20

Frau Junescu schlich unruhig durch ihr Wohnzimmer. Es wurde langsam schwierig mit den Hühnern, was sollte sie nur tun? Die Viecher blieben nicht mehr in ihrer Box auf dem Balkon und der kleine Hahn stieß neuerdings schon verdächtig krächzende Töne aus. Nicht auszudenken, was die Hausordnung dazu sagen würde, wenn er morgens von ihrem Balkon aus auf die Straße krähte. Sie lief in die Küche und sah nachdenklich in den Hof hinunter. Wenn sich die anderen Hausbewohner und vor allem diese dummen Vermieter nicht immer so anstellen würden, dann könnte man da unten einen Hühnerstall aufstellen. Aber sie wusste jetzt schon, dass dieser Vorschlag auf breiteste Ablehnung stoßen würde. Dabei waren Hühner in Deutschland absolut in, das war ja das Verrückte. Vielleicht könnte sie die Hausbewohner im Gegenzug ja mit Eiern versorgen. Die Vorstellung gefiel ihr außerordentlich gut, womöglich konnte man da ein richtiges Geschäft ankurbeln. Sie beschloss, Radu diese fantastische Idee zu unterbreiten, sobald der von seiner Montage zurückkam.

Es klingelte und Frau Junsescu begab sich seufzend zur Wohnungstür. Kurz lugte sie durch den kleinen Türspion. Oh, verdammt. Da draußen stand Frau Hoffmann, ihren Bleistiftmund miesepetrig zusammengekniffen wie immer, daneben Frau Krause, die Tante vom Gregorchen, und außerdem kam auch noch der korpulente Mann von der Hoffmann ins Bild. Was wollten die drei Nasen von ihr? Besonders Herr Hoffmann machte sie nervös. Den sah man sonst nie, er war einer dieser grauen Bürohengste, die im Morgengrauen aus dem Haus galoppierten, in ihrem grauen Wagen in graue Firmen fuhren und abends mit wichtiger Miene und leicht zerknittertem Hemd zurückkamen. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Es klingelte wieder, diesmal klang es fordernder. Die Hühner, fiel es ihr schlagartig ein. Es mussten die Hühner sein. Wollten die drei sie etwa anzeigen? Fertigmachen? Es fehlte nur noch der alte Walter in diesem Bund. Schnell machte sie die Tür zum Wohnzimmer zu, aus dem ein beleidigtes kleines Gackern ertönte. Ach, sie würde alles abstreiten, ganz einfach. Dann öffnete sie die Wohnungstür.

»Gute Tag, Frau Hoffmann!«, rief sie überschwänglich. »Und auch Herr Hoffmann. Und Frau Krause, wie schön! Ein schöne Tag, nicht wahr?«

Die drei starrten sie einen Moment lang perplex an, dann räusperte sich Frau Krause.

»Frau Junescu, wir kommen wegen Ihrer Hühner.«

Also tatsächlich. Mist. »Wie?«, fragte Frau Junescu, sie stellte sich so dumm, wie es ihr möglich war, und wackelte verwundert mit dem Kopf.

»Ihre Hühner.«

Jetzt war ein überrascht-verwirrtes Lachen angebracht. »Hühner? Hier?« Sie drehte sich demonstrativ suchend nach allen Seiten um. Sie hatte doch keine Hühner!

»Frau Junescu, jetzt hören Sie mir mal zu. Wir wissen, dass Sie Hühner halten. Ich habe selbst eins davon gesehen. Es hat von Ihrem Balkon aus zu mir …« Frau Krause stockte kurz. »Hinuntergesehen.«

»Nicht möglich!« Frau Junescu schlug scheinbar erschüttert die Hände über dem Kopf zusammen. So schnell gab sie sich nicht geschlagen. »Das ist nicht möglich. Hausordnung sagt, keine Hühner. Also sind hier keine Hühner.«

In diesem Moment erklang ein vollmundiges, perfektes, jugendfrisches Krähen aus dem Wohnzimmer, die Tür ging auf und Anca trat in den Flur, den kleinen Hahn im Arm.

»Er hat gekräht, Mama!«, rief sie begeistert auf Rumänisch. Wie auf Befehl torkelten die anderen Hühner aus dem Zimmer, tappten neugierig in den Flur, legten die Köpfchen schief und beäugten Frau Krause und das Ehepaar Hoffmann, das wie zur Salzsäule erstarrt vor der Tür stand.

»Das da sind doch Hühner«, meinte Frau Krause unerschrocken. »Oder etwa nicht?«

»Tja.« Frau Junescu kratzte sich am Kopf. Da konnte sie jetzt schlecht widersprechen.

»Eigentlich kommen wir wegen der Laube«, äußerte sich Herr Hoffmann nun, während er eines der Hühnchen mit seinem Fuß daran hinderte, ins Treppenhaus zu flattern.

»Laube?«, fragte Frau Junescu zurück. Diesmal war ihre Verwirrung nicht gespielt. Die nächsten fünf Minuten stand sie still da und hörte sich an, was dieses kuriose Ehepaar ihr vortrug, denn es war – welch Wunder! – keine Sammelklage sämtlicher Hausbewohner gegen sie, sondern der Vorschlag, die Hühner in irgendeine Laube zu schaffen und im Gegenzug dort irgendwelche Stachelbeeren zu ernten und noch andere Früchte, soweit sie das verstand.

»Warum?«, gelang es ihr schließlich zu sagen.

»Nun, weil Sie ja Hühner haben und einen Stall brauchen, nicht?«, wandte sich Frau Hoffmann an sie, ohne dabei ihren wachsamen Blick von den Hühnern abzuwenden, die sich ganz besonders für ihre Schuhe zu interessieren schienen.

»Und Sie brauchen nicht Laube?«, fragte Frau Junescu verdutzt zurück, sie schien immer noch ohne richtig zu verstehen, was die eigentlich wollten. Das Ehepaar Hoffmann wechselte einen kurzen Blick. Einen Versöhnungsblick nach einem Ehekrach, da kannte sie sich aus. Die beiden hatten sich über irgendetwas gestritten und rätselhafterweise war sie offenbar der Grund für den Familienfrieden.

Herr Hoffmann setzte zu einer umständlichen Erklärung über seine Mutter an und dass das ihre Laube sei, die auf keinen Fall verkauft werden dürfe, sonst … Er verhaspelte sich, und seine Frau übernahm. Sie erzählte von der Schwiegermutter im Rollstuhl, die »nicht einfach« sei, und sie verdrehte die Augen, wenn ihr Mann nicht hinsah. Obwohl Frau Junescus Deutsch selbst nach sieben Jahren in Deutschland eher rudimentär war, fing sie allmählich an zu begreifen. Es ging um Geld. Um Herrn Hoffmanns Erbe, das dieser Schwiegerdrachen nicht rausrücken wollte, solange die Laube nicht gehütet und gepflegt wurde. Beinahe hätte sie aufgelacht. Jaja, alte Frauen – die waren nicht zu unterschätzen. Wer zwei erwachsene Menschen derart in die Enge treiben konnte, der hatte es faustdick hinter den Ohren.

»Sie wollen mir Laube geben?«, erkundigte sie sich, immer noch voller Misstrauen.

»Nicht schenken«, widersprach Herr Hoffmann sofort. »Nur … äh … überlassen.«

»Ich haben aber kein Geld«, erklärte Frau Junescu kategorisch und breitete die Arme aus, um die Leere in der Haushaltskasse zu demonstrieren. Die Deutschen verschenkten doch nie etwas, die verkauften ja sogar ihre alten Bierdeckel auf dem Flohmarkt. Was genau ging hier vor?

»Sie müssen auch nichts bezahlen, Frau Junescu.« Herr Hoffmann sprach betont langsam und geduldig. »Sie sollen nur die Laube, also das Grundstück, den Garten ein bisschen … äh … pflegen.« Nun flatterte sein Blick nervös durch den Flur der Junescus, über die chaotische Schuhsammlung zu den zwei Fahrrädern, dem Roller und dem schönen gestreiften Wandbehang, den das Gregorchen so mochte.

Jetzt verstand Frau Junescu endlich. »Aber wieso ich?«

Frau Krause öffnete den Mund. »Gregor hat uns auf die Idee gebracht.«

Ihr Gregorchen, dieser liebe, dicke Schatz, mit dem sie so gern Tarotkarten legte, auch wenn er manchmal eine mitgehen ließ. Aber das machte nichts, sie hatte so viele davon und tat immer so, als ob sie es nicht bemerkte. Gregorchen hatte die drei Helden hier auf diese kluge Idee gebracht. War denn das zu fassen?

»Danke, danke«, rief sie auf Rumänisch und fiel Frau Hoffmann voller Rührung um den Hals, die ein erschrockenes kleines Quieken von sich gab. Klapperdürr war die Frau, kein Gramm Fett, wie die meisten heutzutage. Die brauchte was auf die Rippen, damit sie endlich den sauertöpfischen Zug um den Mund verlor. Eine Hühnerbrühe würde sie der Frau Hoffmann bringen, sobald das erste Huhn geschlachtet war. Frau Junescu wurde so von Rührung und Dankbarkeit überwältigt, dass ihr die Tränen kamen.

»Aber nun weinen Sie doch nicht«, sagte Frau Krause bestürzt.

»Ist Glück.« Frau Junescu wedelte mit den Händen. »Ist nur Glück. Kommen Sie rein, kommen Sie rein, trinken wir auf Glück.«

»Also, ich weiß nicht, ob …«, setzte Frau Hoffmann an, doch sie wurde von ihrem Mann am Weiterreden gehindert, der sie durch die Tür schubste.

Frau Junescu schnäuzte sich, scheuchte zwei Hühnchen aus dem Weg und führte das Dreiergespann in ihre gute Stube.

»Setzen!«, befahl sie und öffnete die Schranktür. Das war ein Anlass zum Feiern. Dafür rückte sie gern den guten Țuică raus, den besten Pflaumenschnaps der Welt, den Radu neulich von einem Freund geschenkt bekommen hatte. Sie goss die Gläser randvoll und reichte sie den Überraschungsgästen.

»Prost!« Sie kippte ihres auf ex hinunter, und Herr Hoffmann machte es ihr nach. Seine Frau und Frau Krause hingegen nippten wie magenkranke Spatzen daran herum. Herr Hoffmann ließ sich ein zweites und noch ein drittes Mal nachschenken. Kein Wunder bei dieser Frau, aber wenn da andererseits so ein Schwiegermonster in der Wohnung hockte, dann hatte die Arme wahrlich nichts zu lachen. Unter jedem Dach saß ein Ach, so war nun mal das Leben.

Weil ihr nichts einfiel, was sie zu Frau Hoffmann sagen konnte, und weil die Hühner immer lauter wurden und Herr Hoffmann immer zügelloser trank, wandte sie sich an Frau Krause: »Gregorchen ist ein guter Junge. Ganz guter Junge.«

»Ja, das ist er.« Frau Krause lächelte.

Eine nette Frau war das eigentlich. Man sah sie nur so selten und was war eigentlich mit ihrer Schwester, die angeblich andauernd schlief? Frau Junescu beschloss im Stillen, den armen Krauses eine Portion der künftigen Hühnerbrühe abzugeben.

»Prost!«, rief Herr Hoffmann vergnügt und stieß erneut mit ihr an. Ach, wenn Radu doch jetzt nur da wäre, wie der sich freuen würde! Endlich hatten sie mal Besuch von diesen steifen Deutschen aus dem Haus.

Nach fast einer Stunde hatten sie das meiste geklärt. Die Junescus würden den Garten pflegen und ihre Hühner dort halten und den Hoffmanns dafür etwas von den Früchten abgeben. So lange, bis die Schwiegermutter endlich unter der Erde lag, was natürlich von niemandem direkt ausgesprochen wurde, aber Frau Junescu hatte schließlich Augen und Ohren im Kopf. Als die Hoffmanns und Frau Krause wieder gingen, verabschiedete Herr Hoffmann sich wesentlich temperamentvoller von ihr, als er sie begrüßt hatte. Ja, der gute rumänische Pflaumenschnaps, der hatte bislang noch jedem die Zunge gelockert.

Frau Junescu winkte zum Abschied fröhlich, doch die Hoffmanns gingen nicht die Treppe hinunter, sondern blieben vor der Tür vom alten Walter stehen.

»Wir fragen den jetzt einfach«, hörte sie Frau Hoffmann leise sagen. »Los, komm. Warum denn nicht?«

Nanu? Was wollten die denn vom alten Walter? Hatten sie noch eine andere Laube zu vergeben? Frau Junescu schloss diskret die Tür, allerdings nur, um sie dann einen winzigen Spaltbreit wieder zu öffnen. Draußen ging das Gezischel weiter.

»Ich will das geklaute Besteck nicht. Aber vielleicht hat er ja noch ein zweites. Oder er kann noch eins bauen. Das wäre doch die perfekte Lösung!«

Die Hoffmanns klauten Besteck? Nicht zu fassen. Frau Junescu verstand kein Wort, aber das machte nichts. Es war trotzdem spannend, denn jetzt klingelte die Hoffmann tatsächlich an der Tür vom alten Walter, dabei hatten die ja sonst nichts mit dem Mann zu schaffen, das hätte sie ja gewusst.

»Viel Spaß«, murmelte Herr Hoffmann jetzt höhnisch.

»Schlimmstenfalls knallt er die Tür wieder zu, na und? Wir werden es überleben«, gab seine Frau zurück.

Die Tür ging auf und der alte Walter erschien wie ein sauer eingelegter Zombie im Türrahmen. »Tag«, knurrte er misstrauisch.

»Guten Tag, Herr Walter, das mag jetzt etwas ungewöhnlich erscheinen, aber wir hätten da mal eine Bitte an Sie«, fing Frau Hoffmann forsch an. Dann verstummte sie und knuffte ihren Mann leicht in die Seite.

»Wir wollten gern so ein Besteck von Ihnen«, erläuterte Herr Hoffmann und er schwankte dabei leicht.

»Sagen Sie mal, sind Sie angetrunken?« Herr Walter trat einen Schritt zurück.

»Ja«, gab Herr Hoffmann freimütig zu. »Das war der Pflaumenschnaps von Frau Junescu.«

Wie auf Befehl sahen jetzt alle drei zu Frau Junescus Wohnungstür. Ertappt schloss sie rasch den kleinen Spalt. Seltsam, sehr seltsam das alles. Die wollten Besteck vom alten Walter borgen? Und hatten schon welches geklaut? Hatten die denn kein eigenes im Haus? Die Hoffmanns machten eigentlich nicht den Eindruck, als ob sie mit Fingern von Papptellern essen würden. Sehr seltsam …

Aber dass das liebe Gregorchen an sie gedacht und ihr die Laube zugeschanzt hatte, das war doch ein Glückstreffer, wie ihn nur wenige Menschen im Leben erfahren durften. Fast kamen ihr wieder die Tränen. Es gab doch noch gute Menschen auf der Welt. Darauf noch einen winzigen Schluck Țuică!