Der kupferrote Assam hatte meine Schale schon zweimal gefüllt, nun war sie wieder leer und wartete darauf, zum dritten Mal gefüllt zu werden. Das weiße Porzellan der Innenseite hatte sich im Lauf der Jahre verfärbt. Ablagerungen von Teein, Kalk und sonstigen Inhaltsstoffen hatten ihre Spuren hinterlassen und manifestierten sich in braunen Trinkringen. Ich beschloss, dass es heute der Tag sei, sie endlich sauber zu machen. Aus einer der unteren Schubladen holte ich ein Päckchen Taschentücher hervor und putzte mit einem davon die Tasse aus, bis sie wieder in frischem Weiß erstrahlte. Dann füllte ich nach und gönnte mir die dritte Tasse. Es war noch nicht genug Zeit vergangen, um anzurufen. Also hing ich noch ein wenig meinen Gedanken nach, obwohl das schwer zu sagen war. Vielleicht hingen sie auch mir nach. Irgendwie war ich immer noch ziemlich stoned. Als ich mich zum fünften Mal fragte, ob nicht ein bisschen Musik angemessen sei, beschloss ich, Korkarian anzurufen. War ich überhaupt schon bei den Kriminesern gewesen? Doch. Sicher. Ziemlich. Vielleicht. Doch. Ich schüttelte meinen Kopf und schenkte Assam nach. Ruhig Blut. Ich war schon dort gewesen. Jetzt musste ich anrufen, bei Elena. Genau, das war der Schritt, der notwendig war. Oder vorher doch noch ein wenig Musik hören? Mein Gott, durchfuhr es mich, die Kiberer! Ich hatte den Termin vergessen! Sicher hatte mich Molnar schon zur Fahndung ausgeschrieben. Ich war schon aufgesprungen, der Stuhl dabei umgefallen, als mir einfiel, dass ich ja schon dort gewesen war. Mit klopfendem Herzen setzte ich mich wieder. Die Herzschläge dröhnten in den Ohren wie Paukenschläge. Ebenso mein Aufprall. Denn da war kein Stuhl mehr. Mühsam stand ich auf, stellte den Stuhl hin und setzte mich. Zutiefst erschöpft, schloss ich die Augen und war auch schon eingeschlafen. Mit Persern kiffen ist wie mit Iren saufen, war mein letzter Gedanke. Ich mag Iren.
Aus den tiefschwarzen Abgründen meiner Betäubung riss mich die Vibracall Funktion meines Handys, irgendwer stresste da wie blöd. Umständlich fischte ich das Handy raus. Elena. Gut. Ich nahm ab.
»Arno, was soll das? Buehlin ist hinüber?«
»Deswegen ruf ich ja an …«
»Ich ruf dich an! Schon seit zwei Stunden alle drei Minuten. Aber du nimmst nicht ab!«
»Ach so. Ja.«
»Bist du stoned?«
»Bisschen.«
»Uns bricht der Boden unter den Füßen weg und du knallst dich zu!«
»Uns?«
»Ja. Genau. Reiß dich zusammen, und dann müssen wir uns treffen.«
»Das war notwendig. Im Zuge der Ermittlungen …«
»Verschon mich mit dem Blödsinn. Wo?«
»Was?«
»Treffen!«
»Hm. Keine Ahnung.«
»Du bist heute nicht zu viel zu gebrauchen.« Ich hörte sie ins Telefon seufzen.
»Der Schein trügt. Bei dir?«
»Das würde dir so passen.«
»Siehst du. Dafür reicht’s noch.«
»Schwachsinn. Bin gerade im Dritten. Was kennst du da?«
In der Löwengasse, am Kolonowitzplatz, kannte ich das All-In, mit seiner braunen Kunstholztheke und dem uralten Stambulia Schild in Staubgelb. Das war nicht der Ort für Elena, Frauen gabs da nur über 40 und mit 3 Promille. Die Reaktionen der männlichen Gäste auf eine Frau wie Elena hätten sicherlich ein paar ins Krankenhaus gebracht. Was gab’s noch? Im Schwarzen Café war Sommeraktion. Großes Bier und doppelter Wodka für 1,50. Auch nicht der Ort für Elena, obwohl Frauen unter 40 anwesend waren, aber sicher alle über drei Promille.
»Treffen wir uns im Prückl.«
»Das gibt’s noch? War ich schon ewig nicht mehr.«
»Gut.«
»Halbe Stunde, und sei bitte bei klarem Bewusstsein.«
»I’ve got no consciousness to keep clear«, zitierte ich den Black Rebel Motorcycle Club und legte auf. Anschließend schnaufte ich durch und schenkte nach. Der Tee war alle. Irgendwer musste ihn ausgetrunken haben, als ich schlief. Um ein Haar hätte ich einen neuen aufgestellt. Aber so weit hatte ich mich noch im Griff. Ich ging auf die Institutstoilette, wusch mir Gesicht und Hände. Dann zog ich mir das verschwitzte Hemd aus und ließ mir kaltes Wasser über den Nacken laufen. Im Winter ist das Wasser aus der Leitung eiskalt und im Sommer lauwarm. So hat immer niemand was davon. Gott muss Österreicher gewesen sein, als er die Natur einrichtete.
Anschließend machte ich mich auf den Weg. Genug Zeit, um einfach durch den Ersten Bezirk zu marschieren. Über die Freyung, über den Graben, dann über den Stephansplatz und schließlich die Wollzeile hinunter. Imperiale Pracht, Touristen und glänzende Auslagen. Davor Bettler. Die Auslagen ohne Preisschilder, die Bettler ohne Beine. Jeder zeigt, was er hat.
Am Lueger Platz, der dem großen Wiener Bürgermeister gewidmet ist, der Adolf Hitler den Antisemitismus lehrte, befindet sich das Prückl am Eck zum Ring hinaus. In einem weißen Gebäude mit verzierter Gründerzeitfassade. Drinnen stehen die Stühle dicht an dicht, ein goldener Kronleuchter hängt tief von der Decke, das Kristall funkelt. Die Einrichtung in Cremeweiß ist abgewohnt und altmodisch. Es sieht so aus, wie sich die Fünfziger den Futurismus der Sechziger vorgestellt haben mochten. Da wir aber mittlerweile die Nuller schrieben, war der Anachronismus schon wieder revolutionär. In Wien kann sogar Biedermeier progressiv sein. Das Prückl war wie immer gut besucht, doch im Herzen fand sich im Eck noch ein Platz für zwei. Ich bestellte einen großen Mokka mit einem großen Glas Wasser. Der Ober brauchte keine zehn Minuten und das Gewünschte stand vor mir. Schale und Glas auf dem silberglänzenden Tablett, über das Glas der Löffel gelegt, wie es die Tradition verlangt. Ohne zu zuckern, stillte ich meine Gier nach Koffein. Als drei Minuten später Elena neben mir saß und sich eine Melange bestellte, orderte ich noch einen Mokka. Diesmal leistete ich Verzicht. Auf das große Glas Wasser.
Weniger ist mehr. Diese alte Wahrheit traf auch auf Elena zu. Mehr als die approximierten 4 Quadratzentimeter Stoff, die sie momentan am Körper trug, wären definitiv weniger gewesen. So war es gar nicht so leicht, meine Augen auf eine Stelle zu richten, die nicht nur nacktes Fleisch zu bieten hatte. Sie schien meine Verlegenheit durchaus zu bemerken und genoss sie sichtlich.
»Also, Elena. Woher kommt der plötzliche Gemeinsinn? Was ist das für eine Anwandlung?«
»Wie meinen?«
»Na, das Wir. Was soll das?«
»Ich hab ein wenig Angst.«
»Du? Mich halten die Krimineser für den Mörder von Buehlin. Nicht dich.«
Sie sah mich überrascht an. Na ja, für eine halbe Millisekunde vielleicht hatte ihre Pupille gezuckt. Wenn man schön paniert ist, fallen einem Kleinigkeiten auf, die man sonst übersieht. Außerdem kann eine Millisekunde dann eine Ewigkeit sein. Kaum hatte Elena ihre Pupille wieder im Griff, nahm sie einen Schluck von ihrer Melange.
»Soso. Du bist überrascht.«
»Bin ich gar nicht.« Schöner Kleinmädchentonfall.
»Doch. Die haben mich gar nicht im Tatverdacht. Die gehen von Selbstmord aus. Hab ich recht?«
Wieder zuckte die Pupille ein wenig. Diesmal noch kürzer, doch ich hatte darauf geachtet. Stoned bin ich ein Bombendetektiv.
»Ich hab recht.« Sprach ich und probierte meinen zweiten Mokka.
»Sei nicht so selbstgefällig. Das steht dir nicht.«
»Wie kommen die auf Selbstmord? Tür von innen versperrt und Knarre in der Hand?«
»So in etwa. Wie kommst du da drauf?«
»Weil meine Abdrücke auf der Waffe sind. Das heißt im Kibererdeutsch, ich wars. Das Einzige, was das verdrängen kann, ist eine von innen verschlossene Tür. Und der richtige Einschusswinkel an der Schläfe. Mein Alibi mit dir hätte da nie gereicht.«
»Hm. Kann sein.«
»Seh ich auch so. Also, warum hast du Angst?«
»Ich war nicht ganz ehrlich. Ria und ich wollten in der Sache auch ein wenig was verdienen. Es war so seltsam, dass Papa diesen Kredit vergeben hat. Ria meinte auch, dass es da um was Großes gehen müsste. Aber jetzt gibt es zwei Tote …«
»Einer davon war Selbstmord.«
»Blödsinn.«
»Warum?«
»Zu viel Zufall.« Genau das dachte ich auch. Schön, dass wir das gleich sahen. »Und außerdem hat vorhin jemand angerufen, noch vor der Polizei.«
»Wer?«
»Namen hat er keinen genannt. Er will sich jedoch mit mir treffen. Begleite mich. Allein geh ich da nicht hin.«
»Wo will er sich treffen?«
»Oben auf der Jubiläumswarte. Sobald’s dunkel ist.«
Die Jubiläumswarte ist ein abgelegenes Stückchen Land an der nordöstlichen Stadtgrenze. Tagsüber ist der Hügel ein beliebtes Ausflugsziel, nachts ist es dunkel und einsam.
»Lieber einmal feig als ein Leben lang tot.«
»So schlimm wird’s schon nicht werden.«
»Außerdem kann ich dir ohnehin nicht helfen.«
»Sollst du ja auch gar nicht. Mir geht’s mehr um die moralische Unterstützung.«
Das ist der große Nachteil an den XY-Chromosomen. Man kann zwar seinen Namen in den Schnee pinkeln, solange es die Klimaerwärmung noch zulässt, ansonsten ist man den XX-Chromosomeninhaberinnen hilflos ausgeliefert. Vor allem, wenn sie lieb lächeln.
»Na gut.« Viel schlimmer als das mit den XXern ist die eigene Neugier. »Worum geht’s wirklich?«
»Keine Ahnung.«
»Blödsinn. Ihr seid da irgendwem auf die Füße gestiegen, der mit deinem Vater Geschäfte macht. Irgendwas Großes. Fällt dir nichts ein?«
»Hmm. Weiß nicht. Die ganze Seelensache ist so seltsam.«
»Ach was. Darum geht’s doch überhaupt nicht.«
»Du interessierst dich doch auch dafür!«
»Eigentlich nicht. Ich tu nur einem Freund und seinen nervösen Vorgesetzten einen Gefallen, indem ich nachweise, dass dein Vater weder der Teufel ist noch einer seiner Gehilfen.«
»Die Kirche glaubt, dass …« Jetzt blickte Elena wirklich verdutzt drein.
»Genau.«
»Gott sei dank bin ich armenisch-apostolisch. Die Katholen sind echt nicht auszuhalten.«
»Wem sagst du das, aber sie zahlen gut. Also abgesehen von der Seelengeschichte, um was könnte es gehen?«
»Mein Vater hat so viele Geschäfte am Laufen und alle sind irgendwie seltsam.«
»Seltsam?«
»Er hat beispielsweise einen Kredit auf ein serbisches Goldminenprojekt am Laufen.«
»Serbische Goldminen?«
»Ja, genau.«
»Serbische Goldminen. So was gibt’s doch gar nicht.«
»Seelen doch auch nicht. Was ihn nicht daran hindert, damit Geschäfte zu machen.«
»Also gut. Wann sollen wir uns mit dem Kerl treffen?«
»Halb zehn.«
Ein kurzer Blick auf die Armbanduhr sagte mir, dass es auf neun Uhr zuging.
»Wie kommen wir da hinauf?«
»Ich hab ein Auto. Steht zu Hause. Wenn wir jetzt losgehen, geht’s sich noch aus.«
Also zahlte ich und wir gingen. Langjährige Beobachtungen erhärten den Verdacht, dass immer der zahlt, der weniger Geld hat. Ob das allerdings Ursache oder Wirkung der Armut ist, lässt sich noch nicht sagen. Vielleicht klärt sich mir der Sachverhalt ja noch in Zukunft.