Das Café Weidinger, neben der Hauptbibliothek und der Lugner City gelegen, ist eine Zierschnalle am Gürtel Wiens. Das braune Eckhaus ist heruntergekommen, die hinweisende Schrift verblichen, die Fenster blind. Drinnen sind die Wände und Decken eierschalenfarbig gestrichen oder sind es zumindest gewesen, bis sie nachdunkelten und sich vom Tabakrauch verfärbten. Die Einrichtung ist durchgesessen, selbst Sitzriesen blicken kaum über die Tischplatte. Alles wirkt ein wenig trostlos und verblasst. Doch hinten klicken die Carambolkugeln, ein Spielerpaar sitzt über ein Schachbrett gebeugt und Karten werden auf den grünen Filz der Spieltische gedroschen, während vorne über Kaffee und Zeitung ein wenig geplaudert wird. Auf dem Zeitungstisch liegen die FAZ, der Standard und die Presse. Und niemals wird ein Ober auf die Idee kommen, auf eine neue Order zu drängen, nur weil die Kaffeeschale schon zwei Stunden leer ist. Eher bringt er ungefragt ein neues Glas Wasser.
Heute war noch nicht viel los, vorne saßen bloß eine Pensionistin über einem roten Viertel und ein gut gekleideter Mann um die 50 mit einer Melange. Beide hielten eine Zeitung in der Hand, sprachen jedoch über ihre Enkel. Der Ober stand daneben und hatte ebenfalls eine Meinung zu dem Thema. Die Spieltische waren unbesetzt und nur an einem der Carambols übte ein junges Mädchen, wieder und wieder die gleiche Stellung. Sie spielte sie jedes Mal perfekt an, schön tempiert, mit viel Sicherheit und perfektem Resultat. Doch das hielt sie nicht davon ab, nach dem Stoß wieder aufzubauen. Ich ließ sie weiterüben und ging hinaus in den Hof.
Der Hof misst etwa sechs mal vier Meter, ist von himmelhohen Wänden eingeschlossen und mit einer großen Kastanie bestückt. Auf dem freien Platz stehen fünf Tische. Zwei sind größer und rechteckig, mit vier Stühlen. Zwei sind klein und rund mit zwei Stühlen. Die runden besitzen Platten aus Kunstmarmor, die größeren sind einfach nur rostige Gartengarnituren. Die Wurzeln der Kastanie haben im Lauf der Zeit die Steinplatten verschoben und aufgebrochen, von den Mauern bröckelt der Putz, und doch ist der Hof ein Ort des himmlischen Friedens. Der Verkehrslärm vom Gürtel dringt nicht herein, ebenso wenig das Sonnenlicht. Die hohen Hauswände ringsum und die wundervolle Kastanie halten es ab. Man sitzt kühl und schattig unter den Fenstern, aus denen manchmal Stimmen, Haushaltsgeräusche oder leise Musik dringen. Die Lautstärke ist meistens perfekt, so dass man nur hört, wenn man will.
Eins der runden Tischchen stand am anderen Ende des Hofs, und dorthin setzte ich mich. Bald klapperten Stöckelschuhe über den Boden, ich blickte auf und sah Frau Korkarian. Sie kam auf mich zu, ich stand auf, wir begrüßten uns und setzten uns dann wieder.
Der Ober war ihr gefolgt, kein Wunder, so ein Anblick bot sich dem guten Mann nicht oft, und wir bestellten.
»Ein Johannisbeer gespritzt«, bestellte die Korkarian.
»Ah, gnä Frau, besser Sie bestölln a Kirschsoda, des is gleich guat, aber nur halb so teua. Ans zwanzg.«
»Warum denn das?«
»Weil die Preise macht da Chef, net I.«
»Gut, dann ein Kirschsoda.«
»A Kirschsoda und an großn Mokka. Sehr wohl.« Damit ging er ab.
Die Korkarian trug ein leichtes Sommerkleid in Dunkelblau, wahrscheinlich Leinen. Vorne war es aufgeknöpft und eine reinweiße Bluse schaute hervor. Kleine schwarze Steine lagen um ihren Hals, und zwei davon trug sie auch in den Ohrläppchen. Der Jett harmonierte wunderbar mit ihrem Haar.
»Sagen wir Du. Ich bin die Elena.«
»Ich bin Arno.« Aber das sagte ich nur so, ohne es zu meinen. Mir schwoll der Brustkorb vor Stolz. Ich hatte es immer schon gewusst. Der trojanische Krieg war nicht wegen einer Blondine geführt worden. Vor mir saß der Beweis.
»Es ist wirklich schön kühl hier.«
»Hab ich ja gesagt. Worum geht es?«
»Naja, ich wollte …«
»Sicher nicht nur dein schönes Kleid herzeigen. Also, was willst du?«
»Geradeheraus?«
»Sicher.«
»Na gut, woher hast du gewusst, dass mein Vater Seelen belehnt?«
»Wie man so etwas halt weiß.« Sollte sie nur geradeheraus reden, ich würde das sicher nicht tun. Der Grad zwischen Ehrlichkeit und Dummheit ist ein dünner. Manche sagen auch, es gäbe ihn gar nicht. Ehrlichkeit ist Dummheit.
»Wie?«, insistierte sie.
»Von einem Freund.«
»Der auch so einen Kredit aufgenommen hat?«
»Vielleicht. Ich verrate Freunde grundsätzlich nicht. Außer es lohnt sich.«
»Du hast also nur Geld gebraucht.«
»Ja. Beruf Hungerleider, Steuerklasse Kirchenmaus. Für Leute wie mich sind 500 Euro viel Geld.«
»Ich glaube dir nicht ganz.«
»Das ist vernünftig, aber mir auch egal.« Inzwischen war der Kaffee gekommen, ich hatte gezuckert und nahm einen kleinen Schluck.
»Wir verschwenden so nur unsere Zeit, wenn du mir nichts sagst.«
»Mit dir Kaffee zu trinken, ist keine Zeitverschwendung.«
»Mit dir schon.« Das Kirschsoda färbte ihre Lippen ein wenig dunkler, oder täuschte ich mich da?
»Sicher, ich bin ja keine schöne Frau.«
Sie lächelte. »Nein, das bist du nicht.« In ihrer wunderbaren Stimme spielte ein Lachen mit. Wie das Glucksen eines kleinen Waldbaches, den man durch die Bäume nicht sieht, aber schon hört. In Verbindung mit den verschwommenen Verschlusslauten ein zauberhafter Effekt. Wahrscheinlich wohl beabsichtigt, machte ich mir klar. »Darum gebe ich dir noch eine Chance. Hör gut zu. Vor einer Woche etwa kam schon einmal jemand wegen eines Seelenkredits zu uns. Derjenige ist jetzt tot.«
»Woher weißt du das?«
»Ich lese Zeitung.«
»Da steht so was drinnen?«
»Sicher.«
»Sollte ich auch mal probieren.«
»Schaden kanns nicht.«
Ich versteckte ein Lächeln hinter der Kaffeeschale, als ich wieder einen Schluck nahm.
»Und jetzt gehst du mit allen Kreditnehmern Kaffee trinken, um die Leute zu warnen, dass jemand rumläuft, der Menschen umbringt, die ihre Seele verpfändet haben. Ist einsichtig.«
»Nein. Nur mit denen, die irgendwie mit drinhängen.«
»Du meinst, ich bin der Serienkiller.«
»Eins ist noch keine Serie.«
»Könnte jedoch der Anfang sein. Auch eine Reise über tausend Li beginnt mit dem ersten Schritt.«
»Was soll das jetzt heißen?«
»Mao hat das gesagt, der hat anscheinend über 40 Millionen Menschen auf dem Gewissen.«
»Blödsinn, das Zitat kenn ich schon, dass kommt von Lao Tse.«
»Mao, Lao, die Chineser sind doch eh alles Japaner.«
»Das ist jetzt Qualtinger.«
»Stimmt. Du bist ziemlich sattelfest.«
»Spar dir deine Anzüglichkeiten.« Das hohe Glas mit dem roten Saft stand ihr gut zu Gesicht.
»Schmähohne jetzt. Dass ein Spezialkreditnehmer von euch unter der Erde liegt, gibt dir zu denken.«
»Dir nicht?«
»Ich sehe da nicht sonderlich viel Signifikanz. Bei jemandem, der seine Seele zu verpfänden bereit ist, scheint mir Mord gar nicht so abwegig. Ich wäre eher erstaunt, wenn so jemand beim Bingo einen Herzinfarkt hätte.«
»Woher weißt du, dass es Mord war? Davon hab ich nichts gesagt.«
»Überführt. Ich war’s. Wo hast du die Handschellen?«
»So leicht fessle ich dich nicht.«
»Leicht, immerhin hab ich wen dafür umgebracht.«
Sie winkte ab.
»Wie kommst du drauf, dass die Person ermordet wurde?«
»Wenn’s ein Insulinschock gewesen wäre, dann hätte es eine solche Nachricht nicht in die Zeitung geschafft, und wenn doch, würdest du deswegen nicht mit mir Kaffee trinken.« Außerdem hatte es mir die Polizei gesagt. Wenn es sich denn um die gleiche Person handelte.
»Wen hat es denn erwischt?«
»Eine junge Frau afrikanischer Abstammung. In meinem Alter.« Elena blickte nachdenklich den Stamm der Kastanie hinauf.
»Sie hatte einen Kredit bei euch?«
»Ja.«
»Kannst du mir eine Liste von den Leuten geben, die einen solchen Kredit haben?«
»Das ist nicht möglich.«
»Warum nicht? Hat dein Computer keine Printfunktion?«
»Doch.«
»Also, druck sie aus und gib sie mir.«
»Das geht nicht.«
»Hast du schon gesagt.«
»Datenschutzgründe. Wir dürfen nichts an Dritte weitergeben.«
»Merkt doch keiner.«
»Doch, mein Vater.«
»Man muss sich von den Eltern emanzipieren. Sonst rutscht man in ungesunde Verhältnisse.«
»Bei meinem Vater ist das genau umgekehrt.«
»Weißt du, was ›umgekehrt‹ auf Latein heißt?«
»Du wirsts mir sicher gleich sagen.«
»Pervers.«
Sie verzog das Gesicht zur Karikatur eines Lächelns.
Es hatte nicht zu mehr gereicht als einem Patt. Sie würde aus mir nichts rausholen und ich nicht aus ihr. Deswegen blickte ich auf meine Uhr, trank schnell den Mokka aus und sprang auf.
»Wir sehen uns sicher wieder, aber ich muss jetzt. War wunderschön.« Damit ging ich ins Weidinger hinein.
Obwohl schon nach zwölf, war drinnen noch immer kaum was los. Leises Stimmenmurmeln, Papierrascheln und Billardklicken. Ich zahlte beim Ober die beiden Getränke und ging hinaus. Am Gürtel rasten die Autos an mir vorbei, produzierten Lärm und Gestank, die Sonne war nun vollends durchgekommen und heizte herunter. Im prallen, schattenlosen Sonnenlicht schlug mir der Lärm wie eine Gerade ins Gesicht. Obwohl ich Nehmerqualitäten habe, wäre ich beinahe in die Knie gegangen. Nach dem angenehm kühlen Halbdunkel im Weidinger verständlich. Ich schleppte mich zur U-Bahn und fuhr zurück zur Uni.