Bemerkenswerterweise hielt sich der einsetzende Kopfschmerz in Grenzen. Das ruckelnde Busfahren zur Baumgartner Höhe machte trotzdem keinen Spaß. Mein Magen revoltierte, und immer wieder würgte ich trocken. Dazu kam, dass ich entsetzlichen Durst hatte und, so seltsam das klingen mag, auch ziemlichen Hunger. Wenn ichs recht überlegte, hatte mein letztes Essen aus einem mürben Kipferl bestanden, damals beim Frühstück mit Glanicic-Werffel. Ich nahm mir vor, demnächst ein bisschen mehr auf meine Ernährung zu achten. Sobald ich wieder etwas unten behalten konnte.
Oben auf der Baumgartner Höhe stieg ich aus und stakste um das Sanatorium herum. Im Wirtshaus an der Bushaltestelle saßen schon wieder die verzweifelten Zecher. Ich nahm denselben Weg wie das letzte Mal, um zur Rosentalgasse zu kommen. Der Unterschied bestand darin, dass damals die Sonne geschienen hatte und nun die Wolken tief hingen. Die nette Gegend im Sonnenschein hatte sich verwandelt und wirkte nun ein wenig unheimlich und bedrohlich. Kleine Indianer überfielen mich diesmal auch nicht, und so machte der ganze Weg deutlich weniger Spaß als zuletzt.
Vor dem Hexenhäuschen der verstorbenen Schauberger hielt ich kurz an. Die Gartentürklingel war noch immer defekt, und so ging ich zur Vordertür. Dort war abgeschlossen. Ein Blick sagte mir, dass auch die Garagentür verschlossen war. Hoffentlich war er noch nicht nach Amerika umgezogen. Aber vielleicht lag es auch daran, dass normale Leute um diese Tageszeit einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Ich machte noch eine Runde ums Haus, fand nichts und beschloss umzukehren. Alle Kfz-Werkstätten Wiens durchzugehen, hatte ich weder Zeit noch Lust. Auf dem Weg die Rosentalstraße zurück, rief mich allerdings eine Stimme aus dem Hintergrund an. Zuerst konnte ich nichts sehen, bis sich die Thujenhecke bewegte und ein altes Gesicht zum Vorschein kam. Scharfe Gesichtszüge, dünne Lippen und die pergamentartig gespannte Haut des hohen Alters.
»Sie waren schon vor ein paar Tagen da. Zu Besuch bei dem Rocker.«
»Genau.« Ich antwortete sehr höflich und korrekt. Alte Damen, die nichts zu tun haben, können sehr mächtige Verbündete sein.
»Was wollen Sie denn von ihm? Wie ein Vertreter sehen Sie nicht aus.« Sie wandte mir immer die rechte Seite ihres Gesichts zu, wenn sie eine Antwort von mir erwartete. In ihrem Ohr sah ich ein Hörgerät.
»Ich kannte seine verstorbene Frau recht gut und wollte kondolieren.«
»Und heute?«
»Ich bräuchte seine Hilfe, aber er ist nicht zu Hause.«
»Ordentliche Leute arbeiten um diese Zeit. Was ist eigentlich Ihr Beruf?«
Ich antwortete wahrheitsgemäß, ein bisschen ein Titel kann manchmal von Vorteil sein. Nur den ›Professor‹ schummelte ich dazu, klingt einfach besser als Lektor.
»Wobei bräuchten Sie nun seine Hilfe?«
Ich verzog das Gesicht und deutete mit einer Geste an, dass es sich hier um etwas Delikates handelte. Die Augen der alten Dame leuchteten.
»Was sagt er, Frieda, ich kanns nicht hören«, mischte sich eine zweite Stimme von hinter der Hecke ein. Gutmütiger und kindlicher als die erste. Das Gesicht einer zweiten Dame erschien. Ähnliches Alter, aber wohlgenährter und fast ein wenig rosig.
»Er sagt«, brüllte die Erste los, »dass er Professor ist und …« Die andere verzog das Gesicht und hielt sich angestrengt lauschend zwei Finger hinter das rechte Ohr.
»Ich hör nix, Frieda …«
»Warte, Gerda«, meinte die Erste und nahm sich das Hörgerät aus dem Ohr und gab es weiter. Als es im Ohr der zweiten Dame steckte, fuhr sie fort. »Also«, begann sie von Neuem und erklärte der zweiten Dame den Sachverhalt meiner Anwesenheit. Die andere nickte nur.
»Der Rocker arbeitet bei einer Werkstatt im fünfzehnten. Irgendwo in der Costagasse, Herr Professor«, platzte die Gutmütige heraus. Die andere hielt sich zwei Finger hinters Ohr und kniff die Augen zusammen. Ich wollte mich bedanken, als hinter der Hecke eine Türe zugeschlagen wurde und eine keifende Stimme ertönte. So durchdringend, dass sogar Frieda ohne Hörgerät verstand, um was es ging.
»Gerda, Frieda, was geht da vor? Redet ihr mit wem? Wo ist das Fernglas?«
Ein drittes Gesicht erschien durch die Hecke. Die dazu passende Dame war wohl einen ganzen Kopf kleiner als die anderen beiden, aber da, wo Friedas Gesicht ernst gewesen war, schien ihres böse mit tyrannischem Gesichtsausdruck. Mit der Frau war sicher nicht gut Kirschen essen.
»Ophelia, wir wollten doch nur …«, meinte Frieda beschwichtigend. Doch Ophelia hörte gar nicht zu. Wahrscheinlich war sie ebenso stocktaub wie die anderen beiden. Frieda gab ihr ein schweres Fernglas, das sie um den Hals gehängt hatte. Sicherlich mit Nachtsichtfunktion.
»Mit fremden Männern einfach so auf der Straße reden, ich werd euch was! Marsch, rein ins Haus.«
Gerda und Frieda verschwanden, nicht ohne dass mir Gerda noch einmal zugelächelt hatte. Ich lächelte zurück. Ophelia kniff ihr eines Auge zusammen und starrte mich für einen Augenblick wütend an. Dann verschwand auch sie in der Hecke. Die drei waren sicher Schwestern und der Schrecken der Nachbarschaft.
Ich machte mich auf den Weg zurück in die Stadt. In der Mitte der Costagasse liegt auf der Straßenseite mit den ungeraden Nummern eine Werkstatt. Durch eine alte Einfahrt betritt man einen Hof, der mit Kopfsteinpflaster ausgelegt ist und von alten Autos bestanden wird. Zwischen den Pflastersteinen sprießt Gras, grün und jung. Auf der anderen Seite des Hofes hängt eine blaue Tafel mit gelber Aufschrift: Skocek Autoreparaturen. Telefonnummer und Adresse stehen in Gelb ein wenig darunter.
Auf dem Hof war keine Menschenseele zu sehen, also ging ich hinüber zu der Tafel. Darunter befand sich ein weiteres Tor, dessen Metallschiebetür blöderweise geschlossen war. Ein paar Meter daneben machte ich allerdings eine Tür aus. Dort klopfte ich und trat ein.
Ich stand in einem Büroraum mit Holzboden und Glaswänden. Überall hingen Reifenkalender mit halb nackten Mädchen. Ein weiteres Büro mit Glaswänden schloss sich an und ein Weg führte nach hinten, wahrscheinlich in die Werkstatt. Im ersten Büro saß eine dramatisch geschminkte Frau Mitte 40 hinter einem Schreibtisch und klopfte mit langen, roten Fingernägeln auf eine uralte Tastatur. Daneben stand ein Aschenbecher, der mit den Leichen zahlloser kleiner, tapferer Zigaretten gefüllt war. Unter der wilden Schminke und den toupierten schwarzen Locken war die Frau recht hübsch. Freien Blick hatte ich auf die gut besuchte Bluse, die mindestens zwei Knöpfe zu weit offen stand. Ich wettete mit mir selbst, dass sich unter dem Schreibtisch ein Mini und Stöckelschuhe verbargen. Sie wandte den Blick vom Bildschirm zu mir und taxierte mich kalt.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Arbeitet bei Ihnen ein Mechaniker, Österreicher, mit halblangen schwarzen Haaren?«
»Ja, was wollen Sie denn von ihm?«
»Ich hätte ihn gern gesprochen. Nur kurz, dauert vielleicht zwei Minuten.«
»Ich bring Sie nach hinten.« Sie stand auf und ich folgte ihr. Die Wette hatte ich klar gewonnen. Die Bleistiftabsätze waren mindestens 14 cm hoch.
Am Ende des Ganges öffnete sie eine Metalltür und wies nach hinten.
»Greg ist dort.«
»Danke.«
Ich ging an ihr vorbei, genau darauf achtend, mit keinem ihrer Körperteile, von denen es einige gab, in Berührung zu kommen. In der Garage standen mehrere Autos, in verschiedenen Phasen der Demontage. Nur ein nahezu fabrikneuer Mercedes stand allein. Die hintere Hälfte des Wagens war mitternachtsblau, die vordere silberfarben. Er wurde gerade umgespritzt. Mir fiel nur ein Grund für so ein Unterfangen ein, und der war nicht ganz legal. Das war jedoch nicht mein Problem.
Nachdem ich mich ein wenig orientiert hatte, fiel mir auf, dass nur unter einem Wagen gewerkelt wurde. Ansonsten war die Garage leer. Ich ging auf das betreffende Auto zu und beugte mich über die Servicegrube.
»Entschuldigung?«, fragte ich hinunter.
»Ja?«
Der Kopf von Schaubergers Freund erschien.
»Ah, Servas, wart, ich kumm rauf.«
Er stieg aus dem Graben und nahm sich ein Tuch von einem danebenstehenden Werkzeugkasten. Nachdem er sich die Hände vom Öl gesäubert hatte, fischte er sich ein Packerl Zigaretten aus einer Tasche seines blauen Overalls.
»Was is?«, fragte er, nachdem er angeraucht hatte.
»Niemand da, außer dir?«
»Nur die Sekretärin, die anderen sind unterwegs.«
»Gut. Ich brauch deine Hilfe. Du sollst morgen Abend ein Auto fahren.«
Er lächelte spöttisch und schaute dann auf die Zigarette zwischen seinen ölverschmierten Fingern.
»Is grauslich mit die schmutzigen Händ. Ich krieg immer Öl auf den Filter, schmeckt wie Schmusen mit an Diesel.« Er nahm noch einen Zug und warf schließlich die kaum angerauchte Zigarette in einen Eimer mit Putzwasser.
»Warum soll ich dich fahren, ich bin kein Chauffeur.«
»Vielleicht interessierts dich trotzdem.«
»Geld?«
»Eher nicht. Mehr Rache oder so was.«
»Ria ist tot.«
»Sicher, und zurückkommen tut sie deswegen auch nicht wieder. Ist mir schon klar. Nur dacht ich halt, dass du vielleicht gerne dabei wärst. Versteh mich nicht falsch, wenn du nicht willst, ist das überhaupt kein Problem.« So ganz stimmte das natürlich nicht. Reichi würde ich niemals dazu bringen, seine Hände schmutzig zu machen. Ohne viel Geld zumindest nicht. Mike war in der Nacht kein brauchbarer Fahrer mehr, außerdem hatte er mich schon zu oft verpfiffen. Andere Kandidaten gabs nicht, denn Fred war tot.
»Was hast denn überhaupt vor?«
»Einen Bruch.«
»Du? Muss ich dabei auch die Schlösser knacken?«
»Nein, dafür hab ich schon wen.«
»Der das auch kann?«
»Der das auch kann. Sicher.«
»Lass hören.«
»Ich ruf dich morgen an, du fährst uns wo hin, lässt uns raus, fährst ein paar Minuten herum, und dann ruf ich dich wieder an. Du kommst zur gleichen Stelle, wir steigen ein, du fährst uns wo hin, lässt uns raus und alles ist vorbei.«
»Wärs nicht gescheiter, wenn wir getrennt hinfahren würden?«
»Nicht unbedingt. Es sieht uns zwar dann vorher niemand gemeinsam, dafür wird alles unsicherer. Wenn einer zu spät kommt, weil die U ausgefallen ist oder so. Außerdem tendieren Menschen dazu, unglaublichen Blödsinn anzustellen, wenn sie nervös sind. Da ist es besser, zusammen zu sein. Das beruhigt kolossal.« Außerdem hatte das Fred auch immer so durchgezogen, und ich hatte gar nicht vor, das Rad neu zu erfinden.
»Klingt, als hättest du so was schon mal gemacht.«
»Ist durchaus möglich.«
»Du wirkst gar nicht wie ein Berufsverbrecher.«
»Dem Teufel sieht man die Pferdefüße auch nicht an.«
»Der bist du nicht.«
»Meine Schuhe werd ich jetzt sicher nicht ausziehen.«
Wir grinsten uns an.
»Ein Problem gibts noch.«
»Nur eins?«
»Ich muss morgen Vormittag arbeiten.«
»Kein Thema, das Ganze findet sicher erst ab Mittag statt.«
»Um wen geht’s?«
Ich schüttelte nur den Kopf.
»Das gefällt mir nicht. Ich will wissen, wer und wo und genau, warum.«
»Entweder du machst mit oder du lässt es bleiben.« Hoch pokern kann ich gut, nur verliere ich dabei meistens. Diesmal aber nicht.
»Ok.«
»Außerdem, ich denke, es ist sicher kein Fehler, wenn du nach der Sache mit dem Auswandern konkret wirst.«
»Ok.«
»Es wär super, wenn du ein unauffälliges Auto hättest. Auf keinen Fall viele PS und möglichst leise.«
»Und wenn wir abhauen müssen?«
»Greg, wir sind nicht im Kino, auch wenn’s vielleicht so wirkt. Wenn irgendwo die Sirenen angehen, bleiben wir stehen und halten brav die Hände über den Kopf. Verfolgungsjagd mit der Polizei wird es sicher keine geben.«
»Was, falls uns der Eigentümer erwischt?«
»Dann erschießt er mich, bevor ich dich anrufen kann. Das ist für dich sicher der unkomplizierteste Ausgang der Sache.«
»Alles hat so seine Vorteile.«
»Genau.«
»Willst du mir nicht wenigstens sagen, was du dort suchst?«
»Sicher nicht. Aber deine Telefonnummer wär interessant.«
Einen Augenblick später war auch das erledigt und ich hielt ihm die Hand hin. Er zögerte.
»Meine Finger sind dreckig.«
»Nur an der Oberfläche.« Er lächelte wieder auf seine ganz spezielle Art. Gott sei Dank war ich keine Frau. Dann schlug er ein.
Als ich schon im Gehen war, kam noch eine Frage.
»Wenn ich dich einfach verpfeife?«
»Du meinst, du rufst bei der Polizei an?«
»Was dann?«
»Dann müssen sie mich auf frischer Tat ertappen, sonst bringt das ihnen nichts. Außerdem tust du’s nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Bist nicht der Typ dafür.«
Ich drehte mich einfach um und ging. Er war ganz sicher nicht der Typ dafür. Hoffentlich.
Erstaunlicherweise fühlte ich mich danach doch um einiges besser. Vielleicht ging sich im Laufe des Tages sogar ein Glas Wasser aus. Der Durst war kaum mehr auszuhalten. Ich ging hinüber in den Reithofferpark und legte mich auf eine Bank, nachdem ich die Reste des Nachtregens, der sich im Schatten der Bäume bis jetzt gehalten hatte, abgewischt hatte. Tauben spazierten gurrend herum, ein paar Kinder spielten Fußball im Käfig und Mütter saßen auf den Bänken, Sonnenblumenkerne knabbernd. Ich lag auf dem Rücken und starrte in den grauen Himmel hinauf. Die Sonne schien zwar nicht, es war auch nicht so heiß wie die letzten Tage über, aber die Schwüle nahm zu. Mein Jackett hatte ich mir unter den Kopf geschoben. Die Zeit war gekommen, Erich anzurufen.
»Ja.«
»Hi. Ich werd’s machen.«
»Gut. Alles, was du findest, bringst du morgen mit. Ich sag dir dann, wo wir uns treffen.«
»Halt, so schnell schießen die Preußen auch wieder nicht. Das Ganze wird, wenn alles glattläuft, erst morgen Abend steigen.«
»Morgen erst.«
»Ja.«
»Gehts nicht schneller?«
»Es ist so schon viel zu schnell. Eigentlich muss man so was ein paar Tage vorbereiten.«
»Wie willst du das anstellen?«
»Ich fahr hin, steig ein und fahr heim.«
»Ernst jetzt.«
»Sicher, ist mein Ernst.«
»Du willst nicht darüber reden.«
»Genau.«
»Dann viel Glück und lass dich nicht erwischen.«
»Schon gut.«
Wir legten auf. Dass ich gar nicht bei Korkarian einsteigen wollte, hatte ich ihm nicht gesagt. Auch Erich musste nicht alles wissen. Ich starrte noch ein wenig in den Himmel hinauf, dann rollte ich mich zusammen und schlief ein.