25

Claudia Dürer saß in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa und starrte die Wand an. Dann griff sie automatisch nach dem Weinglas auf dem Tisch und erhob sich ächzend, um die Box mit dem Lambrusco näher zu sich herzuziehen. Doch auf halbem Weg hielt sie inne und ließ sich wieder auf die Couch plumpsen. Keinen Wein. Was sie gestern erlebt hatte, war Anlass für etwas Härteres. Aber sie konnte sich nicht dazu aufraffen, den Wodka zu holen. Sie war wahnsinnig müde – kein Wunder, denn sie hatte die ganze Nacht lang kein Auge zugetan und immer wieder den Besuch bei Ecki wie einen Film in ihrem Kopf ablaufen lassen. Eckis Begrüßungssatz ging ihr nicht aus dem Sinn: Claudia? Du lebst ja noch. Ich hab irgendwo gehört, du hättest dich totgesoffen.

Diese unglaubliche Bemerkung brachte sie auch noch einen Tag später vor Empörung fast um. Sie zitterte regelrecht. Welcher bösartige Mensch hatte denn ein solches Gerücht in die Welt gesetzt? Und was noch viel schlimmer war – Ecki hatte ihr angeblicher Tod offenbar völlig kaltgelassen!

Sie fing an zu weinen. Dicke, schwere Tränen rollten über ihre aufgedunsenen Wangen. Sie ließ sie laufen, blieb sitzen, machte gar nichts. Sie holte sich auch nichts zu trinken. Vielleicht war es ja auch langsam an der Zeit, diese alte Romanze mit Lambrusco zu beenden. Stattdessen spulte sie zum hundertsten Mal vor ihrem inneren Auge die Begegnung mit Ecki gestern ab.

 

Gern wäre sie im Taxi vorgefahren, doch dafür fehlte ihr das Geld, aber Ecki wohnte ja nur ein paar Straßen weiter. Wenn sie das nur all die Jahre gewusst hätte! Wie oft hatte sie in weinseliger Melancholie zu Hause gesessen, und dabei hatte Ecki keine sechshundert Meter Luftlinie weit von ihr entfernt gelebt. Es war nicht zu fassen. Kurz hatte sie noch überlegt, ob sie sich ankündigen sollte, aber da sie seine Telefonnummer nicht wusste, blieb ihr nur der Überraschungsbesuch übrig.

Als sie in die Kantstraße einbog, verharrte sie einen Moment lang, um sich zu sammeln und sich einen kleinen Schluck aus ihrem Taschenflachmann zu genehmigen. Für die Nerven. Die Straße war leer und trist und Eckis Haus entpuppte sich als ein nichtssagender Nachkriegskasten mit kleinen Fenstern und einer Art zaunlosem Vorgärtchen, das aus raspelkurzem Rasen und ein paar dürftigen Rosenbüschen bestand, die kerzengerade wie eine Militärparade gepflanzt und an Stöcken festgezurrt waren. Privateigentum!, warnte ein Schild. Das ist kein Hundeklo!, erklärte ein zweites, auf dem ein durchgestrichener Hund mit hinterlistigem Grinsen einen Haufen hinsetzte, und Hausieren verboten!, verkündete schließlich ein drittes an der Haustür. Du lieber Himmel! Hier hatte offensichtlich jemand einen Schilderwahn oder zu viel Zeit.

Claudia Dürer kämpfte sich ächzend in den zweiten Stock hinauf und traf absolut niemanden. Nirgendwo war ein Laut zu hören, dafür roch es nach Putzmitteln. Das ganze Haus atmete so viel Rock ’n’ Roll aus wie ein gut gepflegtes Grab. Dennoch – an der Wohnungstür stand E.Rasche und nach einer kurzen Paniksekunde klingelte sie. Ein korpulenter Mann mit Stirnglatze, bekleidet mit einem Unterhemd und verwaschenen Cargoshorts, öffnete. Ecki. Oder besser gesagt, eine groteske Version von ihm, mit längerer Nase, größeren Ohren, schlafferer Haut und einem Bauch wie schwanger im achten Monat. Als würde man den Ecki von damals in einem Zerrspiegel betrachten. Er erkannte sie nicht.

»Ja?«, fragte er knapp.

»Ecki«, stammelte Frau Dürer, die nun ihre Tränen nicht zurückhalten konnte. »Mensch, ich bin’s. Claudi. Deine Rockröhre.«

Eckis Mund öffnete sich leicht, eine Mischung aus Schock, Erkennen, Entsetzen und Unglauben flatterte über sein Gesicht. Und dann kam der Satz: »Claudia? Du lebst ja noch. Ich hab irgendwo gehört, du hättest dich totgesoffen.«

»Natürlich lebe ich noch«, wehrte sie sich bestürzt. Was hatte er da gerade gesagt? Wollte er sie denn nicht umarmen? Nein, wollte er nicht. Aber er ließ sie eintreten. Im Flur murmelte er etwas und ließ sie kurz stehen. Sie sah sich um. Wo waren seine Poster? Seine Erinnerungsstücke? Der Flur war in einem kränklichen Ockergelb gestrichen, an einer Garderobe hingen hellbraune Jacken.

Ecki, oder das, was von ihm noch übrig war, gewährte ihr schließlich Einlass in eine deprimierend biedere Küche, wo er die Reste seines Essens sorgfältig in eine Tupperdose verfrachtete und in den Kühlschrank packte, während er ihr in Kurzform die wichtigsten Stationen der letzten Jahre seines Lebens erzählte. Dass er sich völlig aus dem Musikgeschäft zurückgezogen hatte, wegen Susanne, die das nicht mochte. Und noch mal eine Umschulung zum Einzelhandelskaufmann gemacht hatte, in einem Elektroladen.

»Du verkaufst Radios?«, fragte Claudia Dürer fassungslos.

»Nicht nur.« Hier hob Ecki den Zeigefinger und zählte auf, was er sonst noch alles verkaufte. Er bot ihr nichts zu trinken an. Er fragte sie nicht, was sie all die Jahre gemacht hatte, aber das war ja offenbar auch nicht nötig, denn für ihn war sie ohnehin schon seit Längerem tot. Totgesoffen. Sie hörte ihm nicht mehr zu. Ecki ergab keinen Sinn mehr.

»Machst du noch Musik?«, unterbrach sie endlich sein endloses Gelaber.

»Manchmal.« Er lächelte verkrampft, als gäbe er ein schmutziges kleines Geheimnis preis. »Selten. Hab mir vor Jahren ein Keyboard geleistet, günstig im Laden bekommen und …«

Sie driftete wieder ab, und ihr Blick fiel auf die ordentlich aufgeräumte Spüle, das zusammengefaltete Geschirrtuch, die Topflappen an der Wand. Die unbekannte Susanne hatte ganze Arbeit geleistet, sie hatte nichts mehr vom alten Ecki übrig gelassen, sondern ihn in sämtliche Einzelteile zerlegt und neu und komplett spießig zusammengesetzt und sich dann verpisst. Und dieser Trottel von Mann sehnte sich trotzdem noch nach ihr, das klang in jeder Silbe mit. Susanne hier, Susanne da. Claudia Dürer zog den Flachmann aus der Tasche, trank einen Schluck und stellte die Flasche dann auf den Tisch.

»Hier, Ecki. Da kannst du auf unseren Tod anstoßen. Ach halt, ich lebe ja noch. Verrückt, nicht?« Damit stand sie auf und ging, die Tür ließ sie krachend hinter sich zufallen. Als sie unten an den Rosen und den Schildern vorbeikam, wusste sie instinktiv, dass die von Ecki stammten.

 

Jetzt, nachdem sie sich erneut an alle qualvollen Einzelheiten dieses Treffens erinnert hatte, kam es Claudia Dürer vor, als ob sie aus einem jahrelangen Koma erwachte. Sie war einem Phantom hinterhergejagt, sie hatte sich jeden Abend, ach was, jeden Vormittag, Nachmittag und Abend wegen eines Phantoms volllaufen lassen und dann heulend die alten Videos angeguckt, und diese Spießer-Lusche hockte die ganze Zeit drei Straßen weiter mit seiner drögen Frau in einer Küche, die jede Lebensfreude erstickte, und malte Verbotsschilder.

»Fuck you, Ecki!«, sagte sie laut und schmiss das Weinglas wütend an die Wand. Es blieb ganz, dafür klingelte es an der Tür. Falls das jetzt Ecki war, der aus irgendeinem Grund hier auftauchte, dann würde sie, so wahr ihr Gott half, das erste Mal in ihrem Leben handgreiflich werden.

Es war nicht Ecki, sondern Gregor.

»Hallo, Frau Dürer, wie war denn das Date?«, fragte er ohne große Vorrede.

»Zum Kotzen«, gab sie zurück. »Eins kann ich dir sagen – ich hab verdammtes Glück gehabt, dass ich den Waschlappen nicht geheiratet habe. Danke, dass du mir dabei geholfen hast, das zu erkennen. Ich stehe ewig in deiner Schuld, ehrlich.«

»Hat er die Hose noch?«, erkundigte Gregor sich gespannt.

Hose? Einen Moment lang wusste sie nicht, wovon er redete, dann fiel es ihr wieder ein. »Nein. Die knackige Hose von damals hat der hundertprozentig nicht mehr. Der trägt nur noch hellbraun. Innen und außen.«

»Da haben Sie wirklich Glück gehabt«, meinte Gregor. »Wo Sie ja gern so schöne Sachen anziehen wie ich.« Er deutete auf ihr glänzendes Kleid, das sie vor lauter Schock gestern Abend gar nicht ausgezogen hatte.

»Trinken wir was?«, fragte er jetzt. Das hatte sich so eingebürgert. Er wusste, dass sie ihr Weinchen brauchte, benutzte aber immer ein »wir«, obwohl er nie mit ihr trank. Ein eigenartiger Junge, dieser Gregor.

»Lass mal. Heute nicht«, erwiderte sie. Wenn Gregor überrascht war, dann ließ er es sich nicht anmerken.

»Soll ich dann wieder ein bisschen Klavier spielen?«, fragte er stattdessen.

Sie zögerte einen Moment lang. »Weißt du was? Heute spiele ich mal. Soll ich dir meinen Lieblingssong von damals vorspielen?«

»Ja, bitte.«

Sie setzte sich ans Klavier, ließ ihren Blick einen Moment lang über die Tasten schweifen, schlug die Anfangsakkorde von »Für immer verloren« an, und dann schmetterte sie den Song so wie früher, nur dass er in diesem Moment, wie ihr bewusst wurde, eine ganz neue Bedeutung bekam. Als sie fertig war, klatschte Gregor höflich.

»Das war sehr laut.«

Claudia Dürer prustete los. »Und ob das laut war. Ich kann noch lauter. Willst du noch eins hören? Oder willst du mitsingen?«

»Ich kann leider nicht singen. Meine Mama kann gut singen. Aber nicht so laut wie Sie. Aber wer am besten von allen singen kann, das ist die Mutter von Jonas. Die Frau Regner.«

»Meine Nachbarin?« Claudia Dürer runzelte die Stirn. Ja, da drüben klimperte immer mal jemand auf dem Klavier, aber mehr gewollt als gekonnt. Gesungen hatte da noch nie jemand, aber vielleicht war sie ja auch immer viel zu bedröhnt gewesen, um mitzukriegen, was da drüben so abging. Hatte die Regner sie nicht sogar mal gefragt, ob sie noch Kontakte in der Musikbranche habe? Ja, jetzt fiel es ihr wieder ein. »Kennen Sie da noch irgendwen?«, hatte Frau Regner verschämt gefragt, als ob sie sich nach dem lokalen Crack-Dealer erkundigte. Frau Dürer wusste erst gar nicht, was die Frau meinte. Aber dann ging ihr ein Licht auf und sie schmetterte sie sofort ab. Natürlich kannte sie noch eine Menge Leute in der Branche, aber für Lieschen Müller von nebenan würde sie ganz gewiss nicht zum Hörer greifen.

»Hast du die denn singen gehört?«, fragte sie jetzt verwundert.

Gregor nickte eifrig. »Ja, und ich hab eine CD von ihr eingetauscht, gegen ein Gebiss. Mit sehr schönem Muster auf der Hülle, schauen Sie mal. So muss eine CD aussehen, nicht?«

Sie warf einen belustigten Blick auf die psychedelischen Kreisel auf der CD. Gott, wie laienhaft! Aber Gregor schien es zu mögen.

»Wir können sie mal zusammen anhören«, schlug er vor.

Eigentlich verspürte sie keine Lust darauf, sich die stümperhafte Aufnahme einer Möchtegernmusikerin zu Gemüte zu führen. Aber Gregor sah sie erwartungsvoll an.

»Niemand will sie nämlich«, verriet er ihr. »Sie wird einfach nicht berühmt. Jonas meint, sie hat keine Konnektschn.«

»Also gut, dann mal her mit dem Ding.« Wenn es unerträglich wurde, blieb ja immer noch die Box mit dem Lambrusco als Rettung. Obwohl sie seit gestern nach dem unseligen Besuch keinen Tropfen mehr angerührt hatte, zu tief schmerzte der Stachel der angeblich Totgesoffenen.

Behutsam legte sie die CD ein und nahm neben Gregor auf der Couch Platz.

»Klingt das nicht schön?«, fragte er wenig später leise.

Frau Dürer antwortete nicht, sie nickte nur. Verdammt noch mal, der hatte recht. Die Frau hatte eine gute Stimme. Keine Röhre wie ihre, aber rauchig und warm und genau zu diesen Mollballaden passend, die sie da sang. Warum wollte das denn keiner? Das war eine Perle im Dschungel der ganzen Pop-Äffchen auf YouTube. Sie drehte die CD-Hülle in der Hand und entdeckte auch sofort den Grund: Die Frau verkaufte sich viel zu sehr unter ihrem Wert. Die war zu bescheiden und zu unauffällig. So lief das nicht im Musikgeschäft, das wusste sie selbst am besten.

Entschlossen stand sie auf. »Komm mit. Ich werde mal mit Frau Regner reden.«