Atmete Marlene tatsächlich schneller? Judith konnte es schwer einschätzen, aber wenn Doktor Lindig das sagte, dann würde es wohl stimmen. Er hielt es auch für eine gute Idee, Marlene lauter positive Dinge zu erzählen, das würde ihr helfen.
»Wir machen heute eine Radtour«, plapperte Judith daher drauflos und hielt Marlenes Hand so fest, dass sie sie fast quetschte. »Wir nehmen die Räder im Zug mit und fahren zehn Kilometer den Fahrradweg an den Weingütern entlang. Gregor freut sich schon.«
Blinzelte Marlene etwa? Freute sie sich über diese Neuigkeit? Judith hatte die Zeichnung von Gregor und Marlene mitgebracht und an die Wand gepinnt. Wenn Marlene aufwachte, würde es das Erste sein, was sie sah. Wie früher in ihrem gemeinsamen Zimmer. Marlenes Wandseite hing voller Hippiekram, Peace-Zeichen und Fotos psychedelischer Bands, Judiths Seite des Zimmers war voller Zeichnungen.
Das war damals gewesen, als ihre beiden Leben noch geradlinig und parallel verliefen und Marlene nur ein bisschen verträumter und chaotischer war als Judith. Sie spürte, wie sich eine Träne in ihr Auge drängte. Irgendwann hatte das Schicksal sie in verschiedene Richtungen gelenkt – ein paar Missverständnisse und eine Menge allzu vorsichtige oder überstürzte Entscheidungen, Männer von entgegengesetzten Enden des Spektrums, unterschiedliche Lebenspläne und Karrieren und schließlich höfliche, stille und gesittete Besuche einmal im Jahr. Es tut mir leid, wollte Judith ihrer kleinen Schwester zurufen. Es tut mir leid, dass wir uns so selten sehen und dass wir uns irgendwo verloren haben. Aber natürlich rief sie nichts, sondern lächelte nur beherzt, weil Gregor seiner Mutter jetzt den ulkigen kleinen Poncho aufs Bett legte, den er angeblich von Frau Regner geschenkt bekommen hatte, auch wenn Judith sich nicht sicher war, ob er wirklich die Wahrheit sagte.
»Tschüss, Marlene«, sagte sie laut. »Wir kommen bald wieder. Und das nächste Mal kannst du uns bestimmt schon wieder sehen.«
Der Bahnsteig war voll wanderlustiger Leute, hibbeliger Kleinkinder, gestresster Familienmütter und sportlicher Väter, eiserner Ü-60-Frauen im Freizeitlook sowie gefühlter Hunderter anderer Radfahrer, die sich gegenseitig misstrauisch beäugten und heimlich ihren Vorsprung zur Zugtür sicherten, indem sie sich millimeterweise vorwärtsarbeiteten, um beim Eintreffen des Nahverkehrszuges ihr Fahrrad als Allererstes ins Abteil wuchten zu können.
Achim hielt sein Rad mit stählernem Griff fest und rührte sich nicht vom Fleck, sondern versuchte, die Leute um sich herum mit Blicken einzuschüchtern. Immerhin waren sie die Ersten auf dem Bahnsteig gewesen, hatten also gewisse Vorrechte, aber es funktionierte trotzdem nicht. Als das lächerlich kleine Züglein einfuhr, wälzte sich eine ganze Völkerwanderung lärmend an ihm vorbei in die Waggons, wobei nur noch die alleroberflächlichsten Formen der Höflichkeit gewahrt wurden und die Leute sich wahllos diverse Körperteile in die verbissenen Gesichter rammten.
»Bleib bei mir, wir stellen uns gleich hier links hin«, rief Judith über die Schulter Gregor zu, der hinter ihr stand. »Wir fahren nur eine Station.« Herrgott noch mal. Hatten diese ganzen Leute denn nichts anderes zu tun, als genau das, was sie und Achim und Gregor auch vorhatten? Warum mussten die so sperrige Kinderwagen und Rucksäcke dabeihaben? Wer brauchte so viel Krempel? Warum blieben die nicht alle zu Hause und guckten Fernsehen?
Ein Stück Metall von einem Rucksack bohrte sich in ihren Rücken. »Au, Gregor, pass doch auf!«, rief sie in den Pfiff des Schaffners hinein. Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Keuchen. Judith stand eingekeilt zwischen einer Wand von Leuten, umklammerte ihren Lenker und drehte sich um. »Gregor hörst du nicht? Das sticht mich.«
Hinter ihr stand aber nicht Gregor. Hinter ihr stand ein Mann mit Vollbart und kariertem Hemd, der sie böse ansah. »Ich kann mich ja nicht in Luft auflösen«, feuerte er zurück und schob wie zum Beweis sein Fahrrad noch ein Stück näher an Judith heran.
»Gregor?«, sagte sie verblüfft. »Wo bist du?«
Keine Antwort.
»Achim?«, rief Judith, einen Anflug von aufkommender Panik in der Stimme. »Ist Gregor bei dir?«
»Nee«, kam seine Stimme von irgendwo aus dem Gewühl. »Ich denke, der ist bei dir?«
Ein eiskalter Schrecken durchfuhr Judith, sie drängte den bärtigen Mann rigoros zur Seite, ohne auf seinen Protest zu achten, riss sich an etwas Spitzem die Wade auf, schob Menschen auseinander – und dann sah sie ihn. Gregor stand auf dem Bahnsteig draußen, hielt geistesabwesend sein Fahrrad fest und betrachtete völlig versunken die Infotafel mit der Wagenreihung. Er zählte offenbar die Waggons an ihrem Zug, seine Lippen bewegten sich lautlos, und er merkte nicht, dass der Zug längst abfuhr.
»Gregor!«, rief Judith, aber es kam nur ein Krächzen heraus, der Zug rollte los, Gregor stand da draußen und sie waren hier drinnen, von Idioten umgeben wie dem bärtigen Mann, der »Jetzt drängeln Sie doch nicht so!« giftete. Der Zug fuhr schneller, schon lag der Bahnsteig hinter ihnen, ein letztes Schild, dann Bäume, Vorortsiedlungen.
Sie musste die Notbremse ziehen, aber wo war die? Judith versuchte, Achim zu rufen, aber ihre Stimme funktionierte nicht mehr, es kam einfach kein Ton heraus. Sie hatten gerade Gregor auf dem Bahnsteig verloren, verdammt noch mal. Achims Arm kam in ihr Blickfeld und mit letzter Kraft zerrte sie daran, als wäre der die Notbremse. Sein Gesicht schob sich zwischen zwei Rücken zu ihr durch. »Was ist denn?«
»Gregor stand noch auf dem Bahnsteig, der ist nicht mitgekommen«, gelang es ihr endlich zu sagen und dann fing sie an zu heulen.
Ehe sie in der brodelnden menschlichen Füllung des Waggons die Notbremse gefunden hatten, war der Zug bei der nächsten Station angekommen und hielt an. Judith und Achim stürzten ohne Rücksicht auf Verluste hinaus, sahen sich hektisch um, als ob Gregor wie durch ein Wunder in letzter Minute doch noch aufgesprungen wäre, um ihnen nun fröhlich entgegenzuschlendern, aber da war niemand, absolut niemand. Es gab keinen Bahnbeamten, keinen Fahrkartenschalter, überhaupt nichts, nur sonnenhungrige und wochenendgeile Wanderer und Radfahrer, denn hier ging der zwanzig Kilometer lange Weg am Ufer des Flusses und entlang der Weingüter los.
Weil Gregors Handy selbstverständlich zu Hause lag und sie sich keinen anderen Rat wussten, fuhren sie die gesamten, mit dem Zug zurückgelegten zehn Kilometer mit dem Rad wieder zurück. Eine hässliche holprige Landstraße entlang, aber Gott sei Dank ging es bergab. Sie rasten beide wie nie zuvor in ihrem Leben, und Judith verspürte grenzenlose Dankbarkeit dafür, dass Achim sie so oft zum Radfahren überredet hatte, denn nun war sie fit genug, mit ihm mitzuhalten.
Als sie zwanzig Minuten später keuchend und feuerrot im Gesicht wieder beim Ausgangsbahnhof ankamen, stand Gregor noch genau an derselben Stelle vor dem Plakat mit der Wagenreihung. Achim ging zu ihm hin, doch anstatt ihn anzuschreien, wie er es bei Frank getan hätte, legte er ihm nur die Hand auf die Schulter. Gregor drehte sich erstaunt um.
Judith ließ ihr Rad fallen und umarmte ihren Neffen spontan, obwohl er das doch hasste. »Gott sei Dank, du bist noch da.«
»Guckt mal.« Gregor deutete auf den Aushang. »Die Züge, die sonntags fahren, haben immer zwei Wagen weniger und dafür die roten Abteile hinten. Das sind aber nur die Züge auf dieser Strecke hier. Deshalb kann man das nicht für alle Züge sagen. Wann kommt denn überhaupt unserer?«
Die Radtour wurde trotz des chaotischen Beginns noch ein voller Erfolg. Gregor radelte zwar unglaublich langsam, aber da Achim sich bereits auf der Hetzjagd zwischen den zwei Bahnhöfen ausgepowert hatte, störte das niemanden. Dann fuhren sie eben langsam und ließen sich von aller Welt überholen. Sie kauften in einem kleinen Ausflugslokal zwei Gläser Wein für sich und eine Apfelschorle für Gregor und setzten sich auf die Wiese, um auf den Fluss zu schauen.
»Hier ist es schön.« Gregor zupfte ein paar Grashalme ab. »Das macht mich glücklich. Seid ihr mit Frank auch immer hierhergefahren?«
Die Frage kam so unvermittelt, dass Judith ohne nachzudenken antwortete: »Ja, ganz früher. Aber dann wollte er nicht mehr mitkommen.«
»Warum denn nicht?«
»Weil …« Sie senkte den Blick. Weil Achim sich dauernd ein idiotisches Wettrennen mit ihm liefern wollte. Weil es Frank irgendwann peinlich war, mit seinen Eltern durch die Gegend zu radeln, und weil Achim das nicht verstand. Sie hatte es erst auch nicht verstanden. Ein Familienausflug – was war denn schon dabei? Hatten sie das nicht immer sonntags gemacht? Aber nicht mehr mit sechzehn, hatte Frank gesagt und dann irgendwann zu einem Trick gegriffen. Er kam Samstagnacht einfach nicht mehr nach Hause und tauchte erst Sonntagabend wieder auf. Fertig. Trotzig und stur waren sie dann eben am Wochenende zu zweit geradelt, hatten sich angeschwiegen, Luft aufgepumpt, langweilige Fotos geschossen und die vorbeiziehende Landschaft übertrieben laut bewundert, als ob Frank sie auf geheimnisvolle Weise hören und sich darüber ärgern würde, was er alles verpasste.
»Weil Frank seine eigenen Wege gehen wollte«, beantwortete Achim jetzt Gregors Frage. »Das haben wir damals nur nicht so richtig verstanden.«
Judith sah überrascht hoch. Hatte er das jetzt wirklich gesagt?
»Es sind heute bestimmt fünfundzwanzig Grad«, meinte Gregor übergangslos.
»Nee, mindestens dreißig. Wollen wir wetten?« Achim schnappte sich Judiths Handy, das neben ihr im Gras lag. »Mal sehen, wer recht hat. Der berühmte Wetterfrosch Gregor Kolb oder ich.« Er blickte auf Judiths Handy, wischte darauf herum, hielt plötzlich inne und sah mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck kurz zu seiner Frau hinüber. »Du hast recht, Gregor. Es sind fünfundzwanzig Grad.«
»Sag ich doch!« Gregor freute sich wie verrückt.
»Holst du uns noch was zu trinken?« Achim zückte einen Schein und reichte ihn dem Jungen. »Noch eine Apfelschorle?«
Judith wurde wachsam. Wollte Achim ihn etwa loswerden? Und tatsächlich, sobald Gregor außer Sichtweite war, wandte Achim sich an Judith. »Sag mal, warum googelst du nach Sorgerechtsregelungen?«
Sie spürte, wie die Röte ihren Hals hochkroch. Das hatte er also eben entdeckt. »Ich … ich wollte einfach mal wissen, wie das funktioniert. Falls …« Sie konnte nicht weiterreden. Es war klar, was gemeint war.
»Aber Doktor Lindig hat doch gesagt, dass sie bald aufwachen wird?«
»Ja, natürlich«, versicherte Judith hastig. »Es ist auch schon eine Weile her, dass ich das gesucht habe.«
»Und wie sind die Regelungen?«, fragte Achim nach einem Moment des Schweigens.
»Die Sache ist kompliziert, wie du dir sicher vorstellen kannst. Aber ich … ich würde es einfach nicht ertragen, wenn Gregor irgendwohin käme, wo man ihn nicht liebt.« Mist, jetzt fing sie hier auch noch an zu heulen, dabei kam Gregor schon mit seiner Apfelschorle zurück.
»Ich auch nicht«, sagte Achim leise. »Ich doch auch nicht.«
Als sie am Abend von Sonne, frischer Luft und Wein ermattet nach Hause kamen, stand der grüne VW von Lars vor der Haustür, der Kofferraum sperrangelweit offen, daneben Frau Junescu, die wild gestikulierte. Judith reckte den Hals.
»Lars hilft Frau Junescu.« Gregor freute sich.
»Was laden die denn da ein?«, fragte Achim. »Sind das etwa …?«
»Jep. Hühner.« Judith nickte Frau Junescu zu. »Auf dem Weg in ihr neues Zuhause.«
»Die haben also wirklich Hühner? Ich fasse es nicht. Und woher weißt du das?«
»Von Gregor.«
Judith zwinkerte ihrem Neffen zu. Die Hühner saßen in einer Kiste, aus der sie eindeutig schon herausgewachsen waren, und ruckten verwirrt mit den Köpfchen. Hoffentlich ging das gut. Hoffentlich flatterten die nicht während der Fahrt im Auto herum. Das war wirklich nett von diesem Lars. Judith hatte gar nicht gewusst, dass der irgendetwas mit den Junescus zu schaffen hatte.
Oben im dritten Stock stand Herr Walter wie ein Feldwebel auf seinem Balkon und beobachtete das Treiben auf der Straße. Als er entdeckte, was die Kiste enthielt, beugte er sich so weit vor, dass Judith einen Moment lang befürchtete, er würde über die Balkonbrüstung kippen.
»Hühner. Neues Zuhause.« Achim kapierte überhaupt nichts mehr. »Wieso wissen das alle und nur ich nicht?«
»Schau mal.« Statt einer Antwort deutete Judith jetzt auf die Haustür, durch die sich eine imposante Erscheinung schob. Es handelte sich um Frau Dürer in einem schwarzen, glänzenden Kleid, um den Hals ein getigertes Tuch, die Haare zu einem luftigen Baiser aufgetürmt, dazu Motorradstiefel und jede Menge Silberschmuck.
»Kneif mich mal«, sagte Achim leise. »Wo will die denn hin?«
Frau Dürer setzte ihre Füße vorsichtig auf das Pflaster des Gehwegs, als ob sie erst austesten müsste, wie sicher sie noch in Schuhen laufen konnte, die nicht die Konsistenz von Kuchenbrötchen hatten wie ihre ewigen Hausschuhe, dann steuerte sie auf Lars zu, wechselte ein paar Worte mit ihm und schritt zügig, aber ohne Hast die Brunnerstraße entlang. Sie wirkte wie eine Operndiva, die aus Versehen auf dem Weg zur Bühne den falschen Ausgang genommen hatte.
»Frau Dürer hat ein Date«, informierte Gregor sie beide. »Mit Ecki.«
Achim fuhr herum. »Was? Mit wem?«
»Woher weißt du das denn?«, fragte Judith verblüfft.
Gregor zuckte mit den Schultern. »Ich weiß viel.«
In der Tat, dachte Judith. Gregor wusste irgendwie alles.