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Vier Wochen später

Als Kind hatte Marlene exzentrische Kleidung geliebt, genau wie Gregor. Wie hatte Judith das vergessen können? Jetzt, wo sie sich die alten Fotoalben ansah, fiel ihr alles wieder ein. Marlene wirkte abwesend und verträumt, wie sie mit langem Blumenrock und Strohhut auf dem Kopf auf einem Stuhl saß und eine Katze streichelte, während die anderen Kinder um sie herum auf irgendeiner Geburtstagsfeier in abgeschnittenen Jeans und T-Shirts herumtollten und jemanden beim Topfschlagen anfeuerten. Sie wirkte älter als elf und weiser. Ein kleines Lächeln im Gesicht, aber nicht arrogant, eher als ob sie den wilden Vergnügungen ihrer Altersgenossen mit milder, erstaunter Distanz zusehen würde. Judith hatte keine Ahnung, wessen Geburtstag das gewesen war, es musste mindestens vierzig Jahre her sein und das Geburtstagskind sicher mittlerweile glatzköpfig oder mit einer Raucherlunge geschlagen – oder tot, so wie Marlene.

Ein Weinkrampf kündigte sich als heiße Welle in Judiths Brust an, stieg höher, verstopfte ihr die Nase und bahnte sich seinen Weg bis zu ihren Augen. Sie ließ die Tränen einfach fließen, wartete, bis sie abebbten, und blätterte dann weiter. Marlene im Parka mit aufgenähtem Peace-Zeichen, Marlene mit Palästinensertuch, Marlene im Faschingskostüm als Katze, Marlene im schwarzen Kleid zur Konfirmation, mit Blümchen in der Hand, daneben die Eltern. Zum Glück hatten die beiden das nicht mehr erleben müssen. Judith putzte sich die Nase und atmete tief durch. Die ganzen letzten vier Wochen hatte sie durchgehalten, funktioniert und organisiert, nicht zuletzt wegen Gregor, aber manchmal, wenn sie allein war, ließ sie ihrer Trauer freien Lauf.

»Irgendwann muss jeder Mensch sterben«, hätte Marlene wahrscheinlich lakonisch bemerkt. Ja sicher. Aber doch nicht so früh. Nicht jetzt, wo sie sich beide doch gerade wieder annäherten. Und wo es Gregor gab, diesen einzigartigen Jungen. Judith sah ihn wieder vor sich, wie er auf der Beerdigung seiner Mutter den Indianer-Poncho trug, wie er sich daran festhielt, wie er zum Schluss den Grabstein – eine Baumgruppe aus Basaltsteinen – streichelte.

Gregors Vater glänzte auch bei diesem Anlass durch Abwesenheit, aber wenigstens hatte er auf juristische Nachfragen reagiert. Nein, er habe kein Interesse am Sorgerecht für seinen Sohn oder überhaupt an dem Jungen. Du Arschloch, dachte Judith. Du weißt überhaupt nicht, welchen Schatz dir das Leben da anbietet, den du ausschlägst. Zwei Tage nach Marlenes Tod hatte Judith es für sich entschieden, von Schmerz und Hilflosigkeit überwältigt, und während Gregor in Franks Zimmer lag, das nun doch kein Gästezimmer werden würde, und laut weinte. »Ich will das Sorgerecht für Gregor, Achim. Ich schicke ihn nicht zu fremden Leuten. Auf gar keinen Fall.«

Achim hatte geschwiegen und Judith wappnete sich schon für alle möglichen Einwände und vor allem für ein »Lass uns das noch mal genau überlegen. Vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit.« Aber Achim sagte gar nichts. Er sah sie an, sein Gesicht hagerer als noch vor kurzer Zeit, als sie ihn für Gregor gezeichnet hatte. Und dann hatte er nach ihrer Hand gegriffen und sie stumm gedrückt.

 

Sie blätterte weiter in dem Album, hielt gelegentlich inne, lächelte oder weinte noch ein bisschen. Da war Marlene mit dem neugeborenen Gregor, einem pummeligen Baby mit ernstem Gesichtsausdruck und einem Haarwirbel auf dem Kopf, und daneben stand sie selbst, Judith, mit dem vierzehnjährigen Frank, der schon einen Hauch genervter Langeweile im Blick hatte. Im Jahr zuvor war die Pubertät bei ihm ausgebrochen wie die Vogelgrippe und hatte sie alle in einen Strudel aus Streit und Missverständnissen geschleudert, dem sie bis heute nicht entkommen waren.

Judith legte das Album hin. Sie musste Frank anrufen, es war längst überfällig. Immerhin war Marlene seine Tante gewesen, auch wenn sie sich nie viel zu sagen gehabt hatten. Zweimal hatte Judith schon dazu angesetzt. Sie war bis zum Telefon vorgedrungen, hatte den Hörer abgenommen und kurz davorgestanden, Franks Nummer zu wählen. Aber jedes Mal verließ sie der Mut. Seit über drei Jahren gab es keinen Kontakt mehr zu Frank. Und da sollte sie jetzt mit ausgerechnet dieser Nachricht wieder in sein Leben treten? Es ging einfach nicht.

Sie stand auf, sie brauchte frische Luft. Draußen auf dem Balkon atmete sie tief durch. Es wurde Herbst. Die sommerliche Hitze war vorbei, geblieben war ein goldener Altweibersommer, mit Spinnweben überall und morgendlichem Nebel, der von zaghaften Sonnenstrahlen erlöst wurde. Ein Herbst zum Dahinschmelzen. Marlene hätte ihn geliebt.

Ein Männerlachen schallte von der Straße her hoch. Es war – man glaubte es kaum – Herr Walter, der neuerdings irgendein florierendes Internet-Business betrieb. Judith verstand nicht ganz, worum es da ging, doch die Schwiegermutter von Hoffmanns war wohl der Anstoß dazu gewesen, und was immer es auch war, es schien Herrn Walter gutzutun. Der Mann konnte offenbar tatsächlich noch lachen und Scherzchen treiben, und zwar ausgerechnet mit Frau Dürer. Judith beugte sich ein Stück vor, um besser sehen zu können. Die Dürer sah schlanker aus. Gepflegter. Ihr Blick war klarer. Sie machte jetzt auch irgendwas mit der Mutter von Jonas Regner zusammen, irgendwas mit Musik. Und das schöne Mädchen von dem Studenten unten war vor Kurzem mit säuerlicher Miene ausgezogen. Darüber war Lars seltsamerweise gar nicht traurig, obwohl sie manchmal den Eindruck gehabt hatte, dass er schwer in das Mädchen verknallt gewesen war. Aber Lars arbeitete jetzt in der Ausländerbehörde, er machte da ein Praktikum, hatte er ihr erzählt. Und dass es unglaublich interessant sei und ihm Spaß mache. Er wirkte gut gelaunt – fast so gut gelaunt wie Frau Hoffmann, von der eine Last abgefallen zu sein schien. Bei ihr gab es keinen Streit mehr über die unselige Laube, dafür frisch geerntetes Obst von Frau Junescu. Und die Schwiegermutter war viel friedfertiger geworden, sie konnte allein essen und stundenlang mit Frau Junescu über die herrliche Laube schwatzen.

So vieles hatte sich verändert. Alle Leute aus dem Haus hatten sich verändert, sie und Achim auch. Und komischerweise genau seit dem Zeitpunkt, seit Gregor zu ihnen gestoßen war, obwohl Judith nicht so richtig sagen konnte, warum. Er war doch nur ein Kind.

 

Unten fuhr jetzt ein Lieferwagen vor, irgendjemand bekam wohl ein Paket. Kurz darauf klingelte es. Doch statt dem Paketdienst stand Frau Hoffmann vor der Tür.

»Frau Krause«, keuchte sie, käsebleich im Gesicht. »Entschuldigen Sie, bitte. Ich weiß, Sie haben im Moment Ihre eigenen Probleme, aber jetzt schauen Sie sich doch um Gottes willen mal an, was vor meiner Tür stand!« Sie deutete auf einen Korb, aus dem eine Flasche Wein ragte und in dem zugedeckt noch etwas anderes lauerte. »Von den Junescus. Ich weiß, die meinen es gut, aber …« Mit unverhohlenem Ekel riss sie das Geschirrtuch weg und Judith machte einen erschrockenen Schritt zurück.

»Du lieber Himmel!«, entfuhr es ihr. In dem Korb lag ein nacktes, gerade gerupftes Huhn, komplett mit Kopf und Füßen. »Herzlich Dank für kleine Paradies«, stand auf einer Karte. »Reicht für Suppe und Braten.«

»Mir wird gleich schlecht«, sagte Frau Hoffmann. »Ich kann das Ding nicht mal anfassen. Können Sie das rausnehmen?«

Judith zog die Ärmel ihrer Strickjacke über die Finger und versuchte, das Huhn aus dem Korb zu heben, aber es hing irgendwo fest. Wieso hatte ein Huhn so einen langen Hals, verdammt noch mal? Plötzlich schnippte es aus dem Korb, sodass der Hühnerkopf gegen Judiths Handgelenk schlenkerte. Sie ließ augenblicklich los und das Huhn klatschte auf den Boden.

»O Gott.« Frau Hoffmann hielt sich die Hand vor den Mund.

Eigentlich wollte Judith heulen. Aber dann – sie wusste selbst nicht, warum, vielleicht weil sie in den letzten Wochen schon viel zu viel geweint hatte und es nun langsam Zeit für etwas anderes wurde –, dann fing sie an zu lachen. Und als sie Frau Hoffmanns betreten-angewiderten Blick bemerkte, lachte sie noch lauter.

»Verzeihung.« Sie schnappte nach Luft. »Aber ich …« Sie wedelte kurz mit den Händen, um den Lachanfall zu verscheuchen, aber er blieb hartnäckig.

Jemand kam die Treppe hoch. Die beiden Frauen standen da, unfähig, sich zu rühren. Wer immer jetzt hochkam, würde die beiden erstarrten Frauen und das nackte Huhn auf dem Fußboden erblicken, sobald er um die Ecke bog.

»Vor… Vors…«, setzte Judith an, aber da war es auch schon zu spät. Es waren Achim und Gregor, die aus dem Fahrradladen kamen. Achim blickte auf das Huhn und dann zu Judith. Er runzelte die Stirn, aber noch ehe er ein Wort sagen konnte, kam Frau Hoffmann ihm zuvor.

»Würden Sie es bitte aufheben?«, bat sie.

Achim packte das Huhn ohne viel Federlesen mit der rechten Hand, in der linken hielt er einen Packen Briefe.

»Hier.« Er reichte das Huhn Frau Hoffmann, die panisch zurückzuckte und es in den Korb fallen ließ, dann gab er Judith die Post.

Schwere Schritte stapften die Treppe herauf, und der hochrote Kopf eines Mannes in Uniform tauchte auf, der einen riesigen Kasten schleppte. »Judith Krause?«, schnaufte er.

»Ja?« Judith sah ihm erstaunt entgegen.

»Bitte hier unterschreiben.« Der Mann wuchtete das Paket die letzte Stufe hoch, stellte es ab, wischte sich über die Stirn und reichte ihr einen Lieferschein und einen Stift.

»Was ist denn das?« Judith beugte sich über das Paket. »Ich habe nichts bestellt.«

»Davon weiß ich nichts. Auf jeden Fall ist es ein Grill. Das passende Grillfleisch haben Sie ja schon.« Der Postbote deutete auf das Huhn und lachte albern.

Ein Grill?

»Du hast den Grill gewonnen, Judith!« Gregor riss die Augen auf und dann lachte er das erste Mal seit Wochen wieder richtig laut auf.

Gemeinsam trugen sie den Grill in die Wohnung, wo Judith schnell ihre Briefe überflog. Es war keiner von der Anwältin dabei wegen des Sorgerechts. Da musste sie wohl noch etwas geduldig sein, aber sie würden das schaffen. Jetzt, wo sie Achim an ihrer Seite hatte, der ebenfalls mitzog. Achim, der alles zu Ende brachte, was er einmal anfing. Achim, auf den man sich hundertprozentig verlassen konnte. Ihr Achim.

Unter den Briefen befand sich nur Werbung und ihre neueste Telefonrechnung. Judith öffnete den Brief mit der Rechnung und schnappte entsetzt nach Luft.

»Was?«, stieß sie aus. »Um Himmels willen, sind die verrückt geworden?«

»Was ist denn?« Achim trat näher.

»Warst du das?« Judith hielt die Rechnung hoch. »Dreihundert Euro Telefongebühren für Gespräche nach Australien?«

»Wie bitte?« Achim rückte ungläubig seine Brille zurecht. »Das muss ein Fehler sein.«

»Nein, hier steht es doch. Alle Gespräche sind aufgelistet. Hast du Frank etwa heimlich angerufen?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Achim.

Da meldete sich Gregor zu Wort. »Ich war das«, sagte er leise.

Sie fuhren beide herum und starrten ihn an. »Was? Aber du weißt doch seine Nummer nicht.«

»Doch. Es ist die erste in eurem Telefonspeicher.« Gregor deutete auf das Display des Telefons. »Die hab ich einfach gedrückt.«

»Und Frank hat geantwortet?« Judith schossen Tränen in die Augen.

»Ja. Auf einmal war Frank dran und wir haben geredet. Und danach haben wir uns noch öfter unterhalten.«

»Worüber habt ihr denn geredet?«, fragte sie perplex.

»Über das Leben. Und über Haifische und Kängurus. Und dass das Wetter in Australien verkehrt herum ist. Das liegt an der Weltkugel, wusstest du das?«

»Nein … Ja …« Judith fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Die beiden hatten miteinander telefoniert. Einfach so. Über Wochen hinweg. Sie betrachtete die Rechnung genauer. Die Gespräche hatten alle nachts stattgefunden. Deswegen hatten sie das nicht mitbekommen.

»Hast du …?« Ihre Stimme versagte. »Hast du ihm erzählt, dass Marlene …?«

»Nein.« Gregor sah an ihr vorbei. »Wir reden nur über schöne Sachen.«

Sie räusperte sich. »Gregor, wenn du … wenn du das nächste Mal mit Frank redest, könntest du uns dann Bescheid geben? Wir möchten nämlich auch mal wieder …« Sie suchte nach Worten. »Seine Stimme hören.«

 

An diesem Abend saß Judith lange im Wohnzimmer und starrte auf den Bildschirm des Fernsehers. Es lief irgendein Spätfilm, ein Krimi mit mürrischem Kommissar. Aber sie bekam sowieso nichts von dem Film mit, er war nur eine Lichtquelle. Judith war hellwach, sie stand regelrecht unter Strom und konnte auf keinen Fall ins Bett gehen, so wie Achim, der vor einer Stunde gähnend im Schlafzimmer verschwunden war. Wie konnte er an einem solchen Tag ganz normal einschlafen?

Frank war ans Telefon gegangen, als Gregor ihn angerufen hatte. Obwohl er doch garantiert ihre Nummer erkannt hatte. Er war nicht pfeifend aus dem Zimmer gelaufen und hatte den AB anspringen lassen, nein, er hatte abgenommen. Verstand denn überhaupt jemand, was für fantastische Neuigkeiten das waren? Seine Eltern mussten ihm wohl doch noch etwas bedeuten, wenn er rangegangen war. Eine Träne rollte über Judiths Wange, obwohl sie doch geglaubt hatte, dass sie mittlerweile regelrecht leer geweint war. Aber diesmal war es keine Trauerträne. Auch noch keine Freudenträne. Eine Hoffnungsträne, wenn es so etwas gab. Sie wandte den Blick von der Verfolgungsjagd im Fernsehen ab und sah zum Telefon. Es war Mitternacht. Im Flur stand der ominöse Grill, den sie am Wochenende einweihen wollten, draußen regnete es, das Mondlicht schien durch die Ritzen der Jalousien in das Zimmer herein.

In Melbourne war es jetzt neun Uhr morgens. War Frank schon wach? Sollte sie einen Anruf wagen? Oder schlief er nach einer langen Arbeitsnacht in der Bar wie immer bis Mittag? Dann würde sie ihn wecken und er wäre gleich sauer auf sie. Lieber nicht. Oder vielleicht arbeitete er ja gar nicht mehr in der Bar, sondern hatte irgendwo einen Job tagsüber, für den er morgens zeitig aufstand. Dann war er entweder schon unterwegs oder auf dem Sprung, oder er rasierte sich gerade, bügelte sein Hemd, oder … Sie gab es auf. Schade, dass man aus Gregor nie so richtig schlau wurde. Worüber hatten die nur geredet? Na ja, worüber man mit Gregor eben redete, antwortete eine kleine Stimme in ihrem Kopf. Über das Leben. Genau, wie er ihr erzählt hatte. Sie lächelte unwillkürlich, dann schaltete sie den Fernseher aus, stand auf und beschloss, ins Bett zu gehen. Sie musste morgen ausgeschlafen sein, sie hatte jetzt ja eine Verantwortung, und die hieß Gregor.

Wenig später warf sie sich in ihrem Bett hin und her und fiel schließlich in einen wirren Traum. Eine Stimme weckte sie. Gregor stand in der Tür, den Telefonhörer in der Hand.

»Es ist jetzt das nächste Mal«, sagte er.

Judith war mit einem Schlag wach. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es drei Uhr nachts war. Sie rüttelte Achim, der leise schnarchte und sich dann ruckartig aufsetzte.

»Aber erzähl mir nachher weiter von der Spinne«, verlangte Gregor in den Hörer hinein, dann reichte er ihn Judith.

Sie tauschte einen Blick mit Achim. Der griff nach ihrer Hand, hielt sie ganz fest und nickte Judith aufmunternd zu.

Judith holte tief Luft. »Frank?« Es gab so viel, was sie ihm sagen wollte. Wo sollte sie nur anfangen? Sie entschied sich für das Wichtigste. »Frank, geht es dir gut? Bist du glücklich?«

***