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Judith hatte den ganzen Vormittag lang telefoniert. Zuerst mit Doktor Lindig im Krankenhaus, der sie darüber informierte, dass es Marlene immer noch unverändert ging. Außerdem meinte er, dass es eine gute Idee sei, wenn nicht nur Judith, sondern auch Gregor Marlene ab und zu besuchen würde. Judith war sich da nicht so sicher. Was, wenn ihn die ganze Atmosphäre furchtbar aufregte? Sie wurde ja selbst ganz befangen, wenn sie, wie gestern zum Beispiel, vor Marlenes Bett stand, das Piepen der Monitore hörte und in ihr regloses bleiches Gesicht unter dem Kopfverband blickte. Konnte man das Gregor zumuten? Er war so schwer zu durchschauen. Vielleicht wollte er das Ganze lieber verdrängen? Immer wenn sie ihm von Marlene erzählte, fixierte er irgendeinen Punkt im Zimmer. Aber wenn er schlief, umklammerte er den zusammengeknüllten Indianerponcho wie einen sicheren Halt.

Seine anderen Klamotten waren genauso exzentrisch, und neulich hatte er offenbar auch noch in Franks Sachen herumgewühlt und darunter ein blau-rot gestreiftes Hemd gefunden, von dem Judith sich nicht erinnern konnte, dass Frank es je getragen hatte. Es spannte Gregor leicht über dem Bauch, aber das störte ja niemanden. Außer Achim natürlich, der zwar nichts dazu sagte, aber Gregor ununterbrochen wachsam beobachtete, als wäre dieser eine tickende Bombe, die jederzeit durch eine falsche Bemerkung hochgehen könnte.

»Rede doch einfach ganz normal mit Gregor«, hatte Judith ihn nun schon mehrmals aufgefordert.

»Du weißt, dass das ein Widerspruch in sich selbst ist. Man kann nicht ganz normal mit ihm reden.«

»Aber er ist auch nicht dumm oder taubstumm. Es würde ihn freuen, wenn du dich ein bisschen mit ihm beschäftigen würdest.«

Achim gelobte zähneknirschend Besserung, aber viel passierte nicht. Einmal sahen die beiden zusammen fern, eine Reportage über aussterbende Tierarten, und Gregor ruckte und wippte die ganze Zeit vor Konzentration und Aufregung herum und fiel dem Kommentator ins Wort, bis Achim es nicht mehr aushielt und mit einer gemurmelten Entschuldigung aus dem Zimmer flüchtete. Und gestern hatten Judith und er darüber diskutiert, ob es eine gute Idee war, Gregor an den Computer zu lassen oder nicht.

Judith war der Meinung, dass das kein Problem darstellte. »Warum denn nicht?«, sagte sie.

»Ich weiß nicht. Was, wenn er alles Mögliche anklickt und runterlädt und uns sämtliche Viren dieser Welt ins Haus schleppt?«

»Ich dachte, dafür hast du ein Anti-Viren-Programm? Das erzählst du mir doch dauernd.«

»Trotzdem.«

»Trotzdem was? Bei Marlene durfte er das auch.«

»Was er bei Marlene durfte, halte ich nicht für das Maß aller Dinge.«

»Herrgott, nun sei doch nicht so streng.«

Achim hatte brummelnd abgewinkt, was Judith als Sieg wertete, und so hatten sie gestern nach dem Abendessen zu dritt vor dem Computer gehockt, wobei jeder von ihnen etwas anderes im Auge behielt: Gregor starrte gebannt auf den Bildschirm, Achim hingegen voll misstrauischer Vorahnung auf Gregor, bereit, jederzeit einzuschreiten, falls Gregor sich auf die Seiten des BND verirrte oder Haarwuchs- und Potenzmittel abonnierte, und Judith starrte auf Achim, ebenfalls bereit, einzugreifen, falls Achim sinnlose erzieherische Maßnahmen einleitete.

Gregor rief sofort und ohne zu überlegen die Seite mit der Wettervorhersage für Deutschland auf, als wäre das seine tägliche Routine zu Hause. Eine Stunde lang studierte er mit nicht enden wollender Hingabe das Wetter in Kaiserslautern, auf der Zugspitze, in Hongkong, London und in Markkleeberg in Sachsen, er betrachtete ellenlange Tabellen mit den durchschnittlichen Temperaturen und Niederschlagsmengen von Schleswig-Holstein und sah gefühlte siebzehn Mal ein Überschwemmungsvideo aus Hessen an. Es war so sterbenslangweilig, dass Judith schließlich aufstand und sich der Wäsche widmete. Achim dagegen blieb eisern sitzen und ging lediglich kurz raus, um sich ein Bier zu holen. Er traute Gregor nicht über den Weg. So was Affiges.

»Es gibt Nebel und Sonnenschein und verschiedene Arten von Wetter«, hörte sie Gregor erklären, der offenbar annahm, Achim habe sich aus echtem Interesse neben ihn geparkt. »Das ist sehr interessant, Achim. Sehr interessant. Hier regnet es morgen, siehst du?«

Im Spiegel konnte Judith ihren Mann gähnen sehen, aber stur, wie er war, ging er trotzdem nicht weg. Fast schien es, als wartete er darauf, dass Gregor endlich dieses scheinheilige Wettergeplapper einstellen und zu härteren Sachen übergehen würde, aber den Gefallen tat er ihm nicht. Gregor studierte jetzt die Jahresprognose für das Wetter in Nordamerika und die Küstengebiete am Pazifischen Ozean.

»Wenn ein Tsunami kommt, müssen wir zum höchsten Punkt in der Stadt laufen«, instruierte er Achim, der mit glasigem Blick an seiner Bierflasche nuckelte. »Und bei einem Erdbeben muss man Schutz unter etwas suchen, was stabil ist. Zum Beispiel unter einem Esstisch. Oder im Türrahmen. Es gibt aber auch Sandhosen und Tornados und …«

Achim gab endlich auf, blickte demonstrativ auf seine Uhr und begab sich in sein vollmundig so betiteltes Hobbyzimmer, ein Handwerkerreich voller Schrauben und Muttern und Ersatzteile, das Judith nie betrat. Gewonnen. Sie wandte schnell den Blick ab, damit sie nicht laut auflachte, denn ausgerechnet jetzt suchte Gregor nach etwas Neuem im Internet. Nach Spielkarten, wie es aussah. Tarotkarten? Sie kannte sich nicht damit aus, aber die Dinger schienen noch langweiliger zu sein als Wetterberichte, falls das überhaupt möglich war.

 

Seit gestern durfte er also an den Computer, was Judith jedoch schon wieder bereute, denn der Junge saß die ganze Zeit wie in Trance vor dem Ding und starrte unentwegt auf den Bildschirm, obwohl draußen jetzt endlich der herrlichste Sommer ausgebrochen war – sonnig und warm, nicht zu schwül, mit einem gelegentlichen kleinen Schauer, der die Welt immer wieder neu erfrischte und in den Straßen den unvergleichlichen Geruch nach Sommerregen auf heißem Asphalt hinterließ.

»Geh doch ein bisschen runter, Gregor«, schlug sie vor. »Deine Freunde sind auch unten.«

Freunde war die Übertreibung des Jahres, denn die drei jüngsten Junescu-Kinder duldeten Gregor einfach nur bei sich, wie man einen Hund duldete, redeten aber nicht groß mit ihm. Trotzdem war Judith ihnen dafür dankbar. Außerdem waren die immer unten, egal welche Jahreszeit und welches Wetter herrschte, und sie vergnügten sich damit, in dem kümmerlichen kleinen Park herumzulungern, mit Stöcken gegen die Mülltonnen zu schlagen oder mit dem Sohn von Frau Regner in sein Handy zu starren, was im Endeffekt auch nichts anderes war, als vor dem Computer im Wohnzimmer zu dösen. Trotzdem, dort unten war wenigstens frische Luft, und es schien Gregor ja auch bei den Kindern zu gefallen, denn er ging ohne zu murren hinunter.

»Aber lauf nicht weg«, schärfte Judith ihm noch ein, wofür sie sich sofort ein bisschen schämte. Er war vierzehn, verdammt noch mal. Er hatte ein Handy mit eingespeicherten Nummern – wenn auch kein Smartphone, das konnte Marlene sich offenbar nicht leisten –, also würde er schon nicht verloren gehen.

Frank war in dem Alter kaum noch zu Hause gewesen, sondern immer unterwegs, beim Training, bei Freunden und am Wochenende auf Partys. Überall, nur nicht bei ihnen, als ob sie aussätzig wären. Und wenn sie dann abends mit den ewig gleichen Handgriffen den Tisch für sich und Achim mit den ewig gleichen Nahrungsmitteln deckte, wenn die Fanfare der Tagesschau durch die Wohnung schallte und jeder Abend gleich ablief, dann wäre Judith am liebsten manchmal auch mit Frank aus der Wohnung geflüchtet.

 

Durch das offene Fenster war jetzt aufgeregter Lärm von der Straße zu hören. »Guck mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«, rief eine wütende Männerstimme. »Jetzt sag doch mal einer diesem unterbelichteten Kerl, dass er da weggehen soll!«

Von dumpfer Vorahnung getrieben, stürzte Judith auf den Balkon hinaus. Ach du lieber Himmel. Unten hatte sich ein kleiner Menschenauflauf an der gelben Tonne gebildet, die Gregor wie ein bulliger kleiner Krieger bewachte. Sie entdeckte Herrn Walter in seinen Filzpantoffeln, die wenigen Haare mühsam an den Kopf pomadisiert, wie er mit dem Zeigefinger drohend die Luft zerhackte und auf Gregor einschimpfte. Dahinter die Junescu-Kinder, die sich vor Vergnügen krümmten und ihn nachäfften, und der Junge von Frau Regner, der alles mit seinem Handy filmte. Neben ihnen stand die blonde Frau Regner selbst, die erfolglos versuchte, zu Wort zu kommen, und der Mops von Regners schnüffelte begeistert an der Tonne und gab dabei schnaufende Glücksgeräusche von sich. Außerdem waren noch zwei Passanten stehen geblieben und verfolgten ungeniert das sich entfaltende Spektakel, und der junge Mann aus der WG ganz unten – Lars hieß er wohl, das stand zumindest an der Klingel – trat jetzt ebenfalls dazu. Judith registrierte, dass er neuerdings einen etwas kümmerlich geratenen rötlichen Vollbart trug, und mit seinen wild tätowierten Armen sah er jetzt aus wie ein Wikinger vor dem Angriff auf die Angelsachsen.

»Das geht nicht da rein«, hörte Judith Gregor rufen, seine Stimme hoch wie die eines Mädchens.

»Gregor, was ist denn?«, machte sie sich vom Balkon aus bemerkbar, obwohl sie Frauen unmöglich fand, die ihre ganze Lebensgeschichte vom Balkon hinunterbrüllten.

»Das geht da nicht rein!«, rief Gregor erneut, diesmal mit einem Schuss Verzweiflung und ohne dass er sie bemerkt zu haben schien. Was zum Teufel war da los?

»Frau Regner?«, rief Judith hilflos, aber ihre Stimme ging in dem einsetzenden Tumult unter, denn jetzt versuchte Herr Walter erneut, zur gelben Tonne vorzudringen. Er schwenkte kampfeslustig eine Tüte, kam aber nicht an die gelbe Tonne heran, weil Gregor den Deckel zupresste. Verdammt noch mal.

Judith schnappte ihren Wohnungsschlüssel und rannte so schnell sie konnte die Treppen hinunter. Dem Walter war es durchaus zuzutrauen, dass er handgreiflich wurde. Unten angekommen, sah sie erleichtert, dass der Student im Wikingerlook Herrn Walter bereits festhielt und beruhigend auf ihn einredete. Gregor keuchte, zwei Krähen hatten sich zu ihm gesellt und wurden von dem Mops begeistert angebellt.

»Was ist denn nur los?« Judith versuchte, ihrer Stimme einen autoritären Klang zu geben.

»De … de … der Mann …« Gregor war völlig aufgelöst und fing plötzlich an, wie ferngesteuert hin und her zu rucken, eine Vorstufe zu seinem unaufhörlichen Kreiseln.

»Herr Walter?«, fragte sie scharf.

»Der ist doch total bekloppt«, schimpfte der Walter. »Lässt mich nicht durch mit meinem Verpackungsmüll. Der hat sie doch nicht mehr alle.« Er schwenkte die Tüte wie einen Morgenstern über den Köpfen der Leute.

»Ey, Alter«, japste einer der Junescu-Jungen. »Krieg dich wieder ein.«

»Die Alu … Alu …« Gregor verhaspelte sich.

»Die Alufolie«, kam Frau Regner Gregor zu Hilfe. »Die soll nicht in die gelbe Tonne, das meint er.«

»So ein Blödsinn!«, rief Herr Walter aufgebracht. »Natürlich kommt die da rein, und zwar schon seit Jahren.«

»Ja, natürlich, entschuldigen Sie bitte«, versicherte Judith ihm hastig. »Mein Neffe kommt aus Bayern. Vielleicht ist das da anders. Nicht wahr, Gregor?« Sie arbeitete sich zu ihm vor und warf dem Studenten einen dankbaren Blick zu. »Entschuldigung«, sagte sie erneut, an niemand Bestimmtes gerichtet. »Das ist halt alles anders in Bayern.« Sie strich Gregor beruhigend über den Arm. Ob sie ihn an die Hand nehmen und wegführen konnte? Würde das gut gehen?

»Bayern«, stieß Herr Walter aus. Er legte seine ganze Verachtung in dieses Wort, als wäre Bayern ein exotischer Kulturkreis am anderen Ende der Welt, wo die Leute rückwärtsliefen, die Sonne abends aufging und Zweijährige für den reibungslosen Ablauf der Mülltrennung verantwortlich waren.

»Alufolie kommt da nicht rein«, widersprach Gregor beharrlich, aber seine Stimme wurde leiser, sein Rucken langsamer, und sein Blick wirkte auf einmal abwesend. Judith wagte einen Vorstoß und griff nach Gregors schlaffer Hand. Der Junge ließ es willenlos geschehen und so zog sie ihn ein Stück zur Seite, weg von der unsäglichen gelben Tonne.

Sofort bahnte Herr Walter sich triumphierend seinen Weg, leerte seine Tüte betont gründlich aus, schüttelte sie ewig, um auch das letzte Fitzelchen Alufolie gründlich zu entsorgen, und sah sich Beifall heischend um. Als keiner etwas sagte, stach er ein letztes Mal mit dem Zeigefinger in die Luft. »Wir sind hier nicht in Bayern«, informierte er alle Zuschauer. »Das wäre ja noch schöner.«

»Entschuldigung«, quetschte Judith etwa zum hundertsten Mal heraus. Warum ging der nicht endlich weg? Sie fing Frau Regners Blick auf. Die verdrehte die Augen in Richtung des Alten. Ein Lächeln huschte zwischen den beiden Frauen hin und her.

Gemeinsam sahen sie Herrn Walter nach, der mit gebeugtem Rücken und krumm wie ein Komma zurück zum Haus schlurfte. Hinten hatte seine Weste ein Loch, aber das würde er wohl nie merken. Außerdem entwickelte er allmählich eine Art Buckel, ob von der dauernden Missmutigkeit oder seiner generell schlechten Haltung war schwer zu sagen. Der Glöckner der Brunnerstraße – fast tat er Judith leid. Die Auseinandersetzung an der Mülltonne war garantiert heute sein einziger Kontakt zu anderen Leuten gewesen. Die Passanten gingen weiter, und der Wikingerstudent klopfte Gregor kurz auf die Schulter, ohne zu wissen, was er damit auslösen konnte. »Alles klar, Kumpel?«

Zu Judiths Erstaunen wehrte Gregor ihn nicht ab.

»Die Alufolie kommt da aber nicht rein.« Gregor fixierte die gelbe Tonne. »Der Mann weiß gar nichts. Der ist behämmert.«

Der Sohn von Frau Regner lachte.

»Na ja – wo er recht hat, hat er recht«, stimmte Frau Regner Gregor zu. »Und wenn es nun mal in Bayern so ist …?«

Judith hatte nicht die geringste Ahnung, welche Müllzustände in Bayern tatsächlich herrschten. »Das ist die Frau Regner, die unter uns wohnt«, lenkte sie das Gespräch in neutrale Bahnen, damit Gregor endlich auf andere Gedanken kam und nicht noch in die gelbe Tonne kletterte, um die Alufolie wieder herauszuholen. »Die immer Klavier spielt. Das hat dir doch so gefallen.«

»Die Musik ist sehr schön«, lobte Gregor auch prompt und Judith atmete auf.

»Danke. Da bist du aber der Einzige, der das findet.« Frau Regner lächelte höflich.

»Das stimmt nicht«, mischte ihr Sohn sich ein. »Dem Benedikt hat es auch gefallen.«

»Ach, das ist Ihr Freund, nicht wahr?« Judith hatte den jungen Mann schon mehrmals im Haus getroffen. Ihr Typ war der ja nicht, so ein alternativer Schlaffi mit Augenringen, der aus seinem Bart wie aus einer Brombeerhecke hervorlugte und irgendwie auch nie zu arbeiten schien, jedenfalls kreuzte er zu allen möglichen Tageszeiten hier auf.

»Der Benedikt ist Geschichte«, wies Frau Regner ihren Sohn zurecht, während eine leichte Röte ihren Hals hinaufkroch.

Ach Gott. Judith sollte jetzt wohl lieber gehen.

»Der hatte guten Musikgeschmack, war aber ein riesen Arschloch«, teilte ihr Sohn jetzt allen mit.

»Jonas!«, fauchte seine Mutter ihn an. Sie wurde noch röter.

»Das hast du doch selbst gesagt, Mama.«

Betretenes Schweigen breitete sich aus.

Judith entschied sich für ein neutrales Lächeln. »So, wir gehen dann mal wieder hoch, ich hab noch zu tun.« Sie setzte sich in Bewegung, aber Gregor blieb stehen.

»Mein Vater ist auch ein Arschloch.«

»Asseloch«, wiederholte die kleine Junescu-Tochter begeistert. »Alle Asseloche. Alle!«

»Also, ich glaube …«, setzte Judith an, aber weiter kam sie nicht, denn Frau Regner prustete los.