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Judith hatte den ganzen Katalog durchgeblättert, kurz bei einem Pullover in einem samtigen Braun innegehalten, dann den Preis und die aufgenähten Lederflicken auf den Ellenbogen entdeckt und die Idee eines Kaufes sofort wieder verworfen. Achim würde den sowieso nicht anziehen, und außerdem würden keine karierten Jacketts der Welt, keine Barbour Jacke und keine Schirmmütze mit dem klangvollen Namen Donegal aus ihrem Mann einen englischen Lord machen, der über seine Ländereien schritt und abends am Kamin seinen Jagdhund streichelte und Whisky trank. Achim liebte Ordnung und Überschaubarkeit, ein Kamin hätte ihn wegen der Brandgefahr wohl in einen Dauerzustand der Unruhe versetzt, Hunde jeglicher Art irritierten ihn, und am glücklichsten war er tagsüber in seiner Fahrradwerkstatt oder am Wochenende auf seinen endlos langen Radtouren, auf die Judith gern hätte verzichten können.

Sie sah auf die Uhr. Wo blieben denn nur Marlene und Gregor? Es waren jetzt fast zwei Stunden vergangen, seit sie sich im Schwimmbad getrennt hatten. Standen die etwa immer noch auf dem Marktplatz und betrachteten das Glockenspiel? Das konnte ja wohl kaum sein. Andererseits – überraschen würde es sie nicht. Achim guckte schon eine Weile lang im Fernsehen Fußball und war augenscheinlich nicht unglücklich darüber, noch ein bisschen länger seine Ruhe zu haben. Judith überlegte. Sollte sie Marlene eine SMS schicken?

Das Festnetztelefon klingelte. Judith zuckte zusammen, so ungewöhnlich war das Geräusch in ihrer Wohnung. Wer war das? Etwa die Zahnarztpraxis von Doktor Huber, wo sie drei Vormittage in der Woche an der Rezeption saß? Nein, die würden im Notfall nur versuchen, sie über das Handy zu erreichen, außerdem war die Praxis samstags geschlossen. Oder war das etwa … Natürlich, das musste Frank sein! Vor Aufregung wurde ihr Hals ganz trocken. Das gab es doch angeblich – man redete von etwas und wenig später traf genau das wirklich ein, als ob man es sozusagen herbeigeredet hätte. Dabei hatte sie Frau Hoffmann vorhin über den Anruf aus Australien nur etwas vorgelogen. Wie spät war es jetzt in Melbourne? Mitternacht. Sie sprang auf und hechtete zum Telefon, ihre Wangen gerötet vor Aufregung. Es mussten außergewöhnliche und gute Nachrichten sein, sonst würde er ja nicht um diese Zeit anrufen.

Es war nicht Australien. Die Enttäuschung schmeckte noch schaler als sonst, vielleicht weil sie eine Viertelsekunde lang tatsächlich völlig irrational an etwas wie eine telepathische Verbindung geglaubt hatte.

Es war nur eine unbekannte lokale Nummer. Das Telefon klingelte und klingelte, penetrant und unnachgiebig.

Judith nahm gereizt ab. »Ja?«

»Spreche ich mit Judith Krause?«, fragte eine Männerstimme.

»Ja?« Judith war sofort auf der Hut. »Wer ist denn da?«

»Mein Name ist Doktor Lindig, ich bin Arzt in der Uniklinik. Ich rufe wegen Marlene Kolb an … Ihrer Schwester«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, wahrscheinlich weil Judith nicht reagierte und er offenbar annahm, sie hätte das Gedächtnis einer Amöbe und könnte sich nicht mehr an die Tatsache erinnern, dass sie eine Schwester hatte.

»Worum geht’s denn?« Ein ungutes Gefühl stieg in Judith hoch.

»Ihre Schwester hatte einen Unfall. Sie ist auf dem Parkplatz vor dem Hallenbad angefahren worden.«

»O Gott«, rutschte es Judith heraus. »Ist sie okay?«

»Sie ist …« Der Mann stockte eine Sekunde lang. »Sie hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Wir mussten sie in ein künstliches Koma versetzen, damit … Ach, wissen Sie, können Sie vielleicht herkommen? Sie wohnen doch am Ort, nicht wahr? Dann kann ich Ihnen das alles persönlich erläutern.«

Was ist mit Gregor?, wollte Judith fragen, aber es kam kein Ton aus ihrem Mund, ihre Gedanken überschlugen sich wie Geröll in einer Lawine. Da war Schock und Mitleid – sofort sah sie ihre kleine Schwester Marlene in einem weißen sterilen Krankenhausbett, an piepende Monitore angeschlossen. O Gott. Hatte sie Schmerzen? Judiths Magen krampfte sich zusammen. Nein, der hatte doch eben etwas von Koma gesagt.

»Und da ist ja auch noch Ihr Neffe«, hörte sie den Arzt wie aus weiter Ferne reden. »Ihm ist nichts passiert, der war gar nicht dabei.«

»Gregor«, brachte Judith endlich heraus. Gregor war nichts passiert. Was genau war eigentlich passiert? Immer und immer wieder widerfuhr Marlene irgendetwas Schreckliches, als hätte sie das Unglück zwanzig anderer Leben für sich allein gepachtet. Warum nur? Sie zog Missgeschicke magisch an, es war einfach nicht zu fassen. Oder war es doch ihre eigene Schuld? Hatte sie auf ihr Handy gestarrt, während sie über den Parkplatz lief? Wieso war sie überhaupt über den Parkplatz gelaufen, sie hatte doch gar kein Auto? War sie in Gedanken versunken gewesen oder hatte sie etwas in den Tiefen ihrer selbst gewebten Tasche gesucht?

»Ich … wir kommen gleich«, stammelte sie in den Hörer. »Achim?«, rief sie in die Wohnung hinein. »Achim?« Ihre Stimme klang seltsam brüchig und Achim erschien fast sofort in der Tür. Fußballlärm dröhnte im Hintergrund, das gequälte Raunen der Menge brauste auf, als ein Ball offenbar knapp das Ziel verfehlte.

»Was ist denn?«, fragte er erschrocken.

 

»Ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades mit Blutungen im Gehirn.« Doktor Lindig war ein Mann mittleren Alters mit Bauchansatz und teurer Brille. »Wir mussten Ihre Schwester in ein künstliches Koma versetzen, damit sich das Gehirn sozusagen erholen kann.« Er redete weiter von Stress und Druckreduzierung und von Prognosen, die momentan schlicht unmöglich seien, doch seine Worte segelten an Judith vorbei, die Gregor im Blick hatte und sich die ganze Zeit fragte, was wohl in ihm vorging. Er saß kerzengerade auf einem Stuhl im Flur der Intensivstation und blickte regungslos auf ein Stillleben mit Weintrauben an der Wand. Laut Auskunft von Augenzeugen hatten Marlene und Gregor beide das Bad verlassen und standen bereits an der Bushaltestelle, als Marlene plötzlich etwas aus Gregors Tasche gezogen hatte und quer über den Parkplatz zurück zum Bad gerannt war. Dabei war sie gestolpert, nach vorn gehechtet und genau vor ein fahrendes Auto gefallen, das sie frontal am Kopf erwischt hatte. Warum nur? Was war so wichtig gewesen, dass sie derart in Eile war? Niemand hatte Judith diese Frage bislang beantworten können.

»… wie lange muss sie so bleiben?«, hörte sie jetzt Achims Stimme.

»Das kann niemand voraussagen«, antwortete Doktor Lindig. »Drei Tage, drei Wochen, drei Monate? Sobald sie stabiler ist, werden wir versuchen, sie wieder aus dem Koma herauszuholen. Dann muss man aber vermutlich mit neurologischen Folgeschäden rechnen. Sehstörungen und so weiter.«

»Drei Wochen«, murmelte Achim. »Ich denke, wir sollten jetzt Gregors Vater ausfindig machen, damit er ihn abholt.«

»Auf gar keinen Fall.« Judith setzte sich abrupt gerade hin. »Den kennt Gregor doch gar nicht. Der hat ihn seit seinem dritten Lebensjahr nicht mehr gesehen.«

»Ich …«, setzte Doktor Lindig an, aber Achim ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Ja, was denn sonst?«, fragte er und sah Judith an. »Du meinst doch nicht etwa …?«

»Natürlich meine ich das. Gregor ist noch minderjährig und muss bei Verwandten wohnen. Bei seinen nächsten Verwandten. Und das sind wir.«

»Nein, das ist sein Vater«, korrigierte sie Achim. »Aber dieser Loser ist wahrscheinlich unauffindbar, wie immer, wenn es brenzlig wird.«

»Ich …«, versuchte Doktor Lindig es erneut, aber diesmal ging Judith dazwischen. Was fiel Achim ein? Wie konnte er so herzlos reagieren?

»Achim, natürlich bleibt er hier. Das ist doch gar keine Frage. Seine Mutter liegt hier bei uns im Krankenhaus, da schicken wir den Jungen doch nicht zurück nach Bayern. Wie soll er sie denn da besuchen?«

»Na …« Achim verstummte. »Aber drei Wochen«, fügte er dann trotzig hinzu. »Drei Wochen!«

»Also, das war nur eine Schätzung.« Endlich gelang es Doktor Lindig, zu Wort zu kommen. »Es können auch vier Wochen sein oder vier Monate.«

»Vier Monate.« Achim sah ihn entsetzt an. »Hörst du das, Judith?«

»Achim, das ist meine Schwester, über die wir hier reden. Sie hat mir heute erst gesagt, dass sie …« Plötzlich kamen Judith die Tränen, als sie an das Gespräch im Schwimmbad zurückdachte. »Dass sie froh ist, dass wir eine Familie sind. Und wenn wir Gregor nicht mitnehmen, dann muss er in ein Heim oder so.«

»Und da ist er sicher ganz wunderbar aufgehoben.« Achim blieb unnachgiebig. »Ich sage nur – Weihnachten.«

Judith erinnerte sich mit Horror an das unsägliche Weihnachtsfest vor zwei Jahren, als Achim in stundenlanger Arbeit für sie beide eine gefüllte Gans und für Marlene und Gregor dazu noch einen Tofubraten mit Preiselbeersoße zubereitet hatte. Und dann hatten sich die Lamettafäden verheddert, die Gregor mit der Konzentration eines Herzchirurgen aufgehängt hatte, und der Junge war völlig ausgeflippt und in einen regelrechten Kreiselwahn geraten. Er hatte sich um sich selbst gedreht wie ein Hund, der seinen Schwanz jagt, immer wieder und immer wieder, frenetisch, irre, unaufhaltsam. Als Achim dann eingreifen wollte, hatte Gregor markerschütternd laut aufgeschrien. Und das am Heiligabend! Man hatte ihn durch das ganze Haus kreischen gehört und Judith war von allen darauf angesprochen worden. Außer von den Junescus, für die gellendes Schreien offenbar ein alltägliches Geräusch und nicht weiter der Rede wert war.

»Aber er ist doch jetzt älter«, wandte Judith trotzdem ein. Sie wusste selbst nicht, warum sie Gregor verteidigte, denn sie hatte ihren Neffen nie verstanden und die absurd lasche Erziehung – oder besser Nichterziehung – von Marlene sowieso nicht. Doch jetzt … das war etwas anderes. Marlene brauchte sie, verließ sich auf Judith, weil Judith nämlich jemand war, auf den man sich immer verlassen konnte, und das sollte auch so bleiben.

Achim verzog den Mund und schielte zu Gregor in den Flur hinaus, der jetzt aufgestanden war und angefangen hatte, wie ein Tiger im Käfig von Wand zu Wand zu laufen. Achim gab ein schnaufendes Geräusch von sich und Judith sah ihn stumm an. Seine Haare waren in den letzten Jahren an der Stirn stark zurückgegangen und lichteten sich jetzt auch noch oben auf dem Kopf. Die Glatze lauerte bereits auf eine Gelegenheit, sich dort auszubreiten. Es würde ihn umbringen, dachte Judith. Er war immer so stolz auf seine vollen Haare gewesen. War er deshalb so mürrisch? Oder warum stellte er sich jetzt so an?

»Und was ist überhaupt mit seiner Schule? Er geht doch immer noch in eine Schule oder lernt er etwa irgendwo, Weidenkörbe zu flechten?« Achim klang aufmüpfig.

Doktor Lindig räusperte sich und Judith wurde jetzt langsam wütend. Der Schreck über den Unfall hatte sie betäubt und diese Betäubung ließ langsam nach und brachte den Schmerz wieder an die Oberfläche. Marlene war verdammt noch mal ihre Schwester. Ihre einzige Verwandte. Sie sahen sich zwar nur einmal im Jahr, aber das war immer noch öfter, als sie und Achim etwas von ihrem Sohn Frank zu sehen bekamen.

»Er geht in eine Schule in freier Trägerschaft, so eine Schule mit alternativen Dings …« Judith fiel der Name dieser Hippie-Schule nicht ein, egal. »Und es ist Sommer und bald sind Ferien.« Sie holte tief Luft. »Gregor kann in Franks Zimmer wohnen.«

»Und was ist, wenn Frank uns besuchen kommen will, hm?« Achim spielte seinen letzten Trumpf aus, von dem sie beide wussten, dass er keiner war.

»Ach, Achim«, erwiderte sie leise. »Er …« Sie stockte. »Ich glaube nicht, dass er diesen Sommer kommt.« Oder nächsten. Oder übernächsten.

»Aber es ist doch durchaus möglich«, beharrte Achim tapfer.

»Nein, ist es nicht.« Es war selten, dass sie so direkt über ihren Sohn sprachen. Sie riefen Frank ja nicht mal mehr an, einfach weil sie es aufgegeben hatten. Anfangs war er noch ans Telefon gegangen und sie hatten aneinander vorbeigeredet, später ließ er immer nur den Anrufbeantworter diese Sache erledigen. Judith hinterließ besorgte Nachrichten, was Achim verärgerte, aber das war egal, denn Frank rief ohnehin nur selten zurück. Er meldete sich in immer unregelmäßigeren Abständen, beendete das Gespräch, so rasch es ging, und irgendwann rief er sie überhaupt nicht mehr an. Es tat so schrecklich weh, und die Vorstellung, dass Frank dennoch eines Tages lachend und braun gebrannt mit seinem Koffer vor der Tür stehen würde, war wie eine Medizin, nein, wie eine Droge, die sie beide täglich gierig inhalierten, ohne sich gegenseitig ihre Abhängigkeit einzugestehen.

»Aber vielleicht …«

»Und selbst wenn«, unterbrach sie ihn mit fester Stimme. »Dann finden wir auch eine Lösung. Auf jeden Fall lassen wir Gregor jetzt nicht allein.«

»Bei den meisten Komapatienten dauert es auch nicht so lange«, mischte Doktor Lindig sich ein, sichtbar erleichtert darüber, dass der Familienstreit glimpflich ausgegangen war. »In den meisten Fällen wachen sie schnell wieder auf.«