I

Es war vollbracht. Alles hatte geklappt, so wie ich mir das ausgerechnet hatte. Nun saß ich mit einer Kanne Sencha und der Aktenmappe in meinem Büro. Draußen herrschte die grimmige Mittagshitze uneingeschränkt, darum waren auch die Jalousien heruntergelassen. Im Halbdunkel vor mir auf dem Schreibtisch lagen grob geschätzte 300 Gramm Papier schlechtester Qualität. Aus den Plastikboxen auf dem Fensterbrett klang Bach an mein Ohr. Wohltemperiertes Klavier, gespielt von Glenn Gould und seinem quietschenden Sessel. Den Sessel hatte einst sein Vater für den kleinen Glenn gebaut, nun war er der Schrecken sämtlicher Toningenieure. Auch egal, vor mir lag Geld. Richtig viel Geld.

Ich befeuchtete mir den rechten Zeigefinger und begann in den Unterlagen zu blättern. Ich war so aufgeregt, dass mir die Sätze vor den Augen verschwammen. Es war alles da, der Vertrag samt Kleingedrucktem, je kleiner, desto mehr, schien mir, Kontoauszüge und Zugangsdaten. Ich begann ganz langsam den Vertragstext durchzusehen, konnte mich jedoch überhaupt nicht konzentrieren. Also ließ ich es bleiben und besah mir die Zugangsdaten. Aber auch da war nichts auszurichten. Ich blätterte eine leere Seite um und dahinter begannen die Nullen. Ein paar hinter dem Komma, doch die waren mir egal. Die vor dem Komma waren zahlreich und hatten anscheinend die Familie mitgebracht. Ich zählte. Schüttelte ungläubig den Kopf. Zählte noch mal und konnte das Resultat nicht glauben. Nachdem ich zum dritten Mal gezählt hatte, beschloss ich, es einfach hinzunehmen, dass auf dem Konto ein achtstelliger Betrag geparkt war, der keine Eins vorne stehen hatte. Ich schenkte mir Sencha nach, ließ ihn auf der Zunge und schmeckte genießerisch. Der Bach-Gould-Sessel-Sound perlte klar und logisch durch den Raum. Dann schnappte ich mein Notizbuch und schrieb auf eine Seite den Kontostand. Zweihundertunddrei Millionen Euro. Dann in Zahlen. 203.000.000. Ich beschloss, mich von nun an reich zu fühlen. Wirtschaftskrise, Inflation und Arbeitslosigkeit sollten bloß kommen, ich war vorbereitet.

Mein Handy klingelte. Ich nahm ab.

»Arno, du Arsch, was hast du da abgezogen? Ich will einen Anteil.«

»Reichi, du hast doch die 500 Euro?«

»Ist sich gerade noch ausgegangen.«

»Fein, freut mich zu hören. Mehr ist da nicht drin.«

»Blödsinn, irgendwas sind die Akten, die du da rausgeschleppt hast, doch wert.«

»Nicht für uns.«

»Aber für deinen Auftraggeber.«

»Schon, aber der zahlt mir vielleicht 1500, so gesehen hast du eh ein Drittel gekriegt.«

»Dein Gesichtsausdruck hat mich an Cortéz in Caxamalca erinnert, als du da aus der Kammer rausgekommen bist.«

»Ich glaube, das war Pizarro in Peru. Aber egal, schau, Reichi, du hast die 500, ist doch auch was, oder? Ich hätt dich auch einfach nicht einweihen können.«

»Ganz glaub ich dir nicht.«

»Ich versorg dich und du wirst misstrauisch.«

»Mag’s nicht, wenn man mich als Lockvogel einspannt.«

»Das war unschön, geb ich zu, jedoch nicht zu vermeiden. Sonst hättest du den Deal nicht mehr abschließen können. Außerdem, bedenk den Aufwand, so leicht wirst du nicht mehr so schnell 500 Euro verdienen. Und du warst erster Hand bei einer Verhaftung dabei.«

»Hast auch wieder recht.«

»Wegen der unschönen Komponente lad ich dich nächster Tage zum Abendessen ein. Entschuldigung angenommen?«

»Ok.«

»Wir hören uns.«

»Tun wir.«

Das war knapp gewesen, Reichi kann Kohle durchs Telefon riechen, auch bei schlechten Verbindungen. Da ich das Telefon schon in der Hand hielt, beschloss ich, gleich die nächste Sache hinter mich zu bringen.

»Hi, Arno.«

»Servus, Erich, stör ich beim Mittagsmahl?«

»I wo, zuhören und kauen ist gleichzeitig kein Problem.«

»Fein. Also, es liegt alles bei mir, man muss es nur mehr holen kommen.«

Kaugeräusche.

»Genaueres bei Abholung.«

Schluckgeräusche.

»Bin den ganzen Nachmittag im Büro.«

Kultiviertes Schmatzen, dann eine Antwort.

»Besser woanders. Gegen sechs im Sperl.«

»Bin dort. Sitz drinnen.«

Kaugeräusche und schließlich Stille. Erich hatte aufgelegt.

Eigentlich hatte ich nun vorgehabt, den versäumten Nachtschlaf nachzuholen. Aber ich war so aufgewühlt, dass an Schlaf überhaupt nicht zu denken war. Im Sessel war es unbequem, auf dem Boden hart und mit der Matratze zu heiß. Außerdem war sowieso noch etwas zu überprüfen. Zuerst verstaute ich den kostbaren Akt im Schrank, unter den Sitzungsprotokollen der Philologen-Tagung in Lausanne anno 73, da würde niemand nachsehen. Den Aktenordner für Erich legte ich einfach im Schreibtisch ab. Nach einer kurzen Katzenwäsche sperrte ich ab und verließ die Uni, wieder Richtung Westen, nach Ottakring hinaus.

Wenn irgend möglich, war es oben am Flötzersteig diesmal noch heißer als das letzte Mal. Das Plakat der Ottakringer Brauerei hing immer noch neben der Bushaltestelle. Nur ein Haufen Hundekot schien neu hinzugekommen zu sein. Wieder stieg ich die Böschung hinauf und ging zur Kleingartensiedlung.

Neumanns Schlachtschiff in Türkis stand am selben Platz wie letztens, daneben saß seine Frau. Diesmal trug sie einen bananengelben Bikini und war in der Zwischenzeit noch ein bisschen brauner geworden. Ansonsten war alles exakt so wie beim letzten Mal. Ich nickte ihr zu, was sie nicht einmal ignorierte, und trat an den Gartenzaun. Drinnen saß Neumann, in Badehose und mit Flinserl im Ohr, ruhig im Schatten. Er erkannte mich sofort und bat mich herein. Als ich saß, legte er seine Zeitung beiseite und fragte mich: »A a Bier?«

»Gerne.«

Er stand auf, ging in den Schuppen und kam mit zwei gelben Bierdosen zurück.

»Zum Wohl.« Er knackte seine und trank lautstark. Meine Dose war eiskalt und das Kondenswasser perlte an ihr herab. Ich nahm auch einen Schluck. Das Bier war tatsächlich eiskalt.

»Nicht mehr lauwarm aus der Regenrinne?«

»Wir haben jetzt einen neuen Kühlschrank.«

»Praktisch.«

»Genau.«

»Tut mir leid wegen Buehlin.«

»Ja, is a tragische Gschicht.«

»War die Beerdigung schon?«

»Vorgestern.«

»Schade. Sonst wär ich gekommen.«

»Es warn eh nur mia und da Hausser da. Außerdem wars e vü z’haß. War ka schene Leich.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Genau, der Kenner stirbt im Mai.«

Ich nahm noch einen Schluck aus der Dose.

»Bei der Sommerhitzn fangens vül z’schnell zum Safteln an, die Leichen. Dann stinkns grauslich. Mei Schwiegamutter hat’s letztes Jahr im August dablasn.«

Er hatte zuerst einen Blick auf seine Frau geworfen und dann geflüstert. Schließlich nahm er einen Schluck aus der Dose.

»War net schen, weils scho a paar Tag in der Wohnung glegn is. Den Spannteppich hamma aussareißen miassn, war urdentlich teuer.«

Ich nickte mitfühlend.

»Die Schwigamama war im Leben wia im Tod a Kretzn.«

Er nahm noch einen Schluck.

»Glauben Sie das mit dem Selbstmord?«

»Bei Buehlin?«

»Sicher.«

»Waaß net. Mir hamma telefoniert, kurz davor. Er war ganz panisch.«

»Was hat er gesagt?«

»Der übliche Schmarrn wegen seina Maschin. I hab versuacht, ihn zu beruhigen. Aber hat anscheinend net g’hulfen. Wenn ma an Menschen so lang kennt und alles …« Er verstummte. Schaute über die grünen Hügel nach Westen. »Vielleicht wars eh besser so. Schuldig fühlt ma sie doch imma.«

Ich nickte stumm.

»Wenn a Freund stirbt, des is a schwere Last.«

Wir blieben noch ein bisschen bei dem Thema, als dann mein Bier aus war, verabschiedete ich mich und ging. Die Sonne brannte mir auf den Rücken, den ganzen Weg die Steinbruchstraße hinunter. Wenigstens wusste ich jetzt, wo Buehlins Maschine geblieben war.