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Judith betrat den Dachboden. Hier oben stand die Hitze regelrecht, es roch nach Staub, alten Büchern und altem Holz. Sie war schon ewig nicht mehr hier gewesen, aber irgendwo musste der Krempel aus Franks Zimmer ja hin. Die juristischen Bücher, die Poster, die Schultrophäen, die Modellflugzeuge aus Kindertagen. Sie stellte die Kiste mit dem ganzen Kram ab und schloss ihre Bodenkammer auf. Gregor war irgendwo spielen oder was auch immer er mit dem Sohn von Frau Regner anstellte, nachher wollten sie beide noch schwimmen gehen, und Judith hatte spontan beschlossen, Franks Zimmer endlich in ein vernünftiges Gästezimmer zu verwandeln. Eine neue Schlafcouch würde sie da hineinstellen und eine Wand sonnengelb streichen, neue Rollos anbringen und die uralten karierten Vorhänge endlich wegschmeißen. Vielleicht würde sie sogar eine Staffelei dort unterbringen, und wenn Gregor dann irgendwann in nächster Zeit nicht mehr bei ihnen war, könnte das ihr kleines Atelier werden, es war das hellste Zimmer in der ganzen Wohnung. Marlene hatte heute angefangen, die Augen zu öffnen, auch wenn sie nichts wahrzunehmen schien und auf nichts reagierte. Aber das war ein gutes Zeichen. Sie atmete schneller, und ihre Lider zuckten.

Judith öffnete den alten Kleiderschrank, der hier oben auf dem Dachboden stand. Darin war alles aus Franks Kindheit verstaut. Seine Babysachen, die sie aufgehoben hatte, weil sie ein sentimentales altes Huhn war, seine Zeugnisse, seine Kinderbücher, seine Briefe aus dem Ferienlager. Sie wischte den Staub von den Buchrücken. Das kleine Gespenst, Jim Knopf, Janosch. Daneben haufenweise Kassetten von Benjamin Blümchen, dieser quäkenden Nervensäge, und von TKKG, deren Titelsong hätte sie noch problemlos mitsingen können, so oft hatte der durch die Wohnung geschallt.

Aber was war das? Ein Haufen Blätter mit Bildern. Franks Wunschzettel zu Weihnachten. Ich mechte gern einen Hund. Und was schöhnes zum malen. Wenn ich kros bin wert ich Künsdler. Ihr Herz zog sich zusammen. Seine Rechtschreibung mochte unterirdisch gewesen sein, aber sein Zeichentalent war deutlich zu erkennen. Ein perfekt dreidimensional gemalter Farbkasten, ein imposanter, nahezu lebensechter Hund. Frank hatte definitiv ihr Talent geerbt, nein, er war noch tausendmal besser als sie. Vielleicht wäre er tatsächlich ein großer Künstler geworden – wenn sie ihn nicht davon abgehalten hätten.

Judiths Eltern hatten sie selbst damals nicht abgeblockt, aber das war auch gar nicht nötig gewesen, denn Judith wäre niemals auf die absurde Idee gekommen, ihr Hobby zum Beruf machen zu wollen. Das war etwas für Tagträumer wie Micha, den Freund, den sie vor Achim gehabt hatte. Der wollte mit seiner Musik groß rauskommen, er verdiente nichts, er war unzuverlässig, schwang große Reden, die nie zu etwas führten.

Achim war da ganz anders. Er hatte sie nie enttäuscht, er war pünktlich und vertrauenswürdig, er führte alles zu Ende, was er anfing. Aber er war auch ein Gefangener seiner eigenen Regeln und Vorstellungen, aus denen er nicht ausbrechen konnte. Er war, im wahrsten Sinne des Wortes, sein eigener Gefängniswärter. Und nur Gregor, ausgerechnet Gregor hatte es in den letzten Wochen geschafft, an Achims Panzer der Vernunft zu kratzen. Das war schon fast kurios.

Ihr Blick fiel auf eine staubige Folie ganz hinten im Schrank. Ach Gott. Ihr Hochzeitskleid, eingepackt in eine Hülle, mumifiziert und konserviert. Aber wofür eigentlich? Damit die eigene Schwiegertochter es vielleicht noch mal zu ihrer Hochzeit trug? Beinahe hätte Judith laut aufgelacht. Sie zog den Kleiderbügel heraus. Rüschen, glänzender Stoff, Puffärmel, jungfräulich weiß natürlich. Als ob … Dazu Korkenzieherlöckchen und Spitze. Die Achtzigerjahre waren doch an Lächerlichkeit wahrlich nicht zu toppen gewesen. Jede Frau wollte damals wie Lady Di aussehen. Na ja, außer vielleicht Frau Dürer. Judith grinste. Nächstes Jahr waren sie dreißig Jahre verheiratet. Perlenhochzeit. Hieß das so? Sollten sie das groß feiern? Nach Vegas fliegen und ihr Eheversprechen erneuern, wie es jetzt modern war? Doktor Huber und seine Frau hatten das letztes Jahr gemacht und hinterher eine zweite Hochzeit gefeiert. Brauchte man das? Reichte es nicht, dem anderen zu verstehen zu geben, dass man froh war, ihn immer noch an seiner Seite zu haben? Die Frau von Doktor Huber hatte sogar für ein Foto noch mal ihr Brautkleid von damals angezogen und vorher zehn Wochen lang nur Proteinshakes getrunken.

»Auf gar keinen Fall, ich liebe dich auch so, Achim«, sagte Judith laut und schob das Kleid zurück in sein Verlies, leerte die Kiste mit dem ganzen Kram aus Franks Zimmer aus und wandte sich zum Gehen. Doch dann drehte sie sich noch einmal um und griff nach dem Packen Briefe aus Franks Ferienlagerzeit. Das Papier roch schon ein wenig alt, hoffentlich konnte sie die Schrift noch lesen. Aber es würde wie ein kleiner Ausflug in die Vergangenheit sein. In eine Zeit, in der die Welt noch in Ordnung war. Oder sich wenigstens so angefühlt hatte.