VI

Sobald ich draußen war und die Eingangstüre geschlossen hatte, holte ich mein Handy raus und wählte eine Nummer. Nach dreimaligem Läuten nahm Korkarian ab.

»Ja, bitte.« Er klang überhaupt nicht verschlafen. Vielmehr klang er nach einer guten Rasur, einem pergamentfarbenen Hemd, einem dunklen Zweireiher und einer dezenten Seidenkrawatte.

»Linder hier.«

»Aha, diese Linder. Und?«

»Sie hatten doch mal Interesse angemeldet, an so einem Notizbuch.«

Kurze Stille in der Leitung.

»Ja.«

»Kennen Sie den Schottenhof an der Amundsenstraße?«

»Das Gasthaus von Abu Talib?«

»Genau. Ich warte dort am Parkplatz auf Sie.«

»Warum?«

»Kein Warum. Kommen Sie mich holen. Sofort.«

»Gut.«

Er hatte aufgelegt. Ich ging von der Straße ab, rechter Hand bergab, durch einen Waldstreifen, auf eine der frisch gemähten, duftenden Wiesen. Im Osten hellte der Himmel auf, während im Westen noch ein paar Sterne auf dunkelblauem Untergrund standen. Die Wiese war sehr frisch gemäht, duftete nicht nach Heu, sondern mehr nach Klee und Honig, schwer und feucht. Ein wunderbares Parfüm.

Ich war im Laufschritt unterwegs, ein kleiner Fußweg war da ganz praktisch, bis ich zu einem Bächlein kam, das einen der Waldstreifen durchzog. Es war da keine Brücke. Aber da das Gras ohnedies nass war und deswegen meine Schuhe feucht, sprang ich einfach mit zwei großen Schritten durch.

Als der kleine Bach hinter mir lag, ging es ein wenig bergauf. Als ich ernstlich zu schnaufen begann, hatte die Topografie Wiens ein Einsehen mit mir und ließ mich wieder bergab marschieren. Wieder kam ein kleiner Bach, wieder musste ich durch, wieder ging es danach bergauf. Zwar nicht steil, aber stetig. Es quatschte in meinen Schuhen. Der helle Himmel im Osten war eine Hilfe, in der Nacht hätte ich mich garantiert verirrt, aber so war es recht leicht, den richtigen Wegen zu folgen. Als ich dann auf die Amundsenstraße hinauskam, dämmerte es schon richtig. In der kühlen Morgenluft dampfte ich richtiggehend. Alles ringsum, die Bäume, der Gasthof, die Straße, war grau und feucht.

Auf dem Parkplatz machte ich ein Auto aus. Elenas Fiat. Nein, der ihres Vaters. Ich ging darauf zu. Korkarian sah mich kommen, beugte sich herüber und öffnete die Tür. Der Motor lief schon. Drinnen war es warm, und eine träumerische, leicht melancholische Flötenmusik lief im Hintergrund. Sicher armenisch, der Sound, dachte ich mir. Über die Straße zogen ein paar Nebelschwaden, die hatte ich im dichten Wald gar nicht bemerkt.

»Also, was wollen Sie?«

»Ich dachte, Sie wollten was.«

»Haben Sie Buch hier?« In seinen Augen glitzerte es. Gott sei Dank hatte ich es nicht bei mir. Seine Rechte war verdächtig unter sein Jackett gewandert.

»Nein.«

»Wo haben Sie es?«

»Fahren wir los.«

»Wohin?«

»Fahren wir los.« Und wir fuhren. Zuerst die Amundsenstraße hinunter, durch Laubwälder und letzte Nebelschlieren, dann ein paar Hintergassen, die steilen Hügel hinauf. Schlussendlich hielten wir an einer kleinen Kreuzung. Ringsum nur Bäume, geflickter Asphalt und die Hintermauer des Sanatoriums auf der Baumgartner Höhe. Der Motor lief leise, die Musik klang gedämpft, und es war noch immer warm im Auto.

»Gut so, der Ort?«

»Perfekt. Wir wollen doch nicht, dass Kana plötzlich auftaucht.«

»Sicher nicht.«

»Was krieg ich dafür?«

»Tausend.«

Ich musste schmunzeln und ließ mir Zeit für eine Antwort.

»Schnell. Machen Sie schon. Wir haben keine Zeit für solche Spiele.«

»Warum?«, wieder ein bisschen gedehnt.

»Weil Sie Kana beklaut haben. Der glaubt nun, dass ich dahinterstecke. Der kommt zu mir mit seine Gorillas. Meine Tochter ist allein zu Hause. Müssen schnell sein.«

»Gar nichts glaubt der.«

»Wieso?«

»Weil ich ihm das ausgeredet habe. Der denkt alles Mögliche, aber niemals, dass ich für Sie arbeite.«

»Zuerst haben Sie ihn beklaut und dann mit ihm geredet? Sie sind dort geblieben, obwohl Sie die Papiere hatten, weil Sie eine falsche Fährte legen wollten?« Genau das war mein Plan gewesen. Kana konnte ich in den Verwicklungen nicht mehr gebrauchen. Es würde auch ohne ihn schwer genug sein, die Sache so zu schaukeln, wie ich mir das vorgenommen hatte.

»Genau.«

»Frech«, meinte Korkarian. Vielleicht war sogar ein kleiner Hauch Anerkennung in seiner Stimme zu finden. Jedoch eben nur vielleicht.

»Sicherlich war es frech, aber auch unvermeidlich. Sonst wäre der sofort bei Ihnen aufgetaucht.«

»Der wird sowieso kommen.«

»Denke ich auch. Nur haben wir so ein bisschen Zeit gewonnen.«

»Kann sein.«

»Sicher haben wir das.«

»Gutt.« Hinter seiner schönen Stirn ratterten die Gedanken. Leider ließ sich nicht sagen, welche.

»Wo isstes?«

»In Sicherheit.«

»Wie das? Ich denke, Sie kommen gerade von Kana?«

»Ich war nicht allein dort. Mein Partner hat es.«

Da kicherte Korkarian in sich hinein. Es fehlte nur noch, dass er sich die Hände rieb, dann wäre er wahrhaftig als Seelenhändler durchgegangen.

»Partner? Gebe Ihnen Rat, gratis.«

»Ich höre.«

»Gibt keine Partner.«

»Aus berufenem Mund.«

Er ignorierte die Stichelei und kam sofort wieder zum Geschäft zurück.

»Also, wie viel Sie wollen?«

»Kein Geld. Ich will die Unterlagen für das Konto auf den Caymans.« Cayman Islands, das klingt schon so nach Tropensonne und Piratenschätzen. Man müsste sich »Inseln im Strom« einpacken und ein bisschen Urlaub machen, vielleicht auch zu fischen anfangen. Aber ganz eigentlich stehe ich weder auf Sonne noch auf Sand zwischen den Zehen. Andererseits könnte man auch in Wien bleiben und Privatgelehrter werden. Den ganzen Tag in Bibliotheken und Cafés verbringen und dabei riesige Berge an unnützem Wissen anhäufen. Oder aber Laura. Ein aberwitziges Happy End mit uns beiden auf einem Riesenhaufen Kohle, eine nicht enden wollende Fahrt in den Sonnenuntergang. Aber zuvor müssten Kana und Korkarian in den Knast. Sonst müsste man immer ein paar Bodyguards im Gepäck haben. Auch nicht das Wahre. Korkarian unterbrach meine Fantasien.

»Woher wissen Sie von die Konto?«

»Ich bin irgendwann darüber gestolpert.«

»Hm.« Er grübelte. »Kann ich Ihnen nicht alles geben, geht nicht. Ich zahle Sie gut, wenn Sie mir das Notizbuch bringen. Ein Drittel des Kontos.«

»Wie viel wäre das?« Das war ein Fehler.

»Sie wissen gar nicht, wie viel Geld da draufliegt?«

»Keinen Deut. Ich weiß nur, dass es da ist und dass es üppig ist.«

Er kicherte wieder.

»Halbe Million, vielleicht auch ein bisschen mehr.«

»Für mich.«

»Für Sie.« Er fixierte mich. Genau der gleiche Blick, den auch seine Tochter draufhatte, damals im Kreditbüro. Wieder fühlte ich mich wie die Gazelle, die dem Löwen ins Auge blickt, nur diesmal nicht einem jungen, sondern einem alten, erfahrenen, den die Jahre schon ein wenig zu plagen beginnen.

»Also, nehmen Sie Angebot an?«

»Ich komme bei Ihnen um halb neun vorbei. Dann regeln wir das.«

»Gut.«

Ich nickte ihm zu, dann stieg ich aus. Der Fiat fuhr leise an. Die Reifen knirschten auf den Steinen des Bankette und schon war der Wagen hinter einer Ecke der Sanatoriumsmauer verschwunden. Die tiefhängenden dunkelgrünen Blätter der Eichen und Linden, die klare Luft und die grünmoosigen Ziegelsteine der Mauer erinnerten mich ein wenig an ein Märchen. Fast schien es sicher, dass sich hinter der Mauer kein Sanatorium befand, sondern der Zaubergarten der Hexe aus Jorinde und Joringel. Fast wäre ich stehen geblieben, um eine rote Blume zu suchen, mit einem Tautropfen im Kelch, um meine Liebste zu befreien. Das Märchen brachte mich auf eine Idee. Laura mochte sicher Blumen. Ein Vogel zwitscherte vergnügt in den Ästen, ich konnte ihm nachfühlen. Ein herrlicher Morgen.

Ein paar Minuten später saß ich im 48erBus Richtung Rudolfsheim-Fünfhaus. In den Wiener Linien machen Sommermorgen, auch wenn sie noch so schön sein mögen, deutlich weniger Spaß. Irgendwer isst immer eine Pizza, der Chauffeur ist immer schlecht drauf und der Schweißgeruch des letzten Tages geht über Nacht auch nicht weg. Nach dem Umsteigen war es nicht besser, und im 15. sind die Morgen einfach nicht so strahlend wie am Stadtrand. Dafür gibt’s mehr Autos und weniger Bäume und mehr Hundstrümmerl.

In der Märzstraße stand ich vorm Kotanko und trat ein. Drinnen war wie immer der Chef, vertieft in die Lektüre seiner Zeitung, sowie ein weiterer Trinker. Aber Kurti war nicht da. Genauso wenig wie die böhmische Schankmaid. An ihrer Stelle stand ein junges Mädchen, das ich noch nie gesehen hatte, hinter dem Tresen.

»Servas«, begrüßte mich der Chef. »Du suachst’n Kurti.«

»Genau.«

»Der wird erst kumman. Trink was, da vergeht die Zeit schneller.«

»Nein danke, bin in Eile. Wo wohnt der Kurti eigentlich?«

»Drüben in der Holochergass’n , vis à vis der Hintereinfahrt vom Sissi.«

»Danke.«

Mit Sissi war das Kaiserin-Elisabeth-Spital gemeint, nicht etwa ein Tschecherl oder ein Café. Ein paar Straßenüberquerungen später stand ich vor der Haustür. Auf dem Schild der Klingelanlage war Kurti schnell gefunden, ich kannte schließlich seinen Nachnamen. Ich klingelte.

Nach kurzem Warten rauschte es, und eine alte, belegte Stimme war zu hören.

»Ja.«

»Guten Tag, ich bin Arno, ist der Kurti da?«

»Der schlaft no. Kumm auffa, i weck eam.« Die Gegensprechanlage rauschte wieder und es war still. Dann summte der Türöffner.

Im Stiegenhaus war alles sauber und ordentlich, die Türmatten wirkten neuwertig und über allem schwebte eine Idee Schnitzelduft vom letzten Abendessen. Im zweiten Stock angekommen, klopfte ich. Hinter der Tür war ein Schlurfen zu vernehmen, es klackte, als Riegel weggeschoben wurden, und schließlich stand eine winzige alte, verhutzelte Frau vor mir. Sie trug eine blaue, geblümte Hausschürze, die Haare streng nach hinten gebunden, wahrscheinlich in einem schönen Zopf.

»Du bist der Arno?«

Sie artikulierte ein wenig undeutlich, was daran lag, dass sie entweder ihre Zahnprothese nicht trug oder gar keine hatte. Auf ihrem Kinn sprossen drei schwarze Haare. Die blauen Augen, obwohl schon ein wenig alterstrüb, fixierten mich scharf.

»Genau.«

»Kumm eina. Da Kurti is glei do.«

Die Wohnung war winzig, ein Wohnzimmer mit zerwühltem Tagesbett, eine Küche mit Dusche und eine weitere Tür, die in das Kabinett führte, wo wahrscheinlich die alte Frau schlief. In der Küche plätscherte Wasser, Kurti wusch sich wohl gerade. Insgesamt maß die Wohnung vielleicht 40 Quadratmeter. Alles war penibel sauber. Es gab ein kleines Regal mit ein paar Büchern drin, einen kleinen Schrank mit dem guten Porzellan, wahrscheinlich neben Kurti der ganze Stolz der alten Frau, und einen Tisch mit vier Stühlen. Auf dem Tisch war ein Frühstück vorbereitet. Eine weiße Kaffeekanne, ein kleineres Kännchen mit Milch und ein geflochtener Korb mit schönen, blonden Semmeln, runden und langen. Butter war da, ebenso ein kleiner Tiegel mit Marmelade. Die alte Frau klappte das Tagesbett hoch und wies mir einen Platz zu. Danach legte sie mir ein Gedeck auf und kurz darauf kam Kurti herein. Sein Haar war noch nass und er trug nur ein Unterhemd.

»Zzzzt«, zischte seine Mutter leise und deutete hinter meinen Rücken, sofort knöpfte sich Kurti sein Hemd zu und setzte sich vollständig angezogen mir gegenüber an den Tisch. Die Mutter links neben mich. Von meinem Platz aus sah ich zum Fenster hinaus in einen Hof. Grau in Grau. Doch im Fenster zwischen den Doppelscheiben stand ein kleines Blumenbeet mit Stiefmütterchen. Die Pflanzen wirkten glücklich und zufrieden, obwohl mir nicht klar war, woher sie ihre Sonne kriegten.

Ich bekam eine runde Semmel auf meinen Teller, Kurti eine lange, und uns wurde Kaffee eingeschenkt. Dass ich keine Milch drin haben wollte, wurde nicht gehört. Auch bekam ich nur einen Löffel Zucker aus der Silberdose. Dafür musste ich meine Semmel selber schmieren, während Kurti seine geschmiert bekam.

Das Ganze war ein Ritual. Solange keine Atombombe auf Wien fiel oder der alten Dame keine Ader im Gehirn platzte, würde es so weitergehen. Tag für Tag. Immer mit derselben Sorgfalt und Genauigkeit und all der Liebe, die sich darin ausdrückte. Ich konnte für einen Moment hinter den Schein der Wirklichkeit linsen, sah Kurti mit kurzen Hosen und Lausbubenlocke, dann mit blauen Jeans und Rockertolle, die Jahre und Gestalten zogen an mir vorüber. So hatten sie dagesessen am Tag der Mondlandung, beim Regierungsantritt Kreiskys, der Einführung des Euros. Ich sah die alte Frau auch allein neben dem gedeckten Tisch sitzen, dann, wenn Kurti im Gefängnis gewesen war. Kein schönes Bild.

Während wir unsere Semmeln aßen und den Kaffee tranken, er war stark und malzig, saß die alte Frau neben uns. Sie aß nicht mit, hatte für sich selbst nicht einmal ein Gedeck aufgelegt.

»Mutti, lasst du uns kurz alleine? Wir müssen reden.«

»Sicher, Kurti.«

»Danke.«

Sie schenkte uns Kaffee nach, legte jedem von uns eine zweite Semmel auf den Teller und verschwand dann in der Küche.

»Brauchst gar net fragen, i hob des Notizbiachl. Aber du kriagst’s net.«

»Warum?«

»Da geht’s um an Haufen Marie.«

»Blödsinn.«

»Sicha.«

»Kurti, du hast keine Ahnung. Sei vernünftig, gib mir das Buch und du kriegst was von meinem Honorar.«

»Wie vü is des?«

»1.500 Euro.«

»Für mi?«

»Nein, das ist mein Honorar. Meine Miete bis Silvester.«

»Hupf in Gatsch.«

Kurti biss in die Semmel. Ich trank einen Schluck vom Kaffee. Gar nicht schlecht.

»Mehr kann ich dir nicht anbieten.«

»Für des Oizerl mach i des net. I hab die Villa gseng. Des Biachl is a runde Million wert. Wahrscheinlich mehr.«

»Sei vernünftig, Kurti. Zwing mich nicht, hart zu werden. Wenn alles gut geht, kriegst du deinen Teil. Ganz sicher.«

»Darauf gib i nix.«

»Hast du das Notizbuch da?«

»Schau i so bled aus in da Frua?«

»Keineswegs.«

»Eh.«

»Letzte Chance.«

»Hupf in Gatsch.«

Darauf war nichts mehr zu sagen. Schließlich wusste ich auch so, wo er das Ding aufbewahrte. Die verliebten Blicke der Bedienung im Kotanko waren mir nicht entgangen. Vor allem aber nicht, dass ihr Kurti Feuer gegeben hatte. So was machte er nicht zum Spaß. Wo die Frau wohnte, würde sich ohne Probleme herausfinden lassen. Genüsslich schmierte ich mir die zweite Semmel mit Margarine, denn die Butter war gar keine, und aß sie auf. Dazu trank ich den Kaffee. Schließlich kam die Mutter wieder herein und räumte ab. Ich verabschiedete mich, bedankte mich höflich und ging.