Aber Nietzsche sagte, dass es keine Götter geben kann, denn wie sollte er es aushalten, keiner von ihnen zu sein. Außerdem glaube ich, dass Gott ein aufrechter und ehrlicher Atheist lieber ist als jemand, der aus Berechnung glaubt.«
Hausser lächelte melancholisch.
»Du weißt auch, was Homer in der Ilias zu diesem Thema zu sagen hatte?«
»θεὸς δὲ τὸ μὲν δώσει, τὸ δ’ ἐάσει, ὅττι κεν ᾧ θυμῷ ἐθέλῃ· δύναται γὰρ ἅπαντα«, protzte ich mit meinem Griechisch.
»Gott gibt uns dieses, und jenes versagt er, wie es seinem Herzen gefällt, denn er herrschet mit Allmacht«, übersetzte Hausser nickend. »Respekt, Burli, das weiß nicht jeder.«
»Es weiß anscheinend auch nicht jeder, dass das Zitat aus der Odyssee stammt«, merkte ich kleinlich an.
»Das ist doch egal.«
»Nein, weil es Eumaios ist, der Schweinehirt, der das zu Odysseus sagt.«
»Willst du damit sagen, dass ich ein Schweinehirt bin?«, fragte Hausser nicht unfreundlich.
»Nein, aber dass das glückliche Zeiten waren, in denen Schweinehirten so viel Weisheit besaßen.«
»Da ist was dran. Heute sitzen die Schweinehirten in der Regierung, doch man kann nichts von dem zitieren, was sie sagen.«
»Ja, der letzte zitierfähige Politiker war Vranitzky, der hoffte, dass die Mafia nicht beleidigt ist, wenn sie mit unseren Parteien verglichen wird.«
»Danach Schweigen.«
Das machten wir dann auch und hörten wieder ein bisschen der »Empress of Blues« zu. Bessie starb nach einem Autounfall, als das nächstgelegene Krankenhaus sie nicht aufnehmen wollte, da sie eine Schwarze war. Doch auch sieben Jahrzehnte nach ihrem Tod drangen ihre Stimme und ihre Emotion klar durch den Vorhang der Zeit und das Rauschen der Platten.
»Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes einreden«, nahm ich das Gespräch wieder auf, »dass Sie glauben, dass man seine Seele durch die Unterschrift auf einem Blatt Papier verkaufen kann?«
»Burli, i glaub an gar nix mehr, außer an Schnaps und Pornoheftln.«
Der gebildete Mann mit der sanften Intonation war wieder verschwunden, geblieben war der Hausser, der die Worte aussprach, als wolle er sie blutig schlagen. Mehr war dann auch an diesem Tag nicht aus ihm rauszuholen. Als ich die Tür hinter mir schloss, verabschiedete Bessie mich mit den Worten: »I’ve got the devil in my soul and I’m full of bad, bad booze.«