Ich schloss gerade die Tür hinter mir, als plötzlich eine Stimme ertönte. Vom Ende des Ganges her, dort, wo sich das Büro meiner Chefin befindet: »Linder, was machen denn Sie um diese Uhrzeit hier?« Ich fuhr zusammen wie ein Schulbub, den man beim Nasenbohren erwischt hat. In der hell erleuchteten Tür stand der Schattenriss von Glanicic-Werffel.
In alter Übung hatte ich sofort eine Ausrede parat: »Ich hab den Panini vergessen und bin noch mal zurück, um ihn zu holen.«
»Verschonen Sie mich bitte für einmal mit Ihrer Lügerei. Ich hab momentan echt nicht den Nerv dazu. Wir beide wissen, dass der Panini nicht ausgeliehen werden darf. Dazu bräuchten Sie meine schriftliche Genehmigung, die Sie nicht haben. Also, warum sind Sie hier?«
Ich stand noch immer wie angefroren an der Eingangstür, den noch nicht gedrehten Schlüssel im Schloss, sie bei ihrem Büro. Gut zehn Meter entfernt.
»Wasserrohrbruch, meine Wohnung ist derzeit nicht benützbar.«
»Warum gehen Sie dann nicht in ein Hotel?«
»Das ist finanziell unmöglich.«
»Sperren Sie ab und kommen Sie dann zu mir. Ich hab keine Lust, weiter so zu schreien.«
Ich tat wie geheißen und saß kurz darauf im Büro meiner Chefin. Die Fenster waren weit geöffnet, kühle Nachtluft strömte herein und unten fuhr alle paar Minuten ein Auto vorbei.
»Für den Moment angenommen, Sie schwindeln nicht schon wieder. Warum lassen Sie sich nicht von Ihren Eltern helfen, Ihre Familie ist doch wohlsituiert. Da werden ein paar Hundert Euro kein Problem darstellen.«
Der Gedanke, dass auch armer Leute Kinder studieren könnten, war ihr anscheinend noch nicht gekommen.
»Schwierige familiäre Verhältnisse. Eine lange Geschichte.«
»Sehen Sie, Linder, das glaube ich Ihnen. Wie man mit Ihnen kein schwieriges Verhältnis haben kann, ist mir unbegreiflich. Ihre Eltern müssen einiges mit Ihnen durchgemacht haben.«
»Was auch reziprok gilt.«
»Verschonen Sie mich mit Ihrer Klugscheißerei, lassen Sie uns für einmal ehrlich sein. Mir steht der Sinn wirklich nicht nach einem weiteren Wortgefecht.«
Sie blickte einen Moment zum Fenster hinaus, dann strich sie sich eine der eisgrauen Locken aus dem Gesicht. Täuschte ich mich, oder hatte sie gerötete Augen? Nein, Furien weinen nicht. Dann fiel mir ein zerknülltes Papiertaschentuch in einem zugeklappten Buch auf. Doch, auch Furien weinen.
»Sie haben noch gar nicht gefragt, warum ich hier bin.«
Daran dachte ich schon die ganze Zeit, doch es gibt Dinge, die will man gar nicht wissen. Nur die wenigsten Augenzeugen überleben den Augenblick der Schwäche eines Tyrannen. Auch wenn er wunderschön, klug und weiblich ist.
»Sie werden mit irgendwelchen Verwaltungsangelegenheiten beschäftigt sein, von denen …«
»Nein. Ich kam heute Morgen aus Italien zurück. Einen Tag früher als geplant. Ich wollte meinen Mann überraschen.« Am liebsten hätte ich mir die Finger in die Ohren gesteckt und laut gesungen. Doch Glanicic-Werffel kannte kein Erbarmen und machte weiter.
»Na, überrascht hab ich ihn auch. Mit seiner Sekretärin.«
»Alle Männer sind Schweine, sogar die Besten von uns sind nicht mehr als Affen im Anzug.« Besseres fiel mir nicht ein. Wenigstens hatte ich nicht darauf hingewiesen, dass es immer klüger war, zu spät als zu früh heimzukehren, der unliebsamen Überraschungen wegen. So eine Weisheit hätte sie sicherlich zum Kochen gebracht. Normalerweise hätte ich der Versuchung nachgegeben. Aber diesmal nicht. Vor mir saß eine wunderschöne Frau, der langsam bewusst wurde, dass sie kein junges Mädchen mehr war. Zum ersten Mal bemerkte ich Risse in ihrem diamantharten Panzer aus Selbstvertrauen, Intellekt und Versace. Die Krähenfältchen um die Augen, sonst immer sexy Zeichen einer reifen Frau, ließen sie diesmal müde und verletzlich wirken. Fast wie ein kleines Mädchen.Ich wollte sie irgendwie aufheitern.
»Für eine Diva wie Sie sollte so ein Vorkommnis doch kein Problem sein. Nehmen Sie sich einen Liebhaber, ziehen Sie Ihrem Mann bei der Scheidung die Hosen aus. Die Welt gehört Ihnen. Toyboys, Champagner und Philologenkongresse.«
»Aber ich liebe ihn doch. Ich habe ihn immer geliebt. Wissen Sie, Linder, Sie sind ein Mann, Sie können das nicht verstehen.«
»Warum sprechen Sie dann nicht mit einer Freundin darüber, bei ein paar Flaschen Prosecco?«
»Weil ich Prosecco hasse und keine Freundinnen habe.« So, jetzt war es heraußen, sie atmete tief durch. »Alle meine Bekannten sind hohlköpfige Schachteln, deren Horizont über Kleider, Friseur und Sean Connery nicht hinausgeht. Und wissen Sie, wieso das so ist?«
Nein, das wusste ich nicht. Wollte es auch gar nicht, doch Frau Ordinarius war in Fahrt.
»Weil ich mein Leben lang immer der Anerkennung von Männern nachgelaufen bin. Zuerst der von meinem Vater. Als mir dann klar wurde, dass das nie funktionieren würde, der von meinem Lehrer, aber egal, was ich auch immer machte, es war zu wenig. Ich habe mein ganzes Leben nach Anerkennung von Männern gestrebt. Nicht Anerkennung für ein schönes Kleid oder Ähnliches, nein, für Wissen und Kompetenz. Das funktioniert nicht. Mein Vater war stolz auf mich, weil ich schön war und weil ich eine gute Partie gemacht habe. Matura mit Auszeichnung, Promotion sub auspiciis, das war ihm egal. Meinem Doktorvater war mein Französisch wichtiger als mein Griechisch und, Ironie des Schicksals, bei meinem Mann ist es genau umgekehrt.«
Ich verstand nicht.
»Die Sekretärin Ihres Mannes beherrscht Altgriechisch und Französisch?«
»Schwachsinn, Linder, er hat sie in den Arsch gefickt, die kleine Schickse.«
Wenn ein Tonband mitgelaufen wäre, hätte ich den letzten Satz verkaufen können, für Millionen. Niemand würde geglaubt haben, dass Glanicic-Werffel sich jemals so ausdrücken könnte. Ich war völlig verdattert, nicht fähig, einen konstruktiven Gesprächsbeitrag zu leisten, deshalb fuhr sie fort.
»Wie schon gesagt, Linder, Sie als Mann können sich das gar nicht vorstellen. Für euch läuft immer alles glatt. Beruf, Anerkennung und eine Spur gebrochener Herzen hinter euch.«
»Ganz so sehe ich das nicht.« Eigentlich hatte ich es bis jetzt immer umgekehrt gesehen, was sie von den Männern sagte, hatte ich bis jetzt immer von den Frauen gedacht.
»Ach nein. Sie sind doch ein gutes Beispiel. Ein ausgezeichneter Philologe, alles rennt zu Ihnen um Rat, die Kollegen bewundern Sie, an jedem Finger fünf Mädchen, und sogar Ihre widerlichen Gesetzeswidrigkeiten schaden weder Ihrer Karriere noch Ihrer Gesundheit. Weil Sie der Einzige am Institut mit Grips sind. In zehn Jahren sitzen Sie auf meinem Stuhl wie ein Gott. Ich dagegen muss jeden Tag perfekt sein, darf mir keine Schwäche erlauben, weder fachlich noch amourös, aber es nützt nichts. Jetzt hat mich auch noch der eigene Mann betrogen. Das wird Ihnen nie geschehen. Und wenn, dann lachen Sie drüber und fliegen zur nächsten Blüte.«
Dann erzählte ich ihr meine Sicht der Dinge. Ich erzählte davon, wie es ist, wenn man keine fixe Anstellung bekommt, weil man ein Mann ist, da die Forschungsmittel immer zuerst an Frauen und Frauenprojekte vergeben werden, wie es ist, wenn man bettelarm ist und die einzigen beiden Frauen, die man je geliebt hat, einen verlassen haben. Die eine wegen eines Millionärs, die andere wegen eines Papyrus, den sie dann erst recht nicht erwischen konnte.
Glanicic-Werffel hörte aufmerksam zu, bis zu dem Moment, an dem ich von meiner Chefin zu sprechen begann, vor der ich in konstanter Angst lebte, für die ich Aufsätze schreiben musste und die mit einem Nicken meiner Existenz ein Ende setzen könnte. Da unterbrach sie mich.
»Wenn Sie auf meinem Stuhl sitzen, dann werden Sie auch nicht mehr alles selbst schreiben müssen. Sie insubordinieren jeden Tag, ich muss alles aufbieten, um Ihnen Paroli bieten zu können, um noch wenigstens einen letzten Rest von Achtung mit nach Hause zu nehmen.«
Ich sagte ihr, dass es mir gleich ginge. Danach schwiegen wir beide.
»Sie haben mir da viel zum Nachdenken gegeben, Linder.« Sie stützte ihren Kopf in ihre Hände, die Ellbogen auf dem Tisch. Ein bronzener Armreif rutschte langsam zum Ellenbogen hinab und sie lächelte. Müde, aber die Fältchen wirkten wieder sexy und kein bisschen mutlos. Um ein Haar hätte ich sie geküsst. Sie bemerkte es, fuhr mir ganz leicht über meine Rechte, die auf dem Tisch lag, und stand dann auf.
»Ich denke, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.«
»Sie wollen doch nicht hier schlafen?«
»Wo sonst? Nach Hause gehe ich sicher nicht.«
»Es gibt Hotels.«
»Ich hab ein Zimmer reserviert, im Marriott. Mein Gepäck ist schon dort. Ich bin eine Dame, ich werde sicher nicht allein um halb zwei Uhr morgens in einem Hotel ankommen.« Einen Hinweis darauf, dass sich ja auch schon am Nachmittag dafür Zeit gefunden hätte, unterließ ich.
»Soll ich Sie hinbegleiten?« Ich war ebenfalls aufgestanden.
Einen Moment zögerte sie, war sich nicht sicher. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle.
»Das wär ja noch schöner. Sicher nicht. Gehen Sie jetzt, ich bin kein Porzellanpüppchen, eine Nacht kann ich auch im Sessel schlafen.«
»Aber morgen werden Sie ins Hotel ziehen?«
»Wollen Sie mich loswerden, Linder? Das hier ist mein Institut.« Mit diesen Worten schob sie mich bei der Türe hinaus in den dunklen Gang. Dort stand ich noch ein Weilchen, unfähig zu verstehen, was da eben passiert war.