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Ihre Waden brannten und ihre Lunge schien im nächsten Moment zu explodieren. Außerdem schwitzte sie wie ein Schwein und war vermutlich knallrot im Gesicht. So fühlte es sich auf jeden Fall an.

Ganz bestimmt gab Summer ein ziemlich armseliges Bild ab, wie sie auf dem Stepper trainierte, sich dabei schrecklich unkoordiniert anstellte und bereits nach fünf Minuten das Handtuch werfen wollte. Sie hasste Sport und fühlte sich in ihre Highschoolzeit zurückkatapultiert, als ihre alte Sportlehrerin sie drangsaliert hatte, indem sie Summer dazu zwang, Runden über den Sportplatz zu laufen oder Turnübungen zu machen, bei denen sie sich fast die Schulter ausgerenkt hatte. Nur war es dieses Mal Summer, die sich selbst drangsalierte, indem sie das Gym von Hailsboro betreten und sich dort auf diesen Stepper gestellt hatte. Früher waren Menschen in Kerkern gefoltert worden. Heute erledigten das moderne Fitnessgeräte. Davon war sie überzeugt.

Summer biss die Zähne zusammen. Zumindest zehn Minuten musste sie es schaffen, auf diesem Stepper zu trainieren. Nur ein paar Geräte weiter joggte Mr. Arlington fröhlich auf einem Laufband und der gute Mann war einige Jahrzehnte älter als sie. Die Blöße wollte und konnte sie sich nicht geben, schon jetzt schlappzumachen, während ein sehr viel älterer Mann problemlos eine Meile nach der anderen joggte.

Wahrscheinlich konnte man ihr Keuchen bis in die Umkleide hören.

Das hier war eine wirklich dumme Idee gewesen, aber Summer hatte ihren inneren Schweinehund endlich besiegen und etwas gegen die zusätzlichen Pfunde tun wollen. Sport war ihr wie eine gute Möglichkeit erschienen, endlich das Thema Abnehmen anzugehen. In ihrer Vorstellung hatte sie sich bereits ausgemalt, wieder in ihren Rock zu passen und sich sogar ein paar neue Kleidungsstücke kaufen zu können. Sie hatte sich vorgestellt, in engen Wrangler Jeans und einem bauchfreien Top herumzulaufen und ihren knackigen Hintern zu präsentieren, von dem sie bisher nur träumen konnte. Ihr Hintern war noch nie knackig gewesen.

Nicht wie der von Sally Kowalski.

Sally hatte einen knackigen Hintern und schlanke Beine und einen flachen Bauch. Sie war eine richtige Sexbombe, die weder den Bauch einziehen musste noch Probleme hatte, ihren Hintern in eine Jeans zu quetschen. Sally musste sich keine Sorgen um Cellulite oder den Kaloriengehalt ihrer Drinks machen, weil sie eine beneidenswerte Figur hatte, nach der sich Männer umdrehten, wenn sie Teds Kneipe betrat. Zwar wäre Summer klamottentechnisch etwas zurückhaltender, wenn sie Sallys Figur hätte, und würde einen Rock anziehen, der auch wirklich die Bezeichnung Rock verdiente und breiter als zehn Zentimeter war, dennoch hätte Summer ihr gerne ein paar Kilogramm abgegeben.

Wenn sie an gestern Abend dachte und daran, wie heiß Sally in diesem winzigen Rock und dem noch winzigeren Top ausgesehen hatte, sackte Summers Stimmung in den Keller. Eigentlich hatte sie einen lustigen Mädelsabend mit Cassidy und ein paar anderen Freundinnen verbringen wollen, war aber schließlich deprimiert und ziemlich geknickt nach Hause gegangen. Ihre erste Amtshandlung am heutigen Morgen war die Anmeldung im hiesigen Gym gewesen, wo sie gleich einen Kreislaufkollaps bekommen würde.

Dummerweise ging ihr nicht aus dem Kopf, wie Officer Dylan Walker mit Sally an der Theke geflirtet und mit ihr gescherzt hatte, während sie selbst Luft für ihn gewesen war.

Als Summer Teds Kneipe betreten hatte, hatte Dylan bereits an der Theke gesessen und mit Hugh Lindsay geredet. Sie war ihm überhaupt nicht aufgefallen, dabei hatte sie ständig in seine Richtung geschaut und dabei gehofft, dass keiner der anderen Frauen auffiel, wie verzweifelt sie darum bemüht gewesen war, die Aufmerksamkeit des blonden Cops auf sich zu lenken, der in einem Paar verwaschener Jeans und einem schlichten weißen T-Shirt unter einem ebenso verwaschenen Jeanshemd zum Anbeißen ausgesehen hatte. Wie er mit der knapp bekleideten Sally gelacht hatte, hatte Summer einen Stich versetzt, dabei kannte sie Dylan kaum. Sie hatte keinerlei Anspruch auf ihn oder gar einen Grund, eifersüchtig zu sein.

Mittlerweile war sie davon fest überzeugt, sich bei ihrer ersten Begegnung lediglich eingebildet zu haben, dass er Interesse an ihr haben könnte und mit ihr geflirtet hatte. Frauen wie Sally waren viel eher sein Typ – schlanke, durchtrainierte und nicht an Cellulite leidende Frauen.

Nachdem er gestern Teds Kneipe verlassen hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, ihren faulen Hintern hochzubekommen und mehr auf ihre Ernährung zu achten. Deshalb stand sie jetzt mit hochrotem Kopf auf einem Stepper und hatte bisher lediglich eine trockene Reiswaffel gegessen. Vermutlich war ihre Laune aus diesem Grund auf dem Tiefpunkt.

Nach genau acht Minuten und zwanzig Sekunden warf sie das Handtuch und kletterte mit wackeligen Beinen vom Stepper. Verschwitzt und desillusioniert hatte sie für heute genug. Diese Meinung verstärkte sich, als Sally Kowalski in Hotpants und einem fast durchsichtigen Top das Gym betrat, als wäre sie hier zu Hause, und anschließend fröhlich einen der Crosstrainer belegte. Sie würde ganz bestimmt länger als acht Minuten und zwanzig Sekunden durchhalten. Da war nicht einmal die Tatsache, dass Sallys Haar ziemlich spröde war und ihr Ansatz unbedingt eine frische Tönung vertragen hätte, ein kleiner Trost.

Summer hatte sich eigentlich vorgenommen, eine ganze Stunde zu trainieren, dann hier zu duschen und anschließend noch in den Supermarkt zu fahren, um ihren freien Tag so produktiv wie möglich zu gestalten, aber sie hatte genug und holte lediglich ihre Sporttasche aus der Umkleide, bevor sie sich in ihr Auto setzte und in ihre Wohnung fuhr. Jetzt gerade wollte sie sich einfach nur noch in ihren vier Wänden verkriechen, sich aufs Sofa legen und eine Familienpackung Eiscreme vertilgen. Die würde nun auch nicht mehr ins Gewicht fallen.

Wortwörtlich.

Leider wurden ihre Pläne torpediert, denn gerade als Summer mit ihrer Dusche fertig war, sich angezogen hatte und in der Küche auf der Suche nach einem kalorienhaltigen Seelentröster war, klingelte es an ihrer Tür.

„Hey“, begrüßte Cassidy sie und schenkte ihr ein breites Lächeln. Neben ihr stand der Kinderwagen, in dem der kleine Charly lag und seelenruhig schlief, während seine Mom fröhlich plapperte: „Charly und ich wollten dich abholen, um mit dir spazieren zu gehen. Ich weiß, dass Kate heute diese fantastischen Zitronentörtchen gebacken hat, die dir so gut schmecken, und da du freihast, wollte ich dich zu einem kleinen Kaffeeklatsch einladen. Cameron begleitet Claras Kindergartengruppe auf einem Ausflug in den Zoo nach Dallas und wird deshalb den ganzen Tag unterwegs sein. Zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf und ich brauche ein bisschen frische Luft.“

Summer lehnte sich gegen die Tür und schnitt eine Grimasse. „Ich bin heute vermutlich keine besonders gut gelaunte Begleitung.“

„Wieso nicht?“ Cassidy sah sie halb besorgt und halb verdutzt an. „Ist alles in Ordnung?“

Schulterzuckend erwiderte Summer: „Eigentlich schon. Ich bin heute einfach nicht gut drauf.“

„Dann brauchst du erst recht eine Aufmunterung in Form eines Zitronentörtchens“, lockte Cassidy sie spitzbübisch.

Leider waren die Zitronentörtchen mit daran schuld, dass Summer gerade Trübsal blies. Sie versuchte es mit einer anderen Ausrede. „Eigentlich wollte ich mein Badezimmer putzen und …“

„Ach, komm schon! Wenn du mir einen Korb gibst, müssen Charly und ich entweder nach Hause gehen und dort die Küche aufräumen oder ich sehe mich gezwungen, meine Großmutter zu besuchen, und das willst du mir nicht antun, oder?“

Jeder, der Cassidys Großmutter Alma Steiner kannte, wusste, dass ein Besuch bei ihr schlimmer als eine Darmspiegelung ohne Narkose war. Die Frau war übergriffig, sehr resolut und keinesfalls zurückhaltend – und Summer dankte dem Allmächtigen, dass Alma keine Anstalten machte, sich bei Lorna frisieren zu lassen. Weil sie Cassidy mochte und deshalb nicht zulassen konnte, dass ihre Freundin ihre Großmutter besuchen ging, zumal der kleine Charly von diesem Besuch womöglich ein Trauma zurückbehalten würde, schnappte sie sich ihre Handtasche und ging mit den beiden spazieren. Zumindest kam sie auf diese Weise in Bewegung und konnte ein paar Schritte sammeln.

Gemächlich spazierten sie an akkurat gepflegten Vorgärten, blühenden Blumenwiesen und verkehrsberuhigten Nebenstraßen vorbei, als sie das Zentrum der kleinen Stadt anpeilten. Hier in Hailsboro war die Welt noch in Ordnung und sehr idyllisch. Es gab keine Straßengangs halbwüchsiger Teenager, die alte Menschen ausraubten, keine Perversen holten sich vor Schaufenstern einen runter, und man musste sich nicht darum sorgen, hinterrücks überfallen zu werden und am nächsten Morgen irgendwo in einem Hinterhof mit nur noch einer Niere aufzuwachen. Wenn man seinen Patriotismus zeigte, indem man eine Flagge im Vorgarten hisste, das Footballspiel der hiesigen Highschoolmannschaft besuchte und Unmengen Rindfleisch aß, dann gehörte man hier in Texas dazu.

Anfangs hatte Summer befürchtet, als Außenstehende, die aus dem Norden kam und völlig neu im Lone-Star-Staat war, auch eine Außenseiterin zu bleiben, die keinen Anschluss fand. Weil sie so weit wie möglich von Chicago hatte wegziehen wollen, war sie in Hailsboro gelandet – mitten in der osttexanischen Einöde. Überraschenderweise gefiel es ihr hier nicht nur unglaublich gut, sondern sie hatte auch schon Freunde sowie Anschluss an die Gemeinde gefunden.

Dafür war sie dankbar.

Nach allem, was in Chicago vorgefallen war, war das eine Wendung gewesen, die Summer wieder an das Gute im Menschen glauben ließ.

„Kann es sein, dass ich dein Auto heute Morgen vor dem Gym habe stehen sehen?“, wollte Cassidy plötzlich von ihr wissen, als sie auf die Hauptstraße einbogen, in der sich die kleinen Geschäfte wie Lornas Salon, Kates Bäckerei und Kelseys Blumenladen befanden. Die größeren Geschäfte wie der Costco Supermarkt, das Gym und auch die Tankstelle, in der der schreckliche Ronny arbeitete, befanden sich am Stadtrand und waren in einem größeren Gewerbekomplex untergebracht. Hier im Stadtkern dagegen sah der Straßenzug mit den vielen süßen, kleinen und teilweise altmodischen Geschäften wie in einem Werbekatalog für die niedlichste Kleinstadt des gesamten Bundesstaates aus.

„Mhm“, antwortete Summer nichtssagend und zupfte am Riemen ihrer Tasche herum.

„Seit wann gehst du denn ins Gym?“ Cassidy balancierte den Kinderwagen über die Bordsteinkante des Bürgersteigs und schob ihn in den Schatten einer Markise. „Als ich dich letztens gefragt habe, ob wir zusammen zum Yoga gehen wollen, hast du gesagt, dass eine Anmeldung dort nur Geldverschwendung wäre, weil du eh nicht hingehen würdest.“

Das waren tatsächlich ihre Worte gewesen. „Ich konnte mich für einen Probemonat anmelden.“ Sie zuckte mit den Schultern und gab sich nichtssagend. „Aber ich denke nicht, dass es etwas Langfristiges wird. Ein Gym ist einfach nichts für mich.“ Von den peinlichen acht Minuten und zwanzig Sekunden auf dem Stepper sagte sie nichts. Ein bisschen Stolz war ihr immerhin geblieben.

„Schade. Wir hätten gemeinsam hingehen können. Das wäre bestimmt lustig gewesen.“

Ein Besuch im Gym war vieles – erniedrigend, anstrengend und schweißtreibend. Lustig war es sicherlich nicht. Summer brummte etwas als Antwort.

„Normalerweise meldet man sich nur dann in einem Fitnessstudio an, wenn man einen bestimmten Mann beeindrucken will und ein Auge auf ihn geworfen hat. Willst du mir irgendetwas sagen, von dem ich noch nichts weiß?“, scherzte Cassidy fröhlich und kam der Wahrheit so nahe, dass Summer automatisch den Atem anhielt und sich mit einem Anflug von Panik fragte, was sie darauf bloß antworten sollte.

Dummerweise schien sie zu lange gezögert zu haben, denn Cassidy blieb abrupt vor Mr. Petersons Sanitärgeschäft stehen und schaute Summer mit großen Augen an. Während hinter ihr im Schaufenster glänzende Toiletten, strahlende Waschbecken und seltsam anmutende Wasserhähne ausgestellt waren, schnappte Cassidy nach Luft und flüsterte ihr aufgeregt zu: „Wer ist es?“

„Niemand“, wehrte Summer rasch ab und spürte, wie sie rot wurde.

„Ha!“ Cassidys Augen glänzten vor Neugier. „Du lügst! Auf wen hast du ein Auge geworfen? Sag mir bitte nicht, dass es Ronny ist, für den du dich im Gym angemeldet hast!“

Summer schnaubte verächtlich. „Ganz bestimmt nicht! Um Ronny abzuwehren, würde ich sogar eine Arbeit in einer Kläranlage annehmen!“

Cassidy kräuselte so angewidert die Nase, als wüsste sie, wie es in einer Kläranlage roch. „Um wen geht es dann?“, fragte sie eifrig nach.

„Um niemanden“, beteuerte Summer und wich dem Blick ihrer Freundin aus, weil sie keine sonderlich gute Lügnerin war. Diese Tatsache war ihr bei ihrem letzten Job bereits zum Verhängnis geworden.

„Komm schon! Mir kannst du sagen, um wen es geht“, lockte Cassidy sie.

Summer seufzte schwer und gab sich einen Ruck. „Hör zu, es … es ist albern und mittlerweile denke ich, dass ich mir das Ganze nur eingebildet habe, aber …“ Sie verstummte kurz und senkte dann die Stimme, um verlegen fortzufahren: „Als ich … ich Dylan Walker kennengelernt habe, dachte ich, dass er mit mir … geflirtet hätte. Vermutlich wollte er nur nett sein. Und ich weiß, dass es albern und kindisch ist“, verriet sie unbehaglich und peinlich berührt. „Aber weil ich nicht mehr in meinen Lieblingsrock passe, seit ich mich ständig mit Kates Törtchen vollstopfe, und weil ich gestern gesehen habe, wie … wie er mit Sally Kowalski geredet hat, die nun wirklich gar keine Figurprobleme hat, da … na ja … Du weißt schon.“ Sie stieß den Atem aus. „Heute Morgen bin ich ins Gym gefahren und musste erkennen, dass Sport einfach nichts für mich ist.“

Mit großen Augen schaute ihre Freundin sie an. „Du und Officer Walker? Ihr beide …“

Abwehrend schüttelte Summer den Kopf, bevor Cassidy auf dumme Ideen kam. „Nein, da läuft überhaupt nichts zwischen uns. Er war bloß nett zu mir und ich habe das falsch interpretiert.“

„Aber wenn er mit dir geflirtet hat, dann könnte etwas zwischen euch laufen, oder?“ Anscheinend war Cassidy rettungslos romantisch veranlagt.

So gelassen wie möglich widersprach Summer: „Es ist so lange her, dass ich ein Date hatte, dass ich nicht mehr weiß, wie man flirtet. Er war nett und aufmerksam, und ich dachte, er würde sich für mich interessieren, was absolut albern war. Ich meine …“ Sie machte eine unwirsche Handbewegung, weil sie ihrer Freundin nicht die Ohren damit volljammern wollte, dass sie nicht annähernd so schlank und sexy wie Sally Kowalski war. Das wäre armselig und traurig gewesen. „Er hat mich nicht um ein Date gebeten. Er hat mich auch nicht nach meiner Telefonnummer gefragt. Das sagt doch alles, oder?“

„Wenn ich das räudige Vieh noch einmal dabei erwische, wie es in mein Blumenbeet scheißt, werde ich von meiner Schrotflinte Gebrauch machen! Meine Rosen sind prämiert! Seit sieben Jahren gewinnen sie jedes Mal den Preis des überregionalen Rosen-Zuchtverbandes für die beste Duftintensivität und den schönsten Wuchs. Diese Auszeichnung ist heiß begehrt und sie könnte mich in die engere Auswahl für eine Teilnahme an der Konferenz der amerikanischen Rose-Society in Seattle im nächsten Jahr bringen. Ich könnte mich sogar für den Rose Walk of fame qualifizieren! Wissen Sie, was das bedeutet, Officer Walker?“

Es bedeutete, dass Ernie Hastings seine Rosenzucht ziemlich ernst nahm und anscheinend kein anderes Hobby besaß. Immerhin erzählte der fast Achtzigjährige ihm seit ungefähr zwanzig Minuten, dass die Nachbarskatze ihr Geschäft ständig in seinem Blumenbeet verrichtete und dass er sich nachts auf die Lauer legte, um besagte Katze von seinen Rosen fernzuhalten. Vermutlich sah Mr. Hastings deshalb übermüdet, zerzaust und ziemlich geschafft aus. Wer hätte gedacht, dass die Rosenzucht ein so anstrengendes und aufregendes Hobby war?

Eigentlich hatte Dylan seine Schicht dazu nutzen wollen, den liegen gebliebenen Papierkram zu erledigen und ein paar Berichte fertigzuschreiben. Zwar gehörte der Papierkram nicht zu seiner liebsten Beschäftigung, weil er es hasste, im Revier auf seinem Allerwertesten zu hocken, ans Telefon gehen zu müssen und unzählige Unterlagen zu wälzen, aber auch diese Arbeit gehörte zu seinem Job.

Zu seinem Job gehörte es ebenfalls, besorgten Bürgern zu lauschen, die sich über ihre Nachbarskatzen beschwerten und dabei ihre Rosenzucht beweinten. Die Arbeit als Cop war nicht immer das, was einem Hollywood weismachen wollte. Jedenfalls dann nicht, wenn man in Hailsboro wohnte. Beim NYPD musste man sich vermutlich nicht mit in Blumenbeeten scheißenden Katzen herumschlagen.

Dylan nickte verständnisvoll und sah Mr. Hastings in die Augen, während er sich gegen seinen Schreibtisch lehnte. „Ich verstehe Ihren Frust, Sir, und ich werde mit Ihrem Nachbarn reden. Wir finden bestimmt eine Einigung. Aber tun Sie mir bitte einen Gefallen und lassen Sie Ihre Schrotflinte stehen. Es ist nicht nur gegen das Gesetz, Haustiere zu erschießen, sondern Sie könnten auch sich und andere Personen in Gefahr bringen. Lassen Sie mich das regeln. In Ordnung?“

Mr. Hastings schob das Kinn nach vorn und blickte ihn durch seine dicken Brillengläser streng an. „Mein Junge, ich war Scharfschütze im Vietnamkrieg! Auf sechshundert Yards Entfernung konnte ich sogar diese verfluchten Moskitos treffen, die uns dort bei lebendigem Leib fressen wollten, also werde ich bestimmt nicht meine fette Nachbarskatze verfehlen, wenn sie noch einmal in mein Rosenbeet scheißen sollte.“

„Danke für Ihren Dienst, Sir“, erwiderte Dylan diplomatisch, immerhin wusste er mit Veteranen umzugehen, und salutierte vor dem älteren Mann. „Ich weiß Ihren Kriegsdienst sehr zu schätzen. Trotzdem würden Sie mir das Leben leichter machen, wenn Sie mich die Sache mit Ihrem Nachbarn regeln ließen.“

Mr. Hastings zögerte kurz, bevor er ihn eingehend betrachtete und sehr viel ruhiger als zuvor wissen wollte: „Haben Sie gedient, mein Junge?“

„Im Irak“, antwortete Dylan schlicht. „Zwei Einsätze.“

„Marines?“

Er nickte. „Drittes Bataillon, siebtes Regiment.“

„Erstes Bataillon, neuntes Regiment“, erwiderte Mr. Hastings so zackig, als wäre er erst gestern vom Kriegsdienst nach Hause gekommen. „Das muss drüben kein Zuckerschlecken für euch gewesen sein.“

So etwas Ähnliches hatte auch Dylan gerade über Vietnam gedacht, aber nicht laut ausgesprochen. Jede Generation hatte ein Kriegstrauma, und Vietnam war da keine Ausnahme. Vietnam war vermutlich das beschissenste Kriegstrauma von allen. „Wenn man Sand in jeder Körperritze mag, war es gar nicht so übel“, scherzte Dylan leichthin und zuckte mit den Schultern.

„Okay.“ Mr. Hastings verzog den Mund und seufzte schwer. „Reden Sie mit meinem Nachbarn. Vielleicht bringt es ja etwas.“

„Das werde ich, Sir.“ Er reichte dem älteren Mann die Hand und versprach ihm, sich um die Sache mit der Nachbarskatze zu kümmern. Als Mr. Hastings das Revier verließ, bemerkte Dylan das leichte Humpeln des Kriegsveteranen, und er fragte sich, ob er diese Verletzung aus Vietnam mitgebracht hatte.

„Ich hatte gerade einen Anruf vom Staatsanwalt des Countys, der ein paar Fragen zum Unfall des Spencer-Jungen an dich hat. Du sollst ihn zurückrufen.“ Daisy, die inoffizielle Chefin und offizielle Sekretärin des Polizeireviers, drückte ihm einen Zettel in die Hand, als sie an seinem Schreibtisch vorbeilief, um sich einen neuen Kaffee zu holen. Von dem Zeug trank sie täglich mehrere Liter. Schwarz. „Außerdem wartet der alte Fitzgerald auf die Absperrung vor seinem Geschäft, die du dort heute anbringen wolltest. Wenn du schon da bist, könntest du dich nützlich machen und uns ein Stück Kuchen mitbringen. Ich hätte gerne etwas Fruchtiges, und der Chief isst alles, was man ihm vor die Nase stellt. Hauptsache, er wird davon satt und Harriett erfährt nichts davon, schließlich ist er auf Diät. Seine Frau kann ganz schön herrisch werden, wenn du mich fragst.“

Apropos herrische Frauen.

Dylan schnitt eine Grimasse und starrte auf den Zettel in seiner Hand, während er Daisy zurief: „Ich dachte, ich wäre ein Cop und kein Lieferant!“

„Stand das nicht in der Stellenbeschreibung?“ Sie stieß ein krächzendes Lachen aus, das davon zeugte, dass sie vermutlich seit ihrem zwölften Lebensjahr rauchte. Mittlerweile war sie um die sechzig.

„Kann ich sonst noch irgendetwas für dich tun?“, wollte er mit einem Anflug von Sarkasmus wissen. „Muss dein Rasen gemäht werden oder ist bei deinem Auto ein Ölwechsel fällig?“

„Nett, dass du das anbietest, aber momentan reicht mir der Kuchen, Kleiner. Und beeil dich!“

Dylan sah gar nicht ein, sich zu beeilen, nur weil Daisy Heißhunger auf Kuchen hatte. Stattdessen telefonierte er mit dem Staatsanwalt und schilderte den genauen Unfallhergang, dann meldete er sich bei Mr. Hastings’ Nachbarn, um sich für ein Gespräch anzukündigen, und anschließend brachte er vor dem Sportgeschäft des alten Mr. Fitzgerald eine kleine Absperrung an, weil der in den kommenden Tagen eine Fensterreparatur durchführen ließ.

Erst dann machte er sich auf den Weg in Kate Lindsays Bäckerei, um für seinen Chef und für Daisy Kuchen zu kaufen.

Wie nicht anders zu erwarten, waren die beiden Bistrotische der Bäckerei mit einigen älteren Damen belegt, die hier wohl zum Inventar gehörten. Wann immer Dylan das Ladenlokal betrat, saßen einige der Damen an den Tischen herum, aßen Kuchen oder Törtchen und schnatterten miteinander. Wenn er keine Waffe mit sich geführt hätte, wäre er vermutlich nicht auf die Idee gekommen, die Bäckerei zu betreten, denn jedes Mal lief er Gefahr, gegen seinen Willen verkuppelt zu werden, sobald er hier auftauchte.

So auch heute.

„Officer Walker!“ Trudy McIntry hatte ihn zuerst entdeckt und winkte ihm enthusiastisch, als er die Bäckerei betrat. „Wie schön, dass ich Sie sehe! Wie geht es Ihnen?“

Seit er ihren schrecklichen Süßkartoffelauflauf verdaut hatte, was immerhin mehrere Tage in Anspruch genommen hatte, ging es ihm wieder gut. Da er jedoch nicht ins Detail gehen wollte, verschwieg er der älteren Dame, dass sie nicht kochen konnte.

Stattdessen nickte er den anwesenden Damen, die allesamt jenseits der Menopause waren und vermutlich für den meisten Umsatz der Bäckerei sorgten, höflich zu und erwiderte leichthin: „Mir geht es gut. Den Damen hoffentlich auch?“

Sie kicherten und versicherten ihm, dass es ihnen allen gut ging.

Dylan warf einen nervösen Blick zur Auslage, hinter der jedoch niemand stand. Kate Lindsay ließ sich nicht blicken. Das nutzten die anwesenden Frauen aus, um ihn auszuquetschen. Laura Greenfield machte den Anfang, als sie ein bisschen zu laut und zu schrill erklärte: „Erinnern Sie sich noch, dass Sie unbedingt meine Enkelin Milly kennenlernen wollten? In ein paar Tagen wird sie hier sein, um auf der Hochzeit meines Neffen als Brautjungfer zu fungieren. Sie ist einundzwanzig und bildschön. Und sie hat kein Date für die Hochzeit. Wären Sie interessiert, ihr Begleiter zu sein?“

Wow! Sie fiel mit der Tür wahrlich ins Haus.

Dylan konnte sich keinesfalls daran erinnern, unbedingt Laura Greenfields einundzwanzigjährige Enkelin kennenlernen zu wollen. Wenn sie nur ein bisschen nach ihrer Großmutter mit deren schriller Stimme kam, sollte er womöglich Fersengeld geben, bevor sie in Hailsboro ankam.

So charmant wie möglich erwiderte er: „Ich bin mir sicher, dass sie bildschön ist, Mrs. Greenfield, schließlich sind Sie ihre Großmutter. Leider käme ich mir wie ein alter Zausel vor, wenn ich mit einer Einundzwanzigjährigen ausgehen würde. Aber danke, dass Sie so sehr um mein Liebesleben besorgt sind.“

Bessie Hammond schnalzte mit der Zunge. „Sie ist viel eher darum besorgt, dass ihre Enkelin niemanden abbekommt, schließlich wollte nicht einmal ihr eigener Cousin mit ihr zu der Hochzeit gehen!“

„Bessie“, zischte ihre Freundin ihr mahnend zu. „Nicht so laut!“

„Also meine Nichte ist vierundzwanzig und ebenfalls auf der Suche nach dem Richtigen.“ Trudy McIntry lächelte ihm vielsagend zu.

Er seufzte melodramatisch und verdrängte die Erinnerung an den Süßkartoffelauflauf, der ihm wie ein Stein im Magen gelegen hatte. „Mit vierundzwanzig ist sie ja noch ein halbes Kind. Wollen Sie ihr wirklich einen so alten Mann, wie ich es bin, aufdrängen?“

„Ha! Alter Mann – von wegen! Ich habe einen alten Mann daheim und der hat keinerlei Ähnlichkeit mit Ihnen, Officer Walker, schließlich scheinen Sie noch alle Ihre Zähne zu besitzen und ohne Gehhilfe aufs Klo gehen zu können!“

Beinahe hätte er gelacht. Beinahe.

Emma Perkins, die bislang nichts gesagt hatte, starrte ihn an, als wäre er ein besonders verlockendes Törtchen, und gurrte: „Also wenn Sie lieber mit älteren Frauen anstatt mit jungem Gemüse ausgehen, stehe ich jederzeit zur Verfügung, Officer. Und da ich glücklich geschieden bin, muss ich auch keine Rücksicht auf einen alten Mann zu Hause nehmen.“

Dylan konnte nur hoffen, dass Mrs. Perkins einen Scherz gemacht hatte.

„Himmel, Emma! Diese Hormonersatztherapie solltest du schleunigst absetzen, wenn du kurz davorstehst, den armen Mann in meiner Bäckerei zu bespringen.“ Kate Lindsay trat aus dem Hinterzimmer heraus und schüttelte den Kopf, während sie ihm einen Blick voller Mitgefühl schenkte. „Kann man euch nicht fünf Minuten alleine lassen, ohne dass ihr meine Kunden in Angst und Schrecken versetzt?“

Die älteren Damen kicherten und steckten die Köpfe zusammen.

Um ehrlich zu sein, empfand Dylan eine gehörige Portion Mitgefühl für Kate, die die Klatschtanten jeden Tag von morgens bis abends ertragen musste. Er räusperte sich und wisperte ihr zu: „Wenn ich die Bäckerei räumen lassen und Hausverbote erteilen soll, sag mir einfach Bescheid.“

Fröhlich lachte sie auf. „Danke für das Angebot, aber ich fürchte, dass ich pleitegehen würde, wenn ich die Damen als Kundinnen verlöre. Außerdem weiß ich sie zu nehmen, schließlich kenne ich sie mein ganzes Leben. Das Geheimnis ist, ihren Blutzuckerspiegel nie absacken zu lassen. Wenn es jemals so weit kommen sollte, würde in der ganzen Stadt kein Stein auf dem anderen mehr stehen. Glaub mir!“

Dylan schnaubte halb belustigt, halb erschrocken. „Dann sollten wir dir vermutlich eine Auszeichnung zukommen lassen.“

„Mach das.“ Sie zwinkerte ihm zu und deutete auf die vielen Köstlichkeiten in der klimatisierten Auslage. „Lass mich raten: Daisy hat dich hergeschickt. Wie es der Zufall so will, habe ich heute Zitronentörtchen gebacken, die sie liebt. Wie viele soll ich dir einpacken?“

Nur kurze Zeit später durchquerte Dylan mit einem kleinen Karton der Bäckerei den Stadtpark und beeilte sich, die Törtchen heil ins Revier zu schaffen. Wie es sich für einen Sommertag in Texas gehörte, war es nämlich bereits höllisch heiß.

„Dylan! Hey, hier sind wir!“

Wir war niemand anderes als Cassidy Kennedy, die auf einer Parkbank im Schatten saß und den Kinderwagen neben sich vorsichtig anschubste, in dem vermutlich ihr kleiner Sohn lag.

Dylan hob die Hand und lief zu ihr. „Hast du euren Mädelsabend gestern gut überstanden?“

„Ich schon.“ Kichernd sah sie zu ihm auf. „Aber June scheint einen mordsmäßigen Kater zu haben. Als ich sie nach Hause gefahren habe, ist sie fast kopfüber aus dem Auto gefallen. Der arme Wyatt wird gestern Nacht keine Freude mit ihr gehabt haben.“

„Mhm.“ Er verschob den Karton unter seinem Arm und fragte so leichthin und nebenbei, als würde es ihn eigentlich nicht interessieren: „Und Summer? Hat sie heute auch einen Kater?“

Cassidy grinste ihn breit an und schlug ihre Beine übereinander, während sie ihn spitzbübisch musterte. „Wieso fragst du?“

„Aus reiner Neugier.“

„Aha.“ Cassidy legte den Kopf schief. „Magst du Summer, Dylan?“

Er fühlte sich in die Highschool zurückversetzt, als Mädchen und Jungen über ihre jeweiligen Freunde aussondiert hatten, wer in wen verknallt war. „Sie ist nett und …“

„So nett wie Sally Kowalski?“, unterbrach sie ihn forsch.

Dylan verdrehte die Augen. „Ich habe nie gesagt, dass ich Sally nett finde.“

„Aber Summer findest du nett.“

„Ja, das tue ich“, erwiderte er, auch wenn er keine Ahnung hatte, worauf Cassidy hinauswollte. „Sehr sogar.“

„Dann solltest du sie auf ein Date einladen. Findest du nicht?“

Eigentlich fand er, dass Cassidy sich nicht in sein Liebesleben einmischen sollte. Trotzdem verriet er ihr mit einem Anflug von Frustration: „Jedes Mal, wenn ich sie treffe und sie nach ihrer Nummer oder nach einem Date fragen will, werde ich davon abgehalten. Entweder werde ich zu einem Einsatz gerufen oder ihre Freundinnen verscheuchen mich, weil sie einen männerfreien Mädelsabend verbringen wollen. Was also rätst du mir?“

„Ah.“ Verstehen leuchtete in ihrem Gesicht auf. „Also wolltest du ihr gestern gar kein Knöllchen verpassen?“

Schnaubend runzelte er die Stirn. „Natürlich nicht.“

„Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mir von ihrer Freundin ihre Nummer geben lassen und sie anrufen, um sie zu einem Date einzuladen.“ Sie griff nach ihrer Tasche und holte ihr Handy heraus. „Und vielleicht würde ich dieses Date nicht unbedingt bei Ted stattfinden lassen, wo sich Sally bei jeder sich ihr bietenden Gelegenheit an deinen Hals wirft.“

„Ist notiert.“ Unter Mühen balancierte er den Karton mit den Törtchen unter seinem Arm und zog sein eigenes Handy hervor. Ungeduldig starrte er Cassidy an, die sich alle Zeit der Welt ließ, ihm Summers Nummer zu nennen. Ganz offensichtlich hatte sie großen Spaß daran, ihn zappeln zu lassen.

„Danke“, murmelte er, nachdem Cassidy ihm endlich die Nummer gegeben und er sie eingespeichert hatte.

„Mein nächstes Knöllchen geht aufs Haus“, bestimmte sie mit einem zuckersüßen Lächeln und schubste den Kinderwagen ein weiteres Mal an.

„Ganz bestimmt nicht.“

„Vielleicht habe ich dir gerade die Telefonnummer der zukünftigen Mutter deiner Kinder gegeben, also sei mal ein bisschen dankbar, Officer.“

Dylan konnte nicht anders und gluckste auf. Er tippte sich an die Krempe seines Huts. „Man sieht sich, Cassidy. Und immer schön nüchtern bleiben.“