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Judith hatte noch nie jemanden so konzentriert und gleichzeitig so gelöst arbeiten sehen wie Gregor, wenn er malte. Frank war als Kind eher vom Typ Schlendrian gewesen, der es bei solchen Tätigkeiten nie besonders genau nahm und großzügig mit dem Stift über den Rand sauste, auch wenn in seinen verwischten Kohlezeichnungen manchmal tatsächlich ein Gesicht zu erkennen war, exakt und naturgetreu und wie nebenher aufs Blatt gekritzelt. Sie fragte sich kurz, ob er bei seiner Arbeit als Barkeeper in Australien auch so großzügig und schludrig zu Werke ging und doppelte Wodkas eingoss, wo nur einer verlangt wurde?

Achim arbeitete hochkonzentriert, wenn er an einem Fahrrad herumbastelte, aber seine Konzentration hatte immer etwas Kämpferisches, wobei er sich vor Anstrengung auf die Lippe biss, kleine Flüche ausstieß oder unsinnigerweise die winzigen Schrauben tadelte, die auf den Boden flutschten. Gregors Konzentration hingegen stammte aus einer völlig anderen Dimension. Sie löste ihn von der Welt um ihn herum, als ob für ihn nichts anderes mehr existierte als dieses Mandala, das er behutsam, fast zärtlich und mit der Präzision eines Nuklearwissenschaftlers ausmalte.

Gestern hatte Judith ihre ganzen Zeichnungen und Malsachen sortiert, die bei Gregors Suchorgie nach dem Schlauchventil aus ihrem Verlies befreit worden waren. Seit Jahren hatte sie den ganzen Kram nicht mehr angesehen und nun entblätterten sich ihre frühen Zeichnungen plötzlich wieder vor ihr. Ein paar Skizzen und Bilder von Frank waren auch dabei. Er hat wirklich Talent gehabt, dachte sie erstaunt. Aber nachdem damals klar war, dass er Jura studieren würde, hatte er die Zeichnerei und alle anderen künstlerischen Ambitionen aufgegeben. Ob er jetzt wieder zeichnete? Die Gäste in seiner Bar skizzierte? Sie hatte überhaupt keine Vorstellungen von seinem Leben und seinem Job in Australien. Vor zwei Jahren hatte sie einmal die Webseite der Bar im Internet aufgerufen. Sie sah Fotos von lachenden jungen Gästen auf einem Deck im Freien, die Gläser mit Bier oder exotischen Cocktails vor sich stehen hatten, sie sah Fotos von Männern, die Billard spielten oder mit kleinen Pfeilen nach einem Dartboard warfen. Ein Foto zeigte bunte Flaschen, die aufgereiht wie zur Militärparade nebeneinander im Regal standen, ein anderes einen Teller mit einem riesigen Steak, auf dem sich rosa Krustentiere mit ihren langen Fühlern türmten und zwei Hummerbeine kreuzten – was wohl appetitlich sein sollte, bei ihr aber nur leichten Ekel auslöste und vor allem die Frage, wer um alles in der Welt so viel essen sollte. Sie studierte die Öffnungszeiten der Bar und die Karte für die Snacks und erfuhr, dass in dem Lokal jedes Jahr am Heiligabend eine Beachparty stattfand, bei der in den Sonnenuntergang getanzt werden konnte. Das dazugehörige Foto zeigte Mädchen in Bikinis, die sich auf Liegestühlen räkelten, einen Cocktail in der Hand und eine Weihnachtsmütze auf dem Kopf.

In einem dieser Liegestühle saß also Frank jedes Jahr, wenn sie und Achim den von Jahr zu Jahr kleiner werdenden Weihnachtsbaum aufstellten, der Form halber ein paar Weihnachtslieder auflegten, das Raclette anheizten und sich gegenseitig Dinge schenkten, die nur noch selten einen Überraschungsruf auslösten.

Strandparty am Heiligabend, vielleicht noch mit einer aufgespießten Garnele in der Hand … Das war alles so verwirrend und unverständlich. Sehnte Frank sich denn überhaupt nicht nach zu Hause? Vor fünf Jahren oder so, als wenigstens noch regelmäßig eine E-Mail von ihm hereinflatterte, hatte Frank mal eine Freundin erwähnt. Mel und ich kommen vielleicht demnächst mal nach Europa, Mel will total gern die Alte Welt sehen. War Mel jemand, den er mochte? Oder gar liebte? Zumindest nahm Judith an, dass es sich um ein Mädchen handelte, ganz sicher war sie sich allerdings nicht. Es gab ja zum Beispiel auch Mel Gibson. Solche Überlegungen erwähnte sie Achim gegenüber aber lieber nicht, der bei dieser Nachricht sowieso völlig durcheinandergeraten war. »Die Alte Welt sehen?«, hatte er sie verwirrt gefragt.

»Das alte Europa eben«, hatte sie erklärt, aber vielleicht meinte Frank damit ja seine Eltern? Verkörperten Achim und sie etwa das Alte, Staubige, Starre, das man wie ein Museum besuchte? Wenig später traf ein Foto per E-Mail ein, auf dem man Frank an einem Tisch sitzen sehen konnte. Braun gebrannt, lachend, mit viel längeren Haaren als je zuvor. Er hob auf dem Bild sein Glas und neben ihm saß eine junge Asiatin mit Zopf, die ihm zuprostete. War das Mel? Judith ging davon aus, sie suchte nach Zeichen der Zuneigung zwischen den beiden, suchte sogar heimlich Mels nur halb sichtbare Figur nach Hinweisen auf ein mögliches Enkelkind ab, doch sie fand nichts, außer einem ziemlich großzügig gefüllten Cocktailglas in Mels Hand. Keine glühende Liebe und kein halbasiatisches Baby. Danach erwähnte Frank Mel sowieso nie wieder und irgendwann erwähnte er gar nichts mehr, weil ihm Achims ständige Fragerei, was er denn nun vorhabe und wann er denn zurückkommen werde, um sein Studium doch noch zu beenden, offenbar auf die Nerven ging. Funkstille.

»Was malst du denn da?«, fragte Gregor plötzlich. Judith sah überrascht hoch und dann auf das Blatt vor sich. Gedankenverloren hatte sie etwas darauf skizziert, ohne es selbst zu merken. Gregor. Sie hatte seinen Kopf gezeichnet und seinen konzentrierten Blick dabei perfekt eingefangen.

»Das bin ja ich«, staunte er. »Du kannst aber gut malen, Judith.«

»Ach was«, wehrte sie verlegen ab. »Das war nur früher mein Hobby.«

»Und jetzt nicht mehr? Warum denn nicht?«

»Weil … na … Weil ich keine Zeit mehr habe.«

»Schade.«

Das mit der Zeit stimmte nicht. Eigentlich hatte sie heute mehr Zeit denn je. Aber eine andere Antwort war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen, denn sie wusste schlicht und einfach nicht, warum sie nicht mehr malte. Irgendwann hatte sie das einfach eingestellt, genauso wie das Aufbleiben bis nach Mitternacht, das Tanzengehen, die langen Haare und die spontanen Küsse auf Achims Mund. Sie hatte sich immer eingeredet, dass bestimmte Dinge sich eben veränderten, wenn man älter wurde, dass einige Sachen wichtiger wurden und andere an Bedeutung verloren. Aber warum hatte sie eigentlich gerade ihre Lust am Malen auf dem Altar des Älterwerdens geopfert? Es war ihr auf einmal unbegreiflich.

»Fertig.« Gregor legte den Stift weg und eine Weile lang betrachteten sie beide ehrfurchtsvoll sein vollendetes Mandala, das wie ein Glasfenster im Regensburger Dom in Azurblau, Zinnoberrot und Goldgelb leuchtete.

»Sehr schön«, urteilte Gregor schließlich zufrieden. »Und jetzt würde ich gern schwimmen gehen.«

»Super Idee, Gregor. Das Freibad ist gar nicht weit von hier.« Es waren mindestens siebenundzwanzig Grad draußen.

»Nein, nicht ins Freibad. In das Hallenbad von neulich. Wo wir mit der Mama waren.«

Sollten sie das wirklich tun? Würde ihm das nicht den ganzen schrecklichen Tag wieder ins Gedächtnis rufen?

»Wieso möchtest du das?«, erkundigte sie sich vorsichtig.

»Da war es so schön. So gemütlich.« Gregor formte eine Art Haube über seinem Kopf. »Wie eine Glocke. Das gefällt mir.«

»Aber dort ist es doch so dunstig und warm. Im Sommer ist es viel schöner, im Freien zu schwimmen.«

»Nein, da ist die Luft so endlos weit. Da fliegen alle Gedanken weg. Im Hallenbad bleiben sie drin. Da kann ich mir dann vorstellen, dass die Mama neben mir schwimmt.«

Judith schluckte. Gestern hatte Doktor Lindig mit seinem Team das künstliche Koma beendet, und nun warteten sie darauf, dass Marlene aufwachte. Der anfänglichen Euphorie war aber mittlerweile ein betretenes Schweigen gefolgt, denn sie war bisher noch nicht aufgewacht. Und obwohl Doktor Lindig Judith versichert hatte, dass so was manchmal Tage oder gar Wochen dauere, war ein beklemmendes Gefühl in ihr zurückgeblieben.

»Natürlich«, flüsterte sie deshalb jetzt. »Natürlich gehen wir ins Hallenbad.« Da war es heute bestimmt total leer und sie konnte ausgiebig ein paar Bahnen schwimmen. »Ich weiß aber nicht, ob der Achim diesmal mitkommt. Es ist ja schon nachmittags. Normalerweise gehen wir vormittags schwimmen.«

»Nachmittags kann man aber auch sehr gut schwimmen«, widersprach Gregor. »Auch ohne den Achim.«

Warum eigentlich nicht? Was würde sie denn sonst an diesem heißen Samstagnachmittag machen? Aufräumen, vielleicht etwas zum Grillen vorbereiten und vor allem vor Frau Hoffmann in Deckung gehen, die ihr heute schon eine Dreiviertelstunde lang im Treppenhaus ihr Leid geklagt hatte. Die Frau sah völlig fertig aus, Schatten unter den Augen, die sonst so makellose Kurzhaarfrisur strähnig, hektische rote Flecken im Gesicht. Sie musste ihre Schwiegermutter bei jeder Mahlzeit füttern, hatte sie erzählt. Und außerdem verlangte die alte Frau wohl, dass die Hoffmanns sich auch noch um irgendeine Bruchlaube kümmerten, ein bizarres Familienerbstück, das nicht verkauft werden durfte. Judith fragte sich, warum Frau Hoffmann sich von ihrer Schwiegermutter nur so unter Druck setzen ließ. Sie hatte die alte Frau selbst einmal kurz durch die geöffnete Tür gesehen, wie sie wie eine traurige Fledermaus in ihrem Rollstuhl hockte. Von der ging doch nichts Gefährliches aus? Aber wahrscheinlich steckte da ein ganzes Leben voller Machtkämpfe dahinter. Ein Problem, das Judith Gott sei Dank nicht hatte.

»Okay.« Sie stand auf. »Ich packe unsere Sachen.« Sie sammelte die herumliegenden Blätter zusammen.

»Das nicht«, sagte Gregor und zog zwei Blätter wieder heraus. »Das ist die schöne Laube von Frau Hoffmanns Oma.«

»Schwiegermutter«, verbesserte Judith automatisch. Sie betrachtete die Fotos auf dem Blatt. Das war also die ominöse Laube? Ziemlich heruntergekommen das Ding. »Und woher hast du das?«

»Na, von Frau Hoffmann natürlich.« Gregor sah sie erstaunt an.

Okay. Judith betrachtete das andere Blatt. Eine eher wirre Skizze von irgendeiner Fabrik, wie es aussah. Auf der Rückseite ein ausgedruckter Artikel über Studienabbrecher. Warum Studienabbruch oft auf Umwegen zum Erfolg führt. »Und das hier?«

»Das hat Lars mir geschenkt, das ist eine Schokoladenfabrik, die er gemalt hat.«

»Aha.« Judith ersparte sich die Frage, was Gregor damit vorhatte. Lars besaß definitiv kein künstlerisches Talent, das stand schon mal fest. Den Artikel hingegen, den würde sie gern mal lesen. Sie beschloss, sich zu merken, wo Gregor das Blatt hinlegte.

 

Achim lag rücklings in seinem Hobbyzimmer auf dem Fußboden, etwas Längliches und Metallisches im Mund, das Fahrrad vor sich aufgebockt.

»Gregor und ich wollen schwimmen gehen«, informierte Judith ihn.

»Schetzscht?«, fragte Achim beunruhigt. Er nahm das Ding aus dem Mund, was immer es auch war.

»Ja, jetzt.«

»Aber ich hab doch gerade hier angefangen und …«

»Du musst ja auch nicht mit. Ich gehe mit Gregor allein.«

Grenzenlose Erleichterung spiegelte sich in Achims Gesicht. Erleichterung darüber, dass er all diese wunderbaren kleinen Einzelteile um sich herum jetzt nicht im Stich lassen, seinen Körper nicht in kühle Gewässer tauchen und seine von der Arbeitswoche malträtierten Nerven nicht dem Geschrei von zweihundert begeisterten Kinderkehlen aussetzen musste. Gleichzeitig formte sich in seinem Gesicht auch Panik bei dem Gedanken, was Judith und Gregor in diesen gefährlichen Gewässern ohne ihn zustoßen könnte. Von derartig gegensätzlichen Empfindungen in zwei verschiedene Richtungen getrieben, sagte er vor lauter Verwirrung erst einmal gar nichts.

»Es soll aber nachher regnen«, fiel ihm schließlich ein.

»Wir gehen ja auch nicht ins Freibad, sondern ins Hallenbad.«

»Im Sommer? Bei dem schönen Wetter?«

»Du hast selbst gesagt, dass es nachher regnen wird.« Sie verkniff sich ein Grinsen, denn jetzt tat er ihr fast leid. »Gregor will lieber ins Hallenbad. Er findet es dort … gemütlicher«, wiederholte sie folgsam die Worte ihres Neffen.

»Gemütlicher.« Achims kleines Schnaufen signalisierte, wie »Hallenbad« und »gemütlich« für ihn zusammenpassten, doch dann entschied er offenbar, dass er auch im Fall dieser neuen Schnapsidee eindeutig das bessere Los gezogen hatte, wenn er zu Hause blieb.

»Na, dann euch viel Spaß«, wünschte er großzügig. »Ich kann ja in der Zeit was zu essen machen.«

»Super Idee«, lobte Judith. Männern musste man genau in dem Moment Beifall spenden, in dem ihnen ein kluger Gedanke kam, denn nur dann meißelte er sich so tief in ihr Gehirn ein, dass er eventuell sogar umgesetzt wurde.

 

»Ach, jetzt haben wir die Badelatschen und deine Schwimmshorts vergessen.« Judith knallte die Kofferraumtür zu. Sie bemühte sich, gleichmütig zu erscheinen, war aber innerlich völlig aufgewühlt. Wie würde dieser Schwimmbadbesuch verlaufen? »Na, egal«, meinte sie dann betont locker. »Kaufen wir eben ein paar neue in dem Swim Shop im Bad. Die sind nicht so teuer.«

Gregor entschied sich nahezu sofort für ein paar orangefarbene Shorts mit exzentrischem Zackenmuster. »Die hier«, bestimmte er. »Die sind toll.«

Gut. Das ging ja flott und unkompliziert. Dann noch fix die Badelatschen. Wenig später entdeckte sie ein paar blaue in seiner Größe und hielt sie ihm hin. »Hier, die gehen doch.«

»Nein.«

»Du hast sie ja noch gar nicht anprobiert.«

»Nein, die will ich nicht.«

»Warum denn nicht?« Judith musterte die Badelatschen verwirrt. War irgendwas damit? Die sahen doch aus wie alle Badelatschen dieser Welt.

»Die sind nicht grün.«

Ach so. Du lieber Himmel, dann nahmen sie eben welche in Grün.

»In Grün haben wir die nicht mehr«, erklärte die junge Verkäuferin achselzuckend. »Nur in Blau.«

»Na, dann nimm halt die, Gregor.«

»Nein.«

»Aber du brauchst doch ein paar Badelatschen.«

»Aber die müssen grün sein. Die müssen immer grün sein!«

Zu Judiths Bestürzung schimmerte es feucht in Gregors Augen. Er würde doch wegen dieser lächerlichen Badelatschen nicht anfangen zu heulen? Oder war das der Stress, wieder hier zu sein? An dem Ort, wo er das letzte Mal mit seiner Mutter gewesen war?

»Gregor, das ist doch egal.« In dem Moment, als ihr das rausgerutscht war, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. So etwas war Gregor eben nicht egal. Falsche Farben und Lamettafäden, die sich danebenbenahmen, und Aluminium, das irgendwo hineingeriet, wo es Gregors Meinung nach nicht hingehörte, und …

»Grün«, jammerte Gregor. »Grün! Grün! Grün!« Er fegte Judith die blauen Badelatschen aus der Hand.

»Boah, also …«, stammelte die Verkäuferin und warf Judith einen konsternierten Blick zu. Die Frau an der Kasse drehte sich um und schüttelte den Kopf, zwei ältere Badegäste blieben neugierig stehen und starrten ungeniert herüber, wohl in der Hoffnung, gleich Zeugen eines aufregenden und erniedrigenden Erziehungsdramas zu werden.

Judith konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören. Sie spürte, wie sich Scham in ihr ausbreitete. Und Hilflosigkeit. Und dann noch etwas anderes – Wut. Aber nicht auf Gregor, sondern auf die Welt, die nicht verstand, dass so etwas für Gregor eben wichtig war. Zum ersten Mal leistete sie in Gedanken Marlene Abbitte. Gregor war nicht ungezogen, er war eben … anders.

»Okay, du brauchst gar keine Badelatschen«, entschied sie mit fester Stimme. »Es geht auch ohne.«

»Aber die Baderegeln sagen, dass …«, setzte die Verkäuferin an, und Judith schnitt ihr das Wort ab.

»Es ist nicht verboten, barfuß zu gehen. Ich bin schon tausendmal hier gewesen und habe eine Menge Leute ohne Badelatschen hier herumlaufen sehen.«

Die Verkäuferin kniff verächtlich ihren kleinen Mund zusammen. Wenn Sie meinen. Es ist ja dann Ihr Fußpilz. »Das macht achtundzwanzig Euro fünfzig für die Shorts«, flötete sie. Judith reichte ihr einen Geldschein, den die Verkäuferin wie eine tote Ratte entgegennahm. Dann rückte sie das Wechselgeld heraus, seufzte leidend vor sich hin und gab ihnen die Shorts. »Viel Spaß.«

Es klang eher wie »Fröhliche Hinrichtung!«, aber Judith war das egal. Denn was dann folgte übertraf alle ihre Erwartungen.

 

Sie schwamm im leeren großen Becken auf und ab, Hunderte von Metern in dunstiger, herrlicher Stille, während Gregor sich im ebenfalls leeren Nachbarbecken ununterbrochen durch den Sprudelkreis jagen ließ. Er hatte recht. Das Hallenbad war wie eine trübe gemütliche Glocke an diesem heißen Sommertag, während der Rest der Welt sich in den Freibädern der Stadt auf die Füße trat, von der Rutsche schubste, durchs Wasser kämpfte, von Wespen stechen ließ und mit Eis bekleckerte. Sie und Gregor hingegen trieben wie zwei sanfte, stille Meerestiere durch das klare Wasser, Bahn um Bahn, Strudel um Strudel. Gregor glitt auf dem Rücken dahin, und sie konnte sehen, wie er seine Lippen bewegte. Redete er etwa mit sich selbst? Mit Marlene? Jetzt streckte er die Hand aus und ließ sie eine Weile neben sich durch das Wasser gleiten. Fast als ob er die Hand von jemandem halten würde, dachte Judith.

 

Als sie nach einer glücklichen Stunde aus dem Becken stieg, winkte Gregor ihr zu.

»Du kannst sehr gut schwimmen, Tante Judith. Du sahst aus wie eine Meerjungfrau!«

Judith blickte kurz an sich herunter, betrachtete den drei Jahre alten und vom Chlor schon etwas verwaschenen Badeanzug, die Wölbung ihres Bauches, die seit fünfzehn Jahren nicht mehr so richtig wegging, und ihre Beine, die gnadenlos blass und mit kleinen Dellen übersät vom Neonlicht bestrahlt wurden. In der Glaswand gegenüber schimmerte ihr Spiegelbild. Vor über zehn Jahren hatte sie sich ihre kastanienbraunen Haare radikal kurz schneiden lassen, weil das bei dem häufigen Schwimmen praktischer war und lange Haare bei älteren Frauen irgendwie seltsam aussahen. Aber eigentlich waren ihre Haare immer ihr ganzer Stolz gewesen, und seit sie einfach nur kurz gestuft und unspektakulär waren, sah sie aus, wie Tausende von Frauen zwischen fünfzig und sechzig eben aussahen. Uninteressant und langweilig. Eine Meerjungfrau … Dieser Gregor. Sie lächelte und beschloss spontan, ihre Haare wieder wachsen zu lassen.

 

Nach dem Schwimmen schlenderte Judith mit Gregor durch die sommerdösige Stadt. Sie aßen Eis, sahen Kindern am Springbrunnen zu und stellten fest, dass es mehr gelbe als rote Bänke in der Innenstadt gab. Wer hätte das gedacht. Als sie an einem Geschäft für Freizeitkleidung vorbeikamen, traf Judith eine spontane Entscheidung.

»Komm, wir gucken mal, ob die hier grüne Badelatschen haben.«

Diesmal trafen sie auf eine ältere, gutmütige Verkäuferin, eine vielfache Mutter, die den Lauf der Welt kannte und die nichts mehr überraschte oder aus der Fassung brachte, schon gar nicht die Dringlichkeit der Farbe Grün. Sie freute sich mit Judith, als sie aus den wundersamen Tiefen des Lagers tatsächlich die richtigen Badelatschen brachte, die von Gregor wie lang verschollene Verwandte begrüßt wurden. Hinterher kauften sie in einem Spielzeugladen noch ein Kaleidoskop für ihn und ein belegtes Brötchen bei einem Fleischer, weil er vom Schwimmen einen großen Hunger hatte. Judith nahm noch etwas Aufschnitt mit, als sie eine bekannte Stimme links von sich nörgeln hörte.

»Ist der Schinken denn auch frisch?« Es war Herr Walter, der neben ihnen an der Fleischtheke stand, völlig unsommerlich in Dunkelgrau gekleidet, das Gesicht rot vor Hitze oder Unmut, die Haare quer über den Kopf gekämmt, ein Portemonnaie und ein kleines Beutelchen in der Hand.

»Natürlich ist der frisch«, gab die Frau hinter dem Tresen lächelnd zurück.

»Dann machen Sie mal hundert Gramm. Aber nicht mehr.«

Herr Walter wühlte in seinem Portemonnaie herum, als sein Blick auf Judith und Gregor fiel und noch finsterer wurde, falls das überhaupt möglich war. »Tag«, brummte er.

»Tag.« Judith nickte der Höflichkeit halber zurück.

»Guten Tag, Herr Walter«, begrüßte Gregor ihn so enthusiastisch, als hätte die ganze Trockner-Episode nie stattgefunden. »Wir waren schwimmen.«

»Nicht zu fassen«, murmelte der alte Walter vor sich hin, aber Judith hörte es trotzdem. Sie ignorierte ihn einfach, denn sie hatte echt keine Lust, sich den schönen Sommernachmittag von diesem alten Griesgram verderben zu lassen. Herr Walter zerrte einen Schein aus seinem Portemonnaie, zählte akribisch, langsam und mehrmals das Wechselgeld nach und stapfte dann grußlos von dannen.

Die Verkäuferin zog bedeutungsvoll eine Augenbraue hoch. »Heiß heute.«

»Sie sagen es.« Judith nickte spöttisch. Dann fiel ihr Blick auf etwas auf dem Boden. Herr Walter hatte etwas verloren. Sie hob es auf, es war sein Führerschein, der ihm aus dem Portemonnaie gefallen sein musste. Ach Gott, auch das noch.

»Das da hat er gerade verloren.« Sie hielt den Führerschein hoch. »Ich nehme ihn mit«, sagte sie zu der Frau. »Der wohnt bei uns im Haus.«

»Sie Glückliche.« Die Frau rückte die ausgestellte Wurstplatte hinter der Glasscheibe zurecht. »Aber trotzdem danke.«

Judith steckte das Ding ein, denn sie war schließlich ein höflicher und zuverlässiger Mensch und würde einem alten Mann seinen verlorenen Krempel wiederbringen, auch wenn dieser den Charme einer Kellerassel hatte. Oder Gregor konnte es machen. Genau, dann musste sie sich das nicht antun.