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Eigentlich hatte Lars den neu erworbenen Grill auf der kleinen Terrasse aufstellen wollen, aber jetzt musste er einsehen, dass da eindeutig kein Platz war. Dort befanden sich bereits ein Wäscheständer von Laura und außerdem ihre tausend Grünpflanzen. Nichts davon wagte er wegzuräumen, weder ihre zartrosa, zum Trocknen aufgehängte Strickjacke noch die Sporthemdchen, die sie zum Joggen trug und die ihre Figur so toll betonten, und erst recht nicht den wuchernden Tomatenbusch im Topf, denn sobald man diese hochempfindlichen Tomatenbiester aus ihrem Lichtwinkel schob, sackten sie in sich zusammen und vergammelten. Alles, was dann übrig blieb, waren schrumplige, deformierte oder aufgeplatzte Tomaten, die als stummer Vorwurf an seine grenzenlose Unfähigkeit als WG-Bewohner demonstrativ an ihrem Busch verendeten. Nein, das ging auf gar keinen Fall.

Laura hatte ohnehin immer so schlechte Laune. Obwohl – seit einer Woche war sie wie verwandelt, heute zum Beispiel war sie strahlend aus ihrem Zimmer gekommen, hatte endlich mal wieder über seine Witze gelacht, einen Song im Radio mitgesummt und sich mit an den Tisch gesetzt, um mit ihm einen Kaffee zu trinken. Es musste die Vorfreude auf die Grillparty heute Abend sein, die sie so fröhlich stimmte, und deshalb musste er diesen Scheißgrill jetzt irgendwo unterbringen, damit die ganze Angelegenheit nicht in die Hose ging. Sieben Freunde hatte er eingeladen und selbst ihrer blöden Freundin, dieser Jana, großmütig erlaubt zu kommen, außerdem kamen noch irgendwelche Leute aus Lauras Projektgruppe.

Lars hatte eingekauft wie ein Verrückter, er wusste ja, dass die meisten Gäste knapp bei Kasse waren, allen voran Laura. Steaks, Grillkäse, Baguette, Wein, kistenweise Bier und sogar Gemüsespieße, falls irgendjemand Vegetarier war. Es war so viel Zeug, dass er sogar das Auto genommen hatte, obwohl er normalerweise versuchte, aus Umweltgründen alles mit dem Rad zu erledigen. Außerdem hatte er erstmals in seinem Leben Nudelsalat zubereitet und zu diesem Zweck sogar mit seiner Mutter telefoniert. Leider war sie nur allzu bald vom Nudelsalat auf seine letzten Prüfungen zu sprechen gekommen. Es war nicht zu fassen. Sie konnte die Namen seiner Freunde nicht auseinanderhalten und verlor dauernd ihren Schlüssel oder ihre Geldbörse, aber an seine verdammten Prüfungstermine erinnerte sie sich. Wohl oder übel musste er antworten und sich etwas einfallen lassen. Ja, er hatte die Prüfung geschrieben. Nein, er hatte leider noch keine Ergebnisse. Bei dieser infamen Lüge war er in ein gelangweiltes Nuscheln abgerutscht, schließlich wusste er die Ergebnisse schon seit drei Tagen. Er war durchgefallen. Wie immer, und seine Mutter schien irgendwas zu spüren. Als sie sich schließlich auch noch an den immer noch nicht organisierten Praktikumsplatz erinnerte, blieb ihm nur die Flucht nach vorn.

»Sag mal, wusstest du, dass Onkel Eckhardts ehemalige Freundin hier in meinem Haus wohnt? Die Bandsängerin. Genau über mir. Sie sieht aus wie Elvis kurz vorm Ende, nur in Blond und weiblich. Das ist doch der Hammer, oder?«

Erwartungsgemäß verschlug es seiner Mutter bei dieser Nachricht eine Sekunde lang die Sprache.

»Nein«, stieß sie endlich hervor, mit einem kaum verhohlenen Hauch von Neugier in der Stimme. »Im Ernst?« Vergessen waren die Prüfungen, das leidige Praktikum und das Studium, das sich hinzog wie alter Kaugummi.

Lars berichtete seiner Mutter alles, was er über Frau Dürer wusste, und übertrieb dabei noch ein bisschen, damit seine Mutter am Ball blieb und das gefährliche Terrain seines Studiums nicht noch einmal betrat. Frau Dürer wurde in seinen Berichten immer fetter und unförmiger, sie trug offene Schnapsflaschen in der Handtasche herum, die sie wie ihre Babys liebkoste, sie torkelte durchs Treppenhaus und lallte Obszönitäten und hatte ein altes Foto von Onkel Eckhardt an die Wand gepinnt, auf das sie im betrunkenen Zustand Dartpfeile abfeuerte. Doch, doch, das hatte er ganz genau gesehen, als er neulich an ihrer Tür vorbeigelaufen war. Seine begeisterte Mutter lieferte ihm im Gegenzug alles, was sie über Eckhardts dunkle Vergangenheit wusste – dass dieser jahrelang in einer furchtbaren Band herumgetingelt war, angestiftet von dieser grässlichen Person, dieser Dürer, die das Letzte aus ihm herausgesaugt und nie genug gekriegt hatte und vor der Onkel Eckhardt nur durch die heilsame Heirat mit Tante Susanne gerettet worden war. Aber Tante Susanne gab es ja leider nicht mehr, die war dem Eckhardt irgendwann davongelaufen, wer wollte es ihr verübeln.

Als seine Mutter sich genüsslich satt geredet und leer gelästert hatte, legte Lars schnell auf, um die gute Stimmung nicht zu verderben, und googelte anschließend nach Eckhardts Band. Gnadenlos – was für ein bescheuerter Name. Aber Tatsache, das war Frau Dürer. Gut sah die damals aus, ein richtig heißer Feger. Was war nur passiert? Lars dachte eine Weile lang über Frau Dürer nach, bis seine Gedanken wieder zu Laura und zu der Party heute Abend wanderten. Der Nudelsalat war ihm verdammt gut gelungen und jetzt musste er nur noch die Sache mit dem Grill erledigen. Wohin bloß damit? Es blieb nur der Hof hinten. Der war zwar nicht sehr grün und auch nicht besonders romantisch, aber wenigstens war man dort relativ ungestört.

Er würde gleich mal die Lage checken und schnappte sich den Grill und die Holzkohle. In einer halben Stunde kamen die anderen.

 

»Hallo, Lars.«

Er blickte auf. Vor ihm stand Gregor, aber es hätte genauso gut der Prinz von Togo sein können, jedenfalls dem Outfit nach. Der Junge hatte trotz der Wärme eine merkwürdige, viel zu kleine gestreifte Stola um, die sich wie ein elisabethanischer Kragen um seinen Hals kräuselte. »Hallo.«

»Willst du jetzt also grillen?«

»Genau.«

»Was denn alles?«

»Na … was man halt so grillt. Steak und so.«

»Ich mag auch Steak. Früher haben wir das nicht gegessen, aber jetzt. Nur nicht so oft.«

Lars verstand. »Ey, Gregor, du kannst da leider nicht mitessen. Das ist für meine Kumpels und so.«

»Kommt Laura auch?«

»Natürlich.« Das sagte er nicht ohne Stolz, aber merkwürdigerweise fragte Gregor nicht weiter nach ihr, dabei interessierte ihn doch sonst immer alles brennend. Stattdessen erkundigte er sich nach etwas anderem.

»Gefällt dir dein Studium immer noch nicht?«

»Nope.« Lars schichtete Kohle auf den kleinen Grill. Jetzt fing Gregor auch noch damit an. Hatte sich denn die ganze Welt gegen ihn verschworen? »Ist voll der Scheiß.«

»Weil du da Menschen nicht helfen kannst?«

Das hatte der Junge sich also gemerkt. »Genau.«

»Super.« Gregor strahlte ihn an. »Ich weiß nämlich, wie du Menschen helfen kannst, obwohl du so ein Scheißstudium machst.«

Lars hielt verblüfft inne. Aus Gregors Mund klang ein solches Wort fehl am Platz, als ob Schimpfwörter normalerweise einen Bogen um ihn herummachten. »Wie meinst du das?«

»Du willst doch Menschen helfen. Die Junescus sind Menschen. Und sie brauchen Hilfe.«

»Die Junescus? Von oben?« Sein Blick kletterte an der Hauswand hoch, als ob Frau Junescu tatsächlich jeden Moment ihren Kopf aus dem Fenster stecken und gellend um Hilfe schreien würde.

»Ja. Frau Junescu hat jetzt einen Garten. Für ihre Hühner. Aber sie hat kein Auto, um die Hühner dahin zu schaffen, weil ihr Mann auf Montage ist. Das hat sie mir erzählt.«

Hühner? Also doch. Du lieber Himmel. Was Gregor immer alles wusste … »Und?«

»Du hast ein Auto. Ich hab es vorhin gesehen. Es ist grün. Eine schöne Farbe.«

Das Popelgrün seines alten VW als schön zu bezeichnen war ja wohl geschmeichelt. »Und du meinst, ich soll Frau Junescus Hühner durch die Gegend kutschieren?« Endlich verstand Lars, woher der Wind wehte, und er breitete die Arme aus, um ein Flattern anzudeuten. »Eine Art Hühnertaxi? Gack, gack, gack?«

»Genau.« Gregor nickte feierlich, er hatte das nicht als Witz gemeint.

Lars verschluckte sich vor Schreck an seinem eigenen Lachen. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

»Doch. Die Hühner müssen ja dorthin und ein Auto ist der schnellste Weg. Das hab ich im Internet bei Google Maps ausgerechnet. Das kennst du vielleicht?«

»Ich …«

Gregor ließ ihn nicht ausreden. »Mit der Straßenbahn muss man zweimal umsteigen, es dauert dreiundzwanzig Minuten. Mit dem Bus muss man nur einmal umsteigen, aber dafür länger laufen und es dauert zweiundvierzig Minuten. Mit dem Auto dauert es nur zwölf Minuten, vorausgesetzt, es ist kein Stau oder Unwetter, aber der Wetterbericht für heute Abend und morgen ist gut, leichte Frühnebel und dann Sonnenschein und vierundzwanzig Grad, außer im Südwesten der Repub…«

»Moment, Moment.« Lars presste den Finger an die Schläfen. »Ich … okay. Mal ganz langsam. Wo ist der Garten?«

»Im Nordviertel. Willst du es Frau Junescu gleich sagen, dass du ihr hilfst? Sie ist zu Hause.«

»Nein, also das geht jetzt nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Na, weil gleich meine Party anfängt. Grillen, schon vergessen?«

»Ach so.« Gregor sackte deprimiert in sich zusammen und Lars biss sich auf die Lippe. Herrgott noch mal. Wenn jemand an sein Mitleid appellierte, dann konnte er einfach nicht Nein sagen. Genau das war ja sein Problem.

»Okay, ich mach’s«, seufzte er nach einer ungemütlichen kleinen Pause. »Zufrieden? Aber nicht jetzt. Morgen.«

»Super.« Gregor wippte ein wenig auf der Stelle. Dann winkte er plötzlich jemandem, der offenbar direkt hinter Lars war. »Frau Dürer! Das hier ist Lars. Sein Onkel ist Ecki, das habe ich Ihnen doch erzählt. Lars weiß, wo Ecki wohnt, stimmt’s?«

Wie in Zeitlupe drehte Lars sich um. Oben im zweiten Stock schaute Frau Dürer aus dem Fenster, Zigarette im Mund und trotz des warmen Sommertages in etwas Weißes und Felliges gehüllt. Von hier unten sah sie aus wie ein dampfender Eisbär. Lars konnte Züge der jungen Frau Dürer in ihrem schwammigen Gesicht erkennen. Es war unglaublich, wie ein Mensch sich so verändern konnte. »Tag.« Er wedelte kurz zum Gruß mit der Grillzange.

»Ist das wahr?«, fragte Frau Dürer von oben. »Sie kennen meinen Ecki?«

»Ja, klar. Das ist mein Onkel. Die Welt ist ein Dorf, was?« Er lachte.

Frau Dürer lachte nicht zurück. »Wo lebt er denn jetzt?«

»Er wohnt nur ein paar Straßen weiter. In der Kantstraße vierzig.« Oh, shit. Das war ihm jetzt rausgerutscht. Hoffentlich war Onkel Eckhardt nicht sauer, dass er es der Dürer verraten hatte. Andererseits – Lars redete sowieso nicht mit seinem Onkel, es konnte ihm also völlig egal sein, was der von ihm dachte.

»Kantstraße«, wiederholte Frau Dürer leise, geradezu fassungslos. »In der Kantstraße wohnt er.«

»Da können Sie ihn mal besuchen«, mischte Gregor sich ein.

»Hey!« Lars schoss ihm einen warnenden Blick zu, aber Gregor bekam das natürlich nicht mit. Außerdem fing der Grill jetzt mörderisch an zu qualmen, das Feuer ging nicht so richtig an. Verärgert beugte Lars sich darüber. Vielleicht gewann er ja doch den Riesengrill. Der wäre sicher viel besser.

»Na, was gibt es denn Gutes?«, fragte eine helle Stimme hinter ihm. Lars fuhr herum, ein erwartungsfrohes Lächeln im Gesicht, das ihm allerdings sofort wieder entglitt. Laura stand da, frisch und schön wie eine Sommergöttin, die braunen Beine in Shorts und Flip-Flops an den Füßen, die Zehennägel perlmuttrosa lackiert. Links neben ihr standen zwei unbekannte Mädchen, keines so hübsch wie sie, und rechts stand ein Typ mit halblangen lockigen Haaren und dem muskulösen Körper von jemandem, der definitiv nicht den ganzen Tag lang idiotische Strategien zur Konkursvermeidung büffelte, sondern noch vor dem Frühstück auf Zweitausender joggte, ein Kanu über wilde Gebirgsflüsse lenkte oder knackige hundert Kilometer Rad zum Aufwärmen fuhr. Ein Extremsportler. Fitnessfreak. Ein Tarzanverschnitt. Der Typ stand nicht nur da, nein, er grinste arrogant und hielt Laura fest. Hatte den Arm besitzergreifend um ihre Schultern gelegt, und seine Finger spielten an ihrem Ohrläppchen herum. Warum ließ Laura das zu? Lars schluckte.

»Das sind Lisa und Jenny«, stellte Laura ihre Freundinnen fröhlich vor. »Und das hier ist Damian, mein Freund.« Kleines zartes Küsschen auf Tarzans Wange. »Sollen wir dir was helfen?«