Der Nachmittag zog in einer verschwommenen Zusammenhangslosigkeit an mir vorüber. Die heißen Straßen, meine Hausbesorgerin mit meiner Wäsche, ich in meinem Büro, auf und ab gehend. Irgendwo ein Abendessen, von dem mir gar nichts in Erinnerung blieb. Gleichermaßen schien die Zeit zu rasen und stillzustehen. Augenblicke dehnten sich ereignislos und Stunden schmolzen dahin. Wieder und wieder hämmerten mir dieselben Gedanken im Hirn herum, wie Kesselflicker im Akkord. Ich sehnte mich danach, ins Auto zu steigen und loszufahren, die Sache hinter mich zu bringen. Gleichzeitig wollte ich nichts weniger als das. Zum ersten Mal in meinem Leben beneidete ich die Spießer, die sich um gespitzte Bleistifte und Bausparverträge sorgen. Bis mir klar wurde, dass ich gerade diesen Gedanken schon ein Dutzend Mal durchgekaut hatte. Immer in ähnlichen Situationen. Originalität ist nicht so mein Ding, scheint’s.
Als dann die Schatten länger wurden, ging ich hinüber in den Roosevelt-Park, setzte mich auf die Treppen der Votivkirche und schaute den Leuten auf dem Rasen zu. Das half nichts. Meine Erregung nahm zu, und um ein Haar wäre ich in die Votiv-Kirche hineingegangen und hätte aus einem Impuls heraus eine Kerze angezündet. Bei anderen Leuten finde ich diese Art von Religiosität surreal, an mir selbst hasse ich sie. Hätte mich jemand gefragt, ich hätte auf sofortige Notschlachtung des Herrn Arno Linder plädiert. Die Religion als Krückstock für den, der nicht alleine stehen kann. So oder ähnlich hatte Nietzsche einmal formuliert. Meine Selbstverachtung war grenzenlos. Kurioserweise beruhigte mich das, und als es nach ein bisschen Grübeln gegen zehn ging, rief ich Greg an.
Beim ersten Läuten hob er ab. Offensichtlich auch schon auf 180.
»Ja.«
»Alles bereit?«
»Sicher.«
»Komm mich am Roosevelt-Platz holen.«
»Warst du beten?«
»Sicher, hab auch für dich einen Rosenkranz eingestreut.«
»Ich bin Anglikaner.«
»Betet ihr keine Rosenkränze?«
»Keine Ahnung, darüber hab ich nie nachgedacht.«
»Auch egal. Wie lange brauchst du?«
»20 Minuten.«
»Gut, aber immer sorgsam fahren.«
»Ja, ja, werd mich schon an die Straßenverkehrsordnung halten.« Eine Wagentür schlug zu und die Verbindung war getrennt.
Greg kam in einem kleinen Auto daher. Irgendwas Asiatisches, KIA oder so, hielt an einer roten Ampel und ich stieg ein. Neuwagengeruch und Tabakqualm, der Aschenbecher quoll über, aber nicht die Spur von einer Fahne. Ein Blick in Gregs Augen bestätigte mir, er war stocknüchtern. Schweigend saßen wir nebeneinander, warteten auf Grün und Greg trommelte mit den Daumen auf das Lenkrad. Die Fußgänger, die vor uns über die Straße gingen, sahen wir gar nicht. Da hätten Aliens dabei sein können, es wäre uns nicht aufgefallen.
Als dann die Ampel umschaltete, fuhr Greg an. Ganz sachte, keine quietschenden Reifen oder so was. Ich war zufrieden, da hatte ich mir den Richtigen ausgesucht.
»Wohin geht’s eigentlich?«
»Hinauf zum Exelberg.«
»Dort wohnt er? Bist du sicher, dass es der war?«
»Ziemlich.«
»Und was willst du von ihm?«
»Er hat das Notizbuch.«
»Das beweist nicht, dass er es war.«
»Sicher nicht.«
»Was soll dann das Ganze, verarscht du mich?« Er war ziemlich wütend.
»Es stehen ein paar andere Sachen in dem Buch, die werden reichen.«
»Aber …«
»Lass gut sein. Das Fell des Bären und so. Zuerst einmal ist nur wichtig, dass die Sache klappt. Nachher schauen wir weiter. Jetzt darüber nachzudenken, bringt nichts, sondern lenkt nur ab. Du fährst das Auto, oben wird einer einsteigen, dann werden wir aussteigen, du fährst hinauf in den Wald, und fünf Minuten nach meiner SMS stehst du dort, wo ich dir sage, und wir steigen ein. Alles andere ist unwichtig. Fahr das Auto, so als gäbe es sonst nichts. Überhaupt nichts.«
»Gut.«
Wir überquerten den Gürtel, fuhren die Hernalser Hauptstraße hinauf nach Dornbach und schließlich nach Neuwaldegg. Die Häuser lichteten sich, Weinreben standen auf den Hügeln und das Grün rundum nahm zu. Auf den Straßen war wenig los, und so ging alles glatt. Schließlich hatten wir die Stadt gänzlich hinter uns gelassen und oben beim Kreisverkehr, wo Amundsen-, Exelberg- und Höhenstraße zusammenkommen, begann der Wald.
An der Kreuzung gab ich Greg ein Zeichen und der wurde langsamer. Es war dunkel, kaum was zu sehen und keine anderen Autos weit und breit. Bloß Grillen zirpten zu den heruntergelassenen Fenstern herein und irgendwo über den Hügeln krächzte ein Vogel. Der KIA war richtig leise, ein brauchbares Auto. Plötzlich tauchte am Straßenrand ein schwarzer Schatten auf. Für gewöhnlich ist das der Teufel, der in der Nacht an Straßenkreuzungen wartet, so sagen zumindestens die alten Blues Sänger, in unserem Fall war es aber nur Kurti.
»Seids z’fruah. Ordentlich nervös, wie’s ausschaut.« Mit diesen Worten stieg er ein. Wir kamen gar nicht dazu, etwas zu antworten, als er auch schon weitersprach.
»A klaneres Auto habts net gfunden, mei Wampen passt net gescheit aufn Rucksitz.«
»Für die paar Minuten geht’s schon.«
»Bein Ruckweg sitz i vurn und du hint.«
»Sicher, kein Problem.«
Er schaute zu Greg.
»Wer is der Hippie?« Alles, was Haaren über die Ohren hatte, war für Kurti ein Hippie.
»Greg.«
»Freut mi, i bin da Kurti.« Die beiden schüttelten sich die Hände. »Schau an, der hat ja richtige Schwielen auf die Händ, und Öl unter die Nägel.«
»Bin Automechaniker.«
»War i a amal. Dann war i Schlosser und dann hab i s bleibn lassn. Hackln is nix für mi.«
Wir fuhren die Straße bergauf, in einen Laubwald hinein, der immer wieder von kleinen Wiesen unterbrochen wurde. Zu den gewöhnlichen Gerüchen einer Sommernacht gesellte sich der würzige Duft von frisch geschnittenem Heu. Schließlich, als die Straße ernstlich anzusteigen begann, sah man die ersten Häuser. Alle rechter Hand, den Hang hinaufgebaut.
»Da kummst uns holn, wenn ma klingeln.« Kurti wies auf den tiefen Schatten unter zwei Bäumen, dort, wo die ersten Häuser begannen.
»Jetz fahrst uns rauf, bis zu die Serpentinen.«
Die kleine Siedlung zog an uns vorbei, mittlere und größere Einfamilienhäuser mit Hecken und weißen Wänden. Ein gewisser Wohlstand, der aber nicht in protzigen Reichtum überging, ließ sich feststellen. Oben an der ersten Serpentine nach der Siedlung verließen wir Wien und das Bundesland Niederösterreich nahm uns wohlwollend auf. In der zweiten Kurve wurde Greg wieder langsamer.
»Oben am Exelberg, bein Sender, suchst du dir irgendwo a Platzerl im Schatten. Aber net z’nah bein Wirtshaus. Durt wartst auf uns.«
»Viel Glück«, wünschte uns Greg.
»Lass des bleibn, davon spricht ma net«, und Kurti schloss sanft die Hintertür. Für einen Mann seines Umfangs, der sich zuvor noch über die Dimensionen des Fahrzeugs beschwert hatte, war er bemerkenswert elegant ausgestiegen. Wir gingen von der asphaltierten Straße ab, folgten einem Forstweg in den Nadelwald, und nach ein paar Hundert Metern bogen wir rechts ab, den Hang hinunter, dabei folgten wir einem kleinen Pfad. Der Boden war weich und federnd, im Vergleich zum Beton der Stadtstraßen jedenfalls. Unter den Bäumen war es recht dunkel, wir stolperten beide mehrmals und näherten uns dann der kleinen Siedlung. Nur das Zirpen der Grillen war zu hören. Sonst nichts, nicht einmal ein Käuzchen. Die Häuser unter uns wirkten still und leer.
»So, jetz rauch i amal ane.« Kurt setzte sich unter einen der hohen Bäume und gab sich Feuer. Er saß so, dass ihn der dicke Stamm nach unten hin deckte. Niemand würde von dort aus sehen können, dass heroben jemand rauchte. Jedes Mal, wenn er zog, tauchte sein Gesicht mit der runden Nase und den Tränensäcken, die sein Doppelkinn nachzuäffen schienen, im roten Lichtschein der Glut auf. Dann verschwand es wieder, um beim nächsten Zug wieder aufzutauchen. Wenn er nicht die Zigarette im Mund hatte, sah ich ihn überhaupt nicht, obwohl wir nur wenige Schritte auseinander saßen.
»Samstag is a guter Termin. Entweder sans bsoffen und schlafen oder sie san net z’Haus, weils auf Lepschi gengan.«
»Welches ist das Haus von Kana?«, fragte ich, hinunterblickend. Ganz hinten war der Lichtkegel Wiens über den Hügeln zu sehen.
Kurti ignorierte meine Frage einfach. Da war was im Busch.
»Ist dir die Sach des Risiko wert?«, fragte er, sich eine neue Zigarette herausschüttelnd. Er rauchte sie mit der letzten an. Den Stummel ließ er in der hinteren Hosentasche verschwinden.
»Sonst wären wir nicht da.«
»Guat.«
»Also, welches ist das Haus vom Kana?«
Wieder keine Antwort.
»Was willst du da drin finden?« Mit Hilfe der Glut konnte ich ihm ins Gesicht sehen.
»Geld.« Ich hatte einen Moment zu lange gezögert. Kurti glaubte mir kein Wort.
»Fahr ab. Glaub i dir net. Du bist hinter ganz was anderem her.«
»Willst du mir jetzt Druck machen, dass ich mich nicht alleine hineintrau und du auch was abkassierst?«
»Irgendwie schon. Aber eigentlich mach i mir mehr Sorgen. Du bist aner von die Gfährlichen.«
»Wie meinen?«
»A normaler Mensch is mit a paar Tausender zfrieden. Wenn i mit so an an Bruch mach, is alles leiwand.«
Er nahm einen tiefen Zug. Erst nachher sprach er weiter.
»Aber bei dir? Da kanns passieren, dass ma an Atomsprengkopf dawischen, oder die Zähnt vom ersten Kaiser von China. Verstehst mi?«
»Ungefähr.«
»Und da will i dann net dabei sein, weil des is wirklich gfährlich.«
»Sicher.«
»Hinter was bist du also her, Burli? Und net schwindeln diesmal.«
»Nur Geld.« Diesmal hatte ich meine Unschuldsmiene aufgesetzt, mit der ich meiner Lehrerin immer weisgemacht hatte, dass die Hausaufgaben dem Krokodil zum Opfer gefallen waren.
»Geld hat der Kana kans. I kenn Leit, die kennen Leit, die den Kana kennen. Der Kana ist pleite, in zwa Wochen pfändens ihm die Hittn unterm Oarsch weg. Geld is da kans. Worum geht’s?«
»Der Kana hat was, das wem ghört. Für den arbeit ich.«
»Was?«
»Papiere über gemeinsame Geschäfte, die will mein Auftraggeber zurück. Die sind nicht wirklich was wert, er ist nur ein bisserl hypersensibel.«
»Was kriegst dafür?«
»Er zahlt mir die Miete bis Silvester.«
Kurti nickte.
»Gemma«, meinte er und dämpfte den Tschick aus. Nachdem er den Stummel wieder hinten in die Hosentasche gesteckt hatte, gingen wir leise den steilen Abhang hinunter, durch nette Sträucher ohne Dornen. Ich blieb immer einen Schritt zurück und war zufrieden. Man muss nur so lange die Wahrheit sagen, bis einem alle die Lügen als Wahrheit abkaufen.