III

Tee hilft immer. Es waren noch zwei oder drei Tassen Tee in meiner Kanne, und ich beschloss, alles zu trinken, während ich versuchte, vor mir selbst Klarheit zu gewinnen. Ich stöpselte den iPod ein und hörte ein bisschen Musik. Musik, die ich gut kannte und bei der meine Seele baumeln konnte. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es wichtig ist, zuerst einmal das Adrenalin abzubauen, an nichts zu denken. Sobald das geschehen ist, kommen die guten Ideen von selbst. Wie immer waren es die Stones, die mir dabei halfen. Keith zupfte sanft, Mick stieg ein, und als er die erste Zeile beendet hatte, verspielte sich Keith beim Akkordwechsel von A auf G. Der alte Herr entschuldigte sich und begann von neuem. »Love in vain« ist so ein Song, der Klarheit herstellt. Natürlich erreicht er die bodenlosen Abgründe der Emotionalität nicht, die Robert Johnson ihm gibt, aber für ein paar weiße Jungs gar nicht schlecht. Slide-Gitarre und Harmonika dominieren den Mittelteil bis zum Schluss hin, bei dem ich in Gedanken immer am Ol’ Man River sitze, einen Strohhalm im Mund und die nackten Füße in den braunen Fluten. Irgendwo hinten fährt ein Zug in eine Station ein, ich schultere meinen Sack, renne los und fahre mit. Als Mick dann mit den Worten »all my love’s in vain« schloss, war ich so weit, dass ich handeln konnte.

Zuerst einmal musste ich das Notizbuch der Schauberger finden. Das hatten wahrscheinlich ihre Mörder, oder ihr Mörder, wenn es nur einer gewesen sein sollte. So gut, so schwer. Dazu musste ich noch schneller sein, als die Polizei es mir erlauben würde, da ich ja Erichs Interessen zu wahren hatte. Irgendwie gefiel mir dabei auch die Idee, für Erich, den Kardinal, den Papst selbst mittelbar im Interesse Gottes und seiner allein selig machenden Kirche zu arbeiten. Ich war also im wahrsten Sinne des Wortes ein Dominikaner, ein Spürhund Gottes. Arno Linder, im Auftrag der höchsten Autorität, die sich denken lässt. Wen scherte es da, wenn ich ein paar Gesetze brach?

Dass ich in meiner Blödigkeit die Exekutive selbst auf meine Spur gesetzt hatte, war nun nicht mehr zu ändern. Sehr ärgerlich, denn die beiden würden sicher herumfragen, und es konnte nicht lange dauern, bis es dann doch eine Akte gäbe. Danach wäre es mit meiner Ruhe vorbei, denn die Polizei kann enorm hartnäckig sein. Hybris hin, Stolz her, gut war zu wissen, dass Schauberger mich nicht aus den Polizeiakten kannte, sondern aus anderer Quelle geschöpft hatte. Von woher, blieb zwar eine Frage, doch ohne Frage keine Antwort.

Ich spülte schnell die Kanne aus, packte meine Siebensachen in die Ledertasche und sperrte ab. Um einen Besuch bei Glanicic-Werffel kam ich nicht herum. Warten würde sie nur böser machen. Ich klopfte an und trat ein. Das Büro ist groß, liegt auf die Universitätsstraße hinaus, so dass man über den Roosevelt-Platz hinüber die neugotische Fassade der Votivkirche sieht. Das Parkett ist hell, die Blumen leben und die Bücher, in Stellagen und auf dem Schreibtisch, wirken gelesen. Eine nette Atmosphäre von Wissenschaft und Ästhetik herrscht uneingeschränkt vor. An den Wänden hängen ein paar moderne Bilder, nicht zu modern, aber doch aufregend.

Als mein Lehrer noch auf ihrem Platz saß, türmten sich die Folianten deckenhoch, Notizen, Prüfungszettel und Exzerpte lagen umher, die meisten als Fidibusse verwendet und deswegen angesengt. Durch den Tabaknebel im Zimmer hätte man auch dann nichts von der Aussicht gehabt, wenn die Bücher nicht die Fenster verstellt hätten. Alles war bedeckt von einer millimeterdicken Schicht aus Asche und Teer. An der Decke, über seinem Platz, war ein gelber Nikotinfleck zu sehen gewesen. Den hatte Glanicic-Werffel als Erstes übermalen lassen. Sic transit gloria mundi.

Meine Chefin saß hinter ihrem Schreibtisch und blätterte in ein paar Büchern herum. Als ich eintrat, hob sie den Kopf. Mit einem Nicken ihres Hauptes zwang sie mich in den Stuhl.

»Ich bin hergekommen, weil ich ein paar Bücher aus der Bibliothek entlehnen will. Das Erste, was ich höre, ist, dass im Institut spätnachts das Licht noch gebrannt hat.« Ich wollte antworten, aber sie unterbrach mich. »Nein, nein, ich will nichts hören, Linder. Das Nächste ist, dass Sie morgens um halb neun schon wieder da sind«, dabei zog sie eine ihrer makellos gezupften Augenbrauen indigniert hoch, »und außerdem schon wieder von der Polizei verhört werden.« Beiden ›wieder‹ im Satz gab sie alle Betonung, die sie gerade noch vertragen konnten. Dann ließ sie ihren Blick über meinen Aufzug schweifen.

»Ihre Aufmachung ist das Letzte. Sie sehen aus wie ein Obdachloser, sind unrasiert und stinken vermutlich.« Damit tat sie mir unrecht. Das Hemd war nur ganz leicht verknittert, das Sakko sauber und außerdem war ich frisch gewaschen. Gut, rasiert war ich nicht, da hatte sie recht. Eine Dame ihres Kalibers stellt Ansprüche, die nicht leicht zu erfüllen sind. Vermutlich ist jedes Sakko von der Stange für sie zerknittert, einfach weil es nicht maßgeschneidert ist.

»Raus mit Ihnen, Linder, sonst treffe ich im Zorn noch eine Entscheidung, die uns beiden noch leidtun wird. Vor allem aber Ihnen.« Wieder nickte sie, und ich fand mich draußen vor der Türe wieder.

Irgendetwas stimmte da nicht. Normalerweise ließ sie keine Gelegenheit aus, um auf mir rumzuhacken, zerpflückte genüsslich meine Ausreden und stellte mir die Rute ins Fenster. Außerdem hatte sie ihre Anwesenheit gerechtfertigt, vor mir, dem Externen Lektor. Und warum wollte sie am Institut ausleihen, die Familienbibliothek umfasste laut Fama ein halbes Stockwerk des Stadtpalais und war Generationen alt. Außerdem hatte sie einen schwerreichen Industriellen zum Mann, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Was machte sie in aller Herrgottsfrüh in ihrem Büro? Irgendetwas stimmte da nicht. Ganz und gar nicht.

Aber ›first things first‹, wie der Angeber sagt, und so machte ich mich auf in die Rosentalgasse, irgendwo hinter der Baumgartner Höhe, weit im Westen Wiens. Nach einer gefühlten Ewigkeit, es ging nun schon auf den Mittag zu, stieg ich aus dem 48A. Die Sonne brannte unerbittlich und unter mir dampfte die große Stadt. Neben der Bushaltestelle, im Schatten unter ein paar alten Bäumen, steht eine Wirtschaft, deren Rückwand die Mauer bildet, die das Sanatorium umschließt. Trinker und Lungenkranke werden dort geheilt. Im Sanatorium, nicht im Gasthaus. Obwohl dort auch ein paar von beiden saßen, um in Anstaltskitteln kühles Bier und scharfe Schnäpse zu schlürfen. Wahrscheinlich war der eine oder andere Arzt auch dabei. Doch so genau sah ich nicht hin.

Ich folgte der Straße, die an der Mauer entlangführt, nach Westen. Zur Linken unter mir die Stadt, zu meiner Rechten Bäume und Mauer. Es roch nach Staub und Sommer, ein paar Vögel piepsten, und das Gras an der Mauer war lang und grün. Ab und zu kam ein schnaufender Fahrradfahrer oder eine schwitzende Läuferin vorbei, deren Windhauch ganz angenehm kühlte. Immer weiter ging ich an der Mauer entlang, einen steilen Hügel hinauf, in ein kleines, schattiges Waldstück voller junger Eichen. Die Ziegelsteine der Mauer waren von Moos überwachsen, der Boden neben der Straße weich und feucht. Schließlich ging es den Hügel wieder hinunter in ein kleines Tal. Neben einer schmalen Straße standen ein paar Einfamilienhäuser, alte wie neue, ringsum Bäume und Grün. Im Hintergrund stiegen die Hügel des Wienerwaldes auf.

Ich ging die schmale Wohnstraße entlang, ein schwarzes Teerband, viel geflickt, kaum breiter als ein Auto. Kinderlachen ertönte, als plötzlich vier kleine, halb nackte Indianer aus einer Hecke herausschossen, mit Wasserpistolen bewaffnet und kriegsbemalt. Offensichtlich hatte einer der kleinen Halunken Wasserfarben zu Hause. Einen Hund, riesig,
grau und mit Adlerfeder geschmückt, hatten sie auch dabei. Ich grübelte gerade darüber, ob man heute ›amerikanische Ureinwohner spielen‹ sagen müsste oder nicht, als die
vier und der Hund mich schon umringt hatten.

»Wir mögen keine Fremden in unserer Stadt, Fremder!«, sagte ein blonder Bub, vielleicht acht Jahre alt, der zu viele Spaghettiwestern gesehen hatte. Mir blieb gar nichts zu sagen übrig, denn sie ließen sofort ihre Colts sprechen. Das Wasser war kalt und angenehm. Heulend verschwanden sie durch die nächste Hecke. Der Hund hinterdrein. Ich nahm meine Ledertasche, die ich abgestellt hatte, wieder auf und suchte das Haus von Schauberger. Dabei wischte ich mir das Wasser aus den Augen. Auf den Postkästen, die an den Gartenzäunen an der Straße standen, waren überall Namensschilder angebracht, und das Dutzend Häuser hätte ich bald durch. Doch schon beim dritten Haus von links konnte ich aufhören zu suchen. Das Postkastl hatte zwar kein Namensschild, dafür der schwarze Wagen, der in der Einfahrt parkte, einen Hirsch auf dem Kühler. So viele 73er Wolgas fahren nicht in Wien herum.

Das Haus stammte aus den frühen Sechzigern, mit hölzernem Obergeschoss und Granitdach. Es war ein bisschen verwahrlost und sah ein wenig nach Hexenhäuschen aus. Was sicher daran lag, dass es halb von Büschen und Bäumen verdeckt wurde und das blühende Gras kniehoch wuchs. Ein paar schöne Falter tanzten im Sonnenlicht ihren Reigen zu den unbestimmten Klängen von Musik, die von der Hinterseite kam.

Die Klingel an der Gartentür funktionierte nicht, und so öffnete ich einfach und trat ein. Ich folgte den Steinplatten des Gehwegs zur Tür, doch auf mein Klingeln hin öffnete auch keiner. Ich ließ es mich nicht verdrießen und ging zuerst nach links zur Garage. Dort stand der Wolga davor und drinnen, das Garagentor war offen, irgendein Muscle-Car. Ebenfalls aus den Siebzigern. In der Garage war niemand, dafür jede Menge Werkzeug. Sogar einen Servicegraben konnte ich unter dem Wagen ausmachen, nachdem ich ein paar Schritte auf die Garage zu getan hatte. Bei dem Muscle-Car handelte es sich übrigens um einen Ford Mustang.

Danach ging ich zurück zur Eingangstüre, an ihr vorbei und zwischen Büschen nach hinten. Von dort kam auch die Musik. Fließende Akustikgitarren, Hammondorgel und ein sanftes Schlagzeug drangen zu mir. Schwermütiger Sound mit tiefem Südstaatenfeeling. Als ich durch die Büsche trat, begann der Gesang, gut abgemischt, nicht zu aufdringlich, schön intoniert. Der Refrain lautete: ›My angels, my devils, thorn in my pride‹, schön schwingend mit gutem Groove.

Auf einer Holzbank neben der Kellertür saß ein junger Mann im Schatten der alten Obstbäume. Er hatte schwarzes, halblanges Haar, eine kleine Bierflasche in der Hand und rauchte eine Zigarette. Sein ärmelloses Leibchen zeigte Ölflecken ebenso wie muskulöse Arme. Die Jeans waren blau und seine nackten Füße spürten das Gras zwischen den Zehen. Er bemerkte mich erst, als ich ihn ansprach, wandte dann den Kopf sehr langsam zu mir herüber, wobei ihm sein Haar ins Gesicht schwang, und nahm einen Zug.

»Polizei?« Er blies aus. »Sonst verschwind’ einfach.« Er wandte wieder den Kopf und blickte zum Ende des Grundstückes, dorthin, wo der Wald begann. Hier im Schatten roch die kühle Luft nach Feuchtigkeit, Moder und Obst.

»Kann ich mich nicht dazusetzen und wir reden einfach ein bisschen?«

Seine Antwort bestand aus einem Blick. Ich war froh, dass Glanicic-Werffel den nicht draufhatte, er war zu unangenehm, um ihm jeden Tag ausgesetzt zu sein.

»Wir können auch schweigen.«

»Mir können di a ins Krankenhaus bringen. Wannst wüst.« Er runzelte die Brauen und dämpfte die Zigarette in einem Marmeladenglas aus, das halb voll mit Asche, Streichhölzern und Stummeln war.

»Ich hab Marianne gekannt.«

»Na und. Aber ich dich nicht. Reiß o’.« Er war nun knapp davor aufzustehen, um auf mich loszugehen. Schlägerei wollte ich keine.

»Marianne hat mir sehr geholfen. Ich kann nicht so einfach gehen.« Er stellte die Bierflasche ab und stand auf.

»Wer hat gsagt, dass es einfach wird? Und gehn kannst nachher sicher nimma.«

All seine Wut auf Gott, die Welt und sonst was war nun auf mich fokussiert. Er hatte den Kopf gesenkt, kam direkt auf mich zu. An einem Finger seiner linken Faust trug er einen Ring. Irgendeine Art silberner Totenschädel. So was kann einem die Hirnschale knacken. Ich ließ die Tasche fallen und ging auf ihn zu. Fred hatte immer gesagt, aus der Distanz oder in die Distanz gehen. Das sind die beiden Möglichkeiten, die man hat. Und austeilen oder einstecken. Heute war ich in Nehmerlaune.

Zuerst mit rechts einen kurzen Haken in den Bauch. Dann einen mit links. Alles, was es bei mir an Muskeln gab, hatte ich angespannt. Höllisch weh tat es trotzdem. Übel wurde mir auch. Ich hatte meine Arme um ihn geschlungen, blickte ihm tief in die Augen und drückte zu, hielt ihn fest. Er schlug mich noch zwei-, dreimal in die Rippen. Aus der kurzen Distanz muss man das schon richtig gut können, um einem wehzutun. Er konnte es nicht, aber auch so würde ich morgen ein paar blaue Flecken haben. Die ganze Zeit starrte ich ihm in die Augen, bis er mich wahrnahm. Dann ließen auch die Schläge nach. Danach heulte er.

Als die Sache vorbei war, saßen wir beide auf der Bank, ich ein bisschen ramponiert, und hatten ein Bier in der Hand. Die Musik spielte immer noch, sie kam von drinnen, aus einem offenen Fenster hinter uns. Der Song nun war ein bisschen rockiger, stampfender, hatte fast was von den Stones. Textlich drehte es sich um ein ›Hotel Illness‹, auch das schien gut zu passen.

Er saß neben mir auf der Bank, hatte sich mit einem Streichholz eine neue Zigarette angeraucht und saß so da wie zuvor. Ich hatte Zeit. Nach einer kleinen Ewigkeit, zumindest schien es mir so, können auch nur fünf Minuten gewesen sein, brach er sein Schweigen.

»Du hast sie kennt?«

»Sag ich doch.«

»Was willst du?«

»Sie hat mir sehr geholfen, das kann ich nicht einfach auf sich beruhen lassen.«

»Wie?«

Ich erzählte ihm, wie die Schauberger beim Italiener das Notizbuch hatte liegen lassen, so dass ich Buehlin finden konnte. Er lächelte sparsam, doch effektiv. Mit so einem Lächeln muss man vorsichtig umgehen. Das kann Herzen brechen.

»So war Ria. Immer so, dass man sich bei ihr nicht bedanken konnte.« Er trank sein kleines Ottakringer aus und hielt die Flasche hoch.

»Noch eins?« Ich nickte. Er griff hinunter, in die kleine Stiege, die zum Keller hinabführte, und hatte zwei weitere nass-kühle Flaschen herausgeholt. Seine leere Flasche warf er einfach über den Heckenzaun hinüber zu den Nachbarn.

»Ham di die klan Gfraster nassgmacht?«

Ich nickte.

»Ma muss froh sein, dass sie heutzutage überhaupt noch so was spielen. Net nur Handy und Computer.«

Wieder nickte ich.

»Hätt i in dem Alter a gmacht.«

»Ich auch. Aber ich hätte zwischen die Beine gezielt, nicht auf den Kopf.«

Wir grinsten beide.

»Und was willst? Die Marianne ist tot.«

Er wandte sich zu mir um. Erst jetzt bemerkte ich, dass sein graues T-Shirt das ’Stainless Banner’ klein über dem Herzen zeigte. Normalerweise wirkt so etwas immer ein wenig lächerlich, wenn man nicht gerade aus dem ›Cotton Belt‹ kommt, aber bei ihm nicht. Es braucht einen ganz speziellen Typen, der, während er um seine schwarze Freundin trauert, die Fahne der Konföderation trägt. Er hatte meinen Blick bemerkt.

»Meine Eltern waren lange drüben. Ich auch. Ria hat das nie gestört.«

Er zündete sich eine neue Zigarette an.

»Also, was willst?«

»Wissen, warum das passiert ist.«

»Des is net passiert. Des hat aner draht.«

»Und wer?«

Achselzucken.

»Is doch wurscht. Tot ist tot.«

»Ich tu mir leichter, wenn ich weiß, wieso.«

Dann holte ich tief Luft und tauchte in den Abgrund hinunter. Einmal kann man das, wie Schiller zeigt, beim zweiten Mal kommt man nicht mehr aus dem Schlund zurück.

»Es hat einen guten Freund von mir erwischt. Vor etwa drei Monaten. Manchmal, wenn die Tür aufgeht, denke ich, dass es er ist. Oder wenn das Telefon läutet. Ich hab ihn auch schon drei Mal in der U-Bahn gesehen. So kann ich damit umgehen, weil ich weiß, wieso. Sonst könnte ich damit nicht leben.«

»Ich werd eh aus Wien weggehen.«

»Dann siehst du sie halt in Atlanta im Bus. Glaub mir, du wirst im Augenwinkel eine Bewegung wahrnehmen, dein Herz macht einen Freudensprung, bis dein Hirn ›tot‹ sagt und dann wirst du merken, dass es eine andere war. Wenn du dann nicht weißt, wieso, wie und wer, dann läufst du dein Leben lang nur Gespenstern nach.«

»Und wie kommst du überhaupt drauf, dass du was rausfinden kannst? Mehr als die Kiberer?«

»Weil ich enorm Glück habe. In solchen Dingen zumindest, in anderen weniger.«

»Glück reicht?«

»Ein bisschen Erfahrung auch.«

»Aber nicht viel?«

»Genau.«

Er lächelte wieder auf diese sparsame Art.

»Außerdem reden die Leute mit mir mehr als mit den Kriminesern. Weil keiner Angst hat, dass ich ihn einbuchten könnte, vielleicht.«

»Ja, mich hast du zum Reden gebracht.« Seine Zigarette war heruntergeraucht und er dämpfte sie wieder in dem alten Einweckglas aus.

»Warum ist keine Polizei da, oder ist es woanders passiert?«

»Sind schon alle wieder weg. Waren enorm fix. Bis auf den eigentlichen Tatort darf ich auch überall hin. Nur Rias Arbeitszimmer oben«, er deutete hinauf, wo ein kleines Dachfenster über uns in den Wald hinausschaute, »ist noch abgesperrt.«

»Wo warst du?«

»Mit ein paar Freunden zusammen. Gegen zwölf war ich zu Hause, bin ins Bett. Wenn Ria in ihrem Arbeitszimmer war, wollte sie nicht gestört werden. Sonst ist sie ausgezuckt, komplett. Das war ihr Zimmer, ihr Bereich. Für mich war das tabu. Irgend so eine Frauensache halt.«

»Dann?«

»Ich bin irgendwann aufgewacht, vier oder so, und sie suchen gegangen. Es brannte Licht, doch sie hat nicht geantwortet. Da bin ich rein.«

Ob sein Alibi stimmte, konnte mir egal sein, das würden schon die beiden Cops erledigen. Besser als ich das könnte.

»Weißt du, ob sie Besuch hatte, oder hat sie was gesagt?«

»Nein. Keine Ahnung.«

»Die Tür ist in Ordnung, kein Einbruch irgendwo?«

Er schüttelte den Kopf und schaute in seine Bierflasche.

Klassische Standardschlussfolgerung: Opfer kennt Mörder, öffnet und so weiter. Hundertmal im Fernsehen gesehen. Gar nicht gut für mich. Je mehr Standard, umso weniger Anhaltspunkte. Meiner Meinung nach der Grund, warum Sherlock Holmes immer die komplizierten Fälle wollte, weil die simplen einfach nicht zu lösen sind.

»Marianne hatte ein Notizbuch, grauer Einband, unliniert, jede Menge Einträge in blauer Schrift. Es waren auch Rechnungen, lose Blätter, Fotografien und solche Sachen drin. Das hat die Polizei nicht gefunden. Weißt du, wo es ist?«

»Immer in ihrer Handtasche, sonst auf ihrem Schreibtisch.«

»Also ist es weg.«

»Wahrscheinlich.«

»Ihr Handy haben die Kiberer auch. Weißt du, wer ihre letzten drei Anrufer waren?«

Er schüttelte den Kopf.

»Gegen zehn hab ich mal angerufen, aber sie hat nicht abgenommen. Hat sie meistens nicht, wenn sie gearbeitet hat.«

»Und wie?«

»Messer.«

Er fuhr sich mit dem Zeigefinger quer über die Kehle, das hatte mir noch gefehlt. Ein Wahnsinniger mit einem Messer. Welcher Schwachkopf kam bloß auf eine solche Idee? Ab und zu stirbt wer bei einem Gerangel, weil die Rettung zu lange braucht, aber einen echten Mord mit einem Messer konnte ich mir nicht wirklich vorstellen. Da ist eine ziemliche Brutalität vonnöten. Oder Hass. Und jede Menge Geschicklichkeit.

Wenn nicht das Notizbuch verschwunden gewesen wäre, hätte ich in diesem Moment alles auf ihren Liebhaber gesetzt, inklusive Platongesamtausgabe und Erstpressung von ›Kind of Blue‹. Und meine Arare-Kanne obendrauf. Ohne Notizbuch war ich mir nicht ganz so sicher, meine Teekanne wär es mir nicht wert gewesen. Platon und Miles schon.

Als ich mir die Sachen so durch den Kopf schwirren ließ, war unterdessen die Platte an ihr Ende gekommen. Der letzte Song musste irgendein Bonustrack sein, der bei den Sessions übriggeblieben war, das verrieten mir der Sound und die Fehler. »25 lbs of pure cane sugar, in each and every kiss«, das blieb mir von ihm im Gedächtnis haften. Der Mann musste schon mal Laura geküsst haben. Bei dem Gedanken wurde ich richtig eifersüchtig und brauchte ein wenig, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Die Sehnsucht aber blieb.

 

»Von wem kam denn der Sound?«

»Black Crowes.«

»Nett. Nicht rasend originell, klingt ehrlich.«

Er murmelte eine Zustimmung und wir hingen beide noch ein wenig unseren eigenen Gedanken nach.

»Keine Idee, wer das war?«

»Nein.«

Aus dem Mann war nicht mehr viel herauszuholen. Ich trank noch mein Bier aus und verabschiedete mich dann. Auf der Straße überlegte ich noch kurz, ob ich mich nicht noch bei den Nachbarn umhören sollte. Ließ es jedoch bleiben. Davon hätte nur die Polizei Wind gekriegt, was ich gar nicht wollte, und außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass es mir etwas genutzt hätte. Wenn irgendjemand was gesehen hatte, wüssten das die Kiberer schon längst und ich würde dabei ohnehin nur zweiter Sieger bleiben.

Also ging ich zurück zur Mauer des Sanatoriums und folgte der Straße, die einen steilen Hügel hinaufführte. Ich strolchte dann noch ein wenig im Wald herum, in dem das Sonnenlicht kleine, helle Punkte auf den Klee unter den Eichen malte. Schließlich stand ich vor dem Gartenzaun von Schaubergers Haus. Da war auch eine kleine Tür, die sich öffnen ließ. Ich ließ mich nicht bemerken, sah mich um und verschwand wieder. Der Mörder war ganz sicher hier hereingekommen. Leider fanden sich keine exotischen Zigarettenstummel oder Ähnliches.

Ich spazierte gemütlich zur Bushaltestelle zurück, wo die Patienten schon gut in Stimmung waren, und wartete im Schatten auf den Bus. Die Zeit verkürzte ich mir durch ein bisschen Lektüre. Ist immer gut, wenn man seinen Sophokles dabei hat. Vor allem den in der zweisprachigen Tuskulum Ausgabe. Da kann man so herrlich an den Übersetzungen herumkritteln.

Als der Gelenkbus kam, wendete und alle draußen waren, stieg ich ein, und kurz darauf ging es los. Richtung Stadt, wo sich die Hitze zwischen den Betonblocks staute.