VII

Draußen auf der Straße brummten die Verbrennungsmotoren ihren frühmorgendlichen Paarungsgesang, ich drückte mich in einen Hauseingang und telefonierte.

»Moratti, Kripo Wien.«

»Guten Morgen.«

»Ah, der Herr Doktor. Und wie wars? Wir warten schon die ganze Nacht auf Ihren Anruf.«

»Hat alles geklappt, das Notizbuch ist da und muss nur mehr abgeholt werden.« Es knackte ein wenig in der Leitung. Ich nahm an, dass Moratti auf den Freisprechknopf drückte, damit seine Chefin mithören konnte. Seltsamerweise scheint es so zu sein, dass bei der Polizei immer der B-Mann telefoniert und der Alpha-Beamte zuhört.

»Inklusive aller Seiten?«

»Aller Seiten? Soweit sich das sagen lässt, ja. Ich hatte nicht viel Zeit reinzuschauen.«

»Reden Sie keinen Scheiß, komplett oder nicht, das ist hier die Frage.«

»Sicher komplett.«

Es wurde still am anderen Ende der Leitung. Die beiden berieten sich. Dann wieder Moratti.

»Gut, bringen Sie es, so schnell Sie können, vorbei.«

»Das wird ein wenig dauern, fürchte ich.«

»Gar nichts wird das. Um acht Uhr liegt es auf meinem Schreibtisch.«

»Das geht sich vielleicht aus, aber sicher nicht, wenn ich es Ihnen bringe.«

»Was ist los, sind Sie im Krankenhaus?« Passenderweise fuhr gerade ein Rettungswagen mit Blaulicht vorbei. Ich musste grinsen, denn im Telefon hörte ich die Molnar fragen: »Ist ihm was passiert?«, und Morattis Antwort: »Nein, glaube nicht.« Die beiden klangen ein bisschen nervös. Dann wieder zu mir. »Also, was spielt sich da ab?«

»Sie müssen das Buch selber holen.«

»Warum?«

»Weil mein Partner mich übers Ohr gehauen hat.«

»Wir hatten nichts von einem Partner gesagt. Sind Sie wahnsinnig geworden, wissen Sie, was das bedeutet, wenn das rauskommt, Sie Fallott!« Aufgeregt verfiel Moratti wieder in seine heimatliche Ausdrucksweise, die mit den Schneegipfeln in den Vokalen und den gefällten Baumstämmen bei den Knacklauten. Wieder ein Geräusch am anderen Ende der Leitung. Die Molnar.

»Was ist da los? Warum haben Sie jemanden hinzugezogen?«

»Weil der eine echte Koryphäe ist und so alles viel sicherer vonstatten gegangen ist, als ich das hätte durchführen können. War sicher in unserem Interesse.«

Da musste ich ausweichen, weil eine junge Mutter mit Kinderwagen und einem weiteren Sprössling zur Tür hinaus wollte, die ich blockierte. Im Wagerl saß ein Mädchen in Rosa, mit Maschen im Haar. Ihr Bruder, ein bisschen älter, vielleicht 4, ging alleine. Er hatte ganz dunkles, gelocktes Haar, große dunkle Augen und schmale Lippen. Er starrte mir unentwegt tief in die Augen. Die Mami schien sehr jung zu sein, mit Ganzkörperkutte und Kopftuch. Das Kopftuch in strahlendem Silberrosa und die Kutte in unterwäschefreundlichem Hauteng. Die Kleidung war viel, aber sicher nicht puritanisch. Selbstbewusst schupfte sie mich mit dem Kinderwagen beiseite. Ich murmelte eine Entschuldigung.

»Was soll das?«

»Passanten.«

»Ach so.« Pause. »Weiter.«

»Der bewusste Partner hat jetzt das Notizbuch.«

»Wie konnten Sie nur so blöd sein, sich übers Ohr hauen zu lassen.«

»So blöd war ich nicht. Damit hab ich gerechnet gehabt. Ist so auch viel praktischer.«

»Warum?« Sie grübelte kurz. »Wir verhaften ihn und müssen keine unangenehmen Fragen beantworten, woher wir das Ding haben.«

»Genau.«

»Gut. Adresse.«

»In der Holochergasse.« Keine Reaktion. Ich nannte die ganze Adresse und den kompletten Namen. Noch immer keine Reaktion.

»Noch nie von Kurti gehört?«

»Nein.«

»Fragen Sie mal die älteren Kollegen.« Damit legte ich auf. Schritt eins und zwei hatten geklappt. Nun hieß es Daumen halten und weitermachen. Das Weitermachen führte mich zurück zum Kotanko. Beim Eintreten bestellte ich einen großen Mokka und bekam ihn diesmal ohne den Schnaps dazu, denn der Chef war nicht da.

»Der Kurti war nicht zu Hause«, meinte ich zum neuen Mädchen hinter der Bar, sie war vielleicht 16.

»Net?«

»Nein.«

»Komisch.«

»Vielleicht ist er bei seiner Freundin.«

»Hat er kane Gspusi.«

»Sicher, wo wohnt denn die Bedienung?«

»Ich wohne hinten, am Kirche«, antwortete das Mädchen hinter dem Tresen frech. Sie war Rumänin. Und hübsch.

»Nein, ich meine diejenige vom letzten Mal.«

»Die Ira, wohnt sie gleich vis à vis. Nummer 11.«

Ich trank den Kaffee aus, bezahlte und ging. Sobald ich draußen war, hetzte ich über die Straße und klingelte. An allen Knöpfen. Eine Sekunde später summte der Türöffner und in der Gegensprechanlage tobte ein Orkan aus tausend Stimmen und ebenso vielen Sprachen. Ich wette, nicht einmal Beelzebub persönlich kennt so viele Flüche. Drinnen eilte ich die Treppen hinauf, bis ich vor Nummer 11 stand. Die Tür war zu. Verschlossen. Das machte nicht viel, denn sie bestand aus zwei Flügeln. So eine hatte ich auch einmal gehabt. Ich lehnte mich gegen den Türknauf, drückte ihn fest nach oben, so dass sich die Tür ein wenig anhob, dann warf ich mich mit aller Kraft gegen den zweiten Flügel. Ein Knacksen, unisono Tür und Schulter, ein bisschen Schmerz, denn blöd wie ich bin, hatte ich wieder die Schulter erwischt, die schon den Sturz aus dem VW aufgefangen hatte. Die Tür war offen. Lebe und lerne, heißt es. Oder doch lebe und leide? Egal, beides hat was.

Jedenfalls war ich drin. Die Wohnung, soweit ich sehen konnte, schien ein gemütliches Chaos zu sein. Helle Farben, viel schönes Allerlei, es roch gut und alles wirkte fröhlich. Überall Topfpflanzen. Plötzlich stand eine Frau vor mir, nackt. Sie war nie im Leben Ira. Ich hatte die falsche Türe geknackt. Die Frau schien noch nicht ganz wach zu sein und sah mich fragend an.

»Wohnt hier nicht Ira?«

»Ira?«

»Ja.«

»Sicher.« Sie drehte sich um, öffnete eine Tür, rief: »Ira« hinein und verschwand wieder hinter einer anderen. Ich ging zu der Tür und schaute in das Zimmer hinein. Eine Matratze am Fußboden, mit dottergelber Bettwäsche bezogen, ein wohlgefülltes Bücherregal, das sehr gelesen wirkte und ein Nachttisch. Auf dem Nachttisch, neben einer Lampe, das Notizbuch. Unter den Kissen kam Iras Schopf zum Vorschein. Sie blinzelte sich den Schlaf aus den Augen. Ich schnappte mir das Notizbuch, warf ein fröhliches »Guten Morgen« hin und machte mich wieder auf und davon. An der Tür steckte innen der Schlüssel, ich sperrte das Schloss auf und ging. Ich raste die Treppen hinunter wie die wilde Jagd, vorbei an Parteien, die sich im Gang etwas zuschrien. Wahrscheinlich wegen meines Klingelns. Niemand aber vermutete mich hinter dem Tumult. Draußen überquerte ich die Straße und ging in den Reithofferpark. Dort ruhte ich ein wenig aus und schnaufte durch. Schritt drei hatte auch geklappt. Bis auf ein paar Tauben war ich allein. Ich holte mein Handy raus.

»Hi, Reichi. Schon wach?«

»Noch nicht so ganz. Warum?«

»Noch Lust auf den Seelendeal?«

»Sicher.«

»Dann sei so schnell wie möglich am Reithofferpark. Ecke Märzstraße. Dort ist das Institut.«

»Gut.«

»Aber beeil dich, last call.«

»Alles klar. Viertelstunde vielleicht.«

»Gut.«

Ich legte auf. Nun musste ich nur mehr warten, bis Reichi auftauchte, dann konnte Schritt vier gestartet werden. Allein zu Korkarian zu gehen, war keine gute Idee, der Mann hatte eine Knarre und ich wollte kein Loch im Bauch. Zur Not wäre die Kripo auch in Reichweite. Aber das war nur der letzte Rettungsstrick, denn dann könnte ich mir das Konto abschminken, doch besser arm und am Leben als reich und tot.

Von der Gier getrieben und auf den Schwingen des Schicksals reitend, war Reichi keine 20 Minuten später eingetroffen. Ich beobachtete aus den Büschen, wie er die Straße überquerte und ins Kreditbüro eintrat. Ich folgte ihm, schaltete mein Handy auf lautlos und trat ebenfalls ein.

Reichi saß Korkarian gegenüber, am selben Platz, auf dem auch ich gesessen hatte. Korkarian bemerkte mich sofort, und alles andere war für ihn in diesem Moment Luft. Er bemerkte den überraschten Gesichtsausdruck von Reichi nicht. Nach einer Zehntelsekunde hatte sich Reichi wieder unter Kontrolle, für einen alten Pokermeister kein Problem. Korkarian war aufgestanden und auf mich zugekommen.

»Ich hab was für Sie.«

Korkarian deutete mit seinem Kopf auf Reichi.

»Habe momentan eine Kunde.«

»Gehen wir nach hinten.«

»Gut.«

Er drehte sich um und ging. Ich folgte ihm. Hoffentlich hielt ihn Reichis Anwesenheit davon ab, von der Kanone unter seinem Anzug Gebrauch zu machen. Das Hinterzimmer wurde von einem Kopierer und einem Fax beherrscht. Metallregale enthielten Papierpacken, Druckertoner und sonstigen Bürobedarf. Auch Akten gab es.

Ich legte das Notizbuch von der Schauberger auf den Kopierer. Es war leicht zu bemerken, wie Gier und Vernunft in Korkarian miteinander stritten. Es schien die Vernunft zu siegen.

»Finfhunderttausend. Letztes Angebot.«

»Mehr ist Ihnen das Leben Ihrer Tochter nicht wert?«

Seine Lippen formten Worte, die ich weder hören noch verstehen konnte.

»Ich hetze Kana auf die schöne Elena. Sie ist ein Druckmittel, genau nach seinem Geschmack.«

Wieder formten sich lautlose Worte auf seinen Lippen. Dann zog er die Kanone. Ganz kurz blieb mein Herz stehen. Nun trat er einen Schritt zurück, fummelte an seiner Weste und holte einen Schlüssel heraus. Mit einem Auge und der Knarre fixierte er mich, mit dem anderen den Safe. Er schloss auf. Ohne hinzusehen, zog er eine Aktenmappe heraus. Die legte er neben das Notizbuch, den Tresor schloss er mit der Schulter. Langsam griff ich mir die Mappe, er sich das Notizbuch. In der Mappe befanden sich alle auf den ersten Blick nötigen Informationen. Mehr ließ sich im Augenblick nicht feststellen.

»Ich brauch noch was.«

»Was?« Er spie das Wort förmlich aus.

»Eine der Akten, viel sollte drin sein, aus dem letzten Jahr vielleicht, aber Unverbindliches, das Sie verschmerzen können.«

»Nehmen Sie eine von die Regal.« Das tat ich auch, schließlich wollte ja auch Mutter Kirche Resultate sehen.

Ich trat zur Tür, öffnete sie, noch immer zu ihm gewandt.

»Dann ist ja alles klar. Auf Wiedersehen.« Damit ging ich an Reichi vorbei, hinaus auf die Straße. Mich fröstelte, denn mein Hemd war nass, meine Socken waren nass und meine Hände hinterließen Schweißabdrücke auf der Aktenmappe. Cayman Savings & Loans stand drauf. Eine Palme und ein Anker waren auch zu sehen. Das Logo sah irgendwie aus wie eine Piratenfahne.

Draußen war ich noch keine zehn Meter gekommen, mit weichen Knien und einem mulmigen Gefühl im Bauch, als auch schon mein Handy sein Recht einforderte. Es war Moratti, wieder einmal im Testosteron-Modus.

»Linder, Ihr Mann hat das Notizbuch überhaupt nicht. Er ist auch keineswegs bereit, eine Aussage zu machen.«

»Soso.«

»›Soso‹? Wissen Sie was, Sie mit Ihrem ›Soso‹ …«

»Kann ich mir vorstellen. Haben Sie eine Schmuckkassette sichergestellt und ein bisschen Bargeld?«

»Ja?«

»Gut, dann kann man wenigstens den Einbruch nachweisen.«

»Einbruch? Na und. Wir wollen Kana.«

»Ist mir durchaus klar. Wenn mein Mann es nicht hat, dann Korkarian. Das ist der Widersacher von …«

»Kana, wissen wir. Wo sitzt der?«

Ich nannte die Adresse. »Und beeilen Sie sich.«

Aber Moratti hatte schon aufgelegt. Ich setzte mich auf eine Parkbank, und zwei Minuten später sauste ein Wagen am Reithofferpark vorbei, ganz sicher mit erheblicher Geschwindigkeitsübertretung, und kam mit quietschenden Rädern vor Korkarians Büro zum Stehen. Mitten auf dem Gehsteig. Molnar und Moratti sprangen heraus. Moratti hatte schon eine Knarre in der Hand, Molnar ein Handy. Es war wie im Kino, mir fehlte nur noch das Popcorn. Leider war ich nicht mit dabei. Es war auch so unerhört spannend. Dann kam Molnar raus, hinter ihr Korkarian, mit gefesselten Händen, und hinter ihm Moratti. Molnar hatte das Notizbuch in der Hand. Mittlerweile waren zwei Streifenwagen dazugekommen, und als ich Reichi unbeschadet davonschleichen sah, gab ich meinen Beobachtungsposten auf und ging betont schuldlos davon. Mit unheimlich viel Geld unter dem Arm.