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Wenn jemand Doris Hoffmann vor dreißig Jahren vorausgesagt hätte, wie ihr Leben mit achtundfünfzig aussehen würde, hätte sie wahrscheinlich entsetzt ihren Rucksack geschnappt und wäre doch mit ihrer Freundin Regina nach Indien gereist. Dann hätte sie zwar mittlerweile eine Haut wie eine alte Aktentasche und würde selbst geknüpfte Ketten an Touristen verkaufen, aber das wäre nicht so schlimm, denn vom lebenslänglichen Kiffen wäre ihr Gehirn in eine Art selige Umnebelung geraten und sie hätte das alles nicht so richtig mitbekommen. Auf jeden Fall würde sie nicht zwischen Halbtagsjob, Einkaufen und Haushalt hin und her hetzen und ansonsten jede freie Minute damit verbringen, eine alte Frau zu füttern und zu pflegen, die sie nie hatte leiden können, nämlich ihre Schwiegermutter. Die stille, nur mühsam unter Kontrolle gehaltene Abneigung beruhte im Übrigen auf Gegenseitigkeit.

Ein Irrsinn war das alles. Ihr Mann Jochen war zu schwach, um sich gegen seine dominante Mutter durchzusetzen, die ihn selbst im Rollstuhl noch wie eine lateinamerikanische Diktatorin im Ruhestand herumkommandierte und einfach verlangt hatte, dass sie zur Pflege hier einzog. Jochen hatte ohne zu mucksen zugestimmt, aber ihn betraf es ja auch nicht, denn er war ständig auf Geschäftsreisen, und so blieb alles an Doris Hoffmann hängen. Die Fahrten zur Reha, zur Physiotherapie, zur Ergotherapie, das Füttern, die Körperpflege, das Fenster auf, das Fenster zu, die Wolldecke auf die Knie, das Kissen hinter den Rücken, den Fernseher an, den Fernseher aus. Es war ein quälender ewiger Kreislauf, und manchmal, wenn sie morgens im Bett an all die Pflichten dachte, die an diesem Tag wieder auf sie warteten, überkam sie eine derart ohnmächtige Müdigkeit, dass sie sich selbst wie gelähmt fühlte. Sogar tagsüber, wenn sie manchmal erschöpft innehielt, zog ihr eine bleierne Schwere die Augen zu, sodass sie jedes Mal von dem brennenden Wunsch erfasst wurde, die Augen einfach nie wieder aufzumachen.

 

Jetzt zwang sie sich zur Ruhe und schraubte ihre Stimme in eine aufgesetzt fröhliche Tonlage.

»Hier, Elvira, ich hab dir Kartoffelbrei und Lachs gemacht, das magst du doch.« Sie winkte der alten Frau mit dem Löffel zu wie einem Kleinkind.

Ihre Schwiegermutter schaute sie missmutig an. »Ich möchte das selbst essen.« Es klang ein bisschen genuschelt und undeutlich, wie alles, was sie sagte. Der Schlaganfall vor ein paar Monaten hatte ihre gesamte rechte Seite gelähmt, und die linke funktionierte nur noch unkoordiniert.

Wortlos reichte ihr Frau Hoffmann den Löffel. Dann probier es doch. Du schaffst es ja eh nicht. Und in der Tat war der Versuch ihrer Schwiegermutter, sich mit der linken Hand Essen in den schiefen Mund zu befördern, katastrophal. Es gelang ihr nicht einmal, den Kartoffelbrei auf den Löffel zu schaufeln, er rutschte wieder und wieder davon, während die Schwiegermutter den Brei immer hektischer mit ihrem Löffel quer über den Teller verfolgte. Ein wütender Laut des Unwillens entfuhr ihr und sie ließ den Löffel fallen. »Ich sterbe sowieso bald.«

»Sag nicht so was. Das wird schon wieder. Du musst dich nur ein bisschen anstrengen.«

»Ich strenge mich ja an. Du weißt gar nicht, wie das ist.«

Die Luft zwischen ihnen lud sich immer mehr auf, schon der kleinste Funke würde ein Gewitter auslösen, einen zwischen den Zähnen herausgepressten Streit, irgendetwas würde herunterfallen und am Ende würde eine von ihnen heulen. Manchmal heulten sie am Ende auch beide.

Die alte Frau schielte gereizt unter ihren strähnigen Haaren hervor, die nutzlose rechte Hand lag welk auf ihrem Schoß, die linke strengte sich so an, dass die Adern auf ihrer Stirn hervortraten. Dann zuckte sie unkontrolliert und fegte den Teller samt Kartoffelbrei und klein geschnittenem Lachs vom Tisch.

Frau Hoffmann sog scharf die Luft ein und würgte ihre aufkommende Aggression hinunter. War das ihre Bestimmung? Dass sie hier von ihrem eigenen Leben im Zeitlupentempo zerstückelt und zermalmt wurde?

»Du könntest mich auch mal wieder in unsere Laube fahren bei der Hitze«, sagte die alte Frau plötzlich weinerlich. »Da ist es immer so schön ruhig und grün.«

Was? Wie um alles in der Welt kam sie gerade jetzt darauf? Beinahe hätte Frau Hoffmann aufgelacht. Die Laube! Nach der Laube verlangte es die Gnädigste also. Dieses schrottige Häuschen am Stadtrand mit den leeren Karnickel- und Hühnerställen, den überwucherten Beeten, den Bäumen, die schwer und tief hingen und die seit Jahren keiner mehr verschnitten hatte.

»Da gibt es nichts mehr zum Erholen, Elvira«, antwortete sie, während sie routiniert den Teller und die Essensreste vom Boden aufhob. »Die Laube und den Garten können Jochen und ich nicht auch noch versorgen. Wann denn?« Sie machte eine resignierte Handbewegung, die das alles hier – das Wohnzimmer, die Schwiegermutter, die Schnabeltasse und den Kartoffelbrei mit einschloss. »Du solltest die Laube und das Grundstück endlich verkaufen.«

»Niemals«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Es war nicht der beste Augenblick, aber irgendwann musste Frau Hoffmann es ihrer Schwiegermutter ja mitteilen, und außerdem hatte sie langsam die Faxen dicke mit dieser idiotischen Laube.

»Sieh mal, der Jochen hat eine Verkaufsanzeige ins Internet gestellt, mit Fotos von der Laube und allem. Er hat es auch ausgedruckt, sogar auf Fotopapier.« Sie fischte ein kartoniertes Blatt aus einem Umschlag. Retuschierte Fotos, die aus einem günstigen Winkel aufgenommen worden waren, präsentierten die Laube als ein idyllisches rotes Holzhaus, in dem nur noch die Kinder aus Bullerbü zum Familienglück fehlten. Eine clever formulierte Beschreibung pries das von Brennnesseln zugewachsene Grundstück als Paradies im Grünen an. Dass die Laube modrig roch, die Sonne wegen der Nordlage nur ein paar Stunden am Tag auf die armselige Parzelle fiel und das Klohäuschen daneben noch aus dem letzten Weltkrieg stammte, wurde selbstverständlich verschwiegen. Stattdessen gab es den diskreten Vorschlag, dass man das »Grundstück auch anderweitig nutzen« könne. Also plattmachen, abreißen, was Neues hinbauen.

»Das könnt ihr doch nicht machen«, empörte sich die alte Frau. »Das Grundstück wird nicht verkauft! Da kann man doch wieder was anbauen. Obst und Gemüse, der Kirschbaum dort hat immer ganz viele Früchte getragen. Das Grundstück hat schon meinen Eltern gehört, der Großvater vom Jochen hat dort die herrlichsten Stachelbeeren geerntet. Ein großes Gewächshaus hatten wir da immer und im Sommer war es wunderbar kühl.«

»Ich weiß.«

»Wenn ihr die Laube nicht nutzt, dann quartieren sich heimlich die Flüchtlinge dort ein, das stand in der Zeitung.«

Blödsinn. Und selbst wenn – wen juckte das? »Elvira, auch Flüchtlinge haben keine Lust, in einer Holzhütte ohne Strom zu hocken und ins Unkraut zu starren.«

Die Schwiegermutter blieb stur. »Wenn ihr das Grundstück mit der Laube nicht wollt, dann überlasst es doch wenigstens dem Max. Dann kann der später mal mit seinen Kindern hin.«

Mit welchen Kindern denn? Max hatte ja noch nicht mal eine Freundin. Er arbeitete und arbeitete und gewann einen Fall nach dem anderen, aber leider blieb ihm da keine Zeit für die Liebe und für potenzielle Enkelkinder schon gar nicht. Eine Sekunde lang sah Frau Hoffmann ihren Sohn vor sich, wie er im teuren Anzug durch die kniehohen Brennnesseln watete, sich mit einer Machete den Weg zur Laube bahnte und dabei »Gibt's hier ein vernünftiges WLAN?« rief. Absurd. Ihr Mund verzog sich.

»Da brauchst du gar nicht zu lachen.« Die Schwiegermutter sah sie tadelnd an und sofort heizte sich die Atmosphäre im Zimmer wieder auf. Die Luft war zum Schneiden, es roch nach Essen und Franzbranntwein, nach viel zu süßen Lilien, die längst verblüht waren und mittlerweile das Wasser in der Vase in eine schlammfarbene, übelriechende Brühe verwandelt hatten. Es musste dringend einmal gelüftet werden, Frau Hoffmann hatte das Gefühl, dass sie sonst gleich ersticken würde.

Es klingelte.

Froh über die Unterbrechung ging sie zur Tür, korrigierte ihren Gesichtsausdruck rasch von entnervt zu höflich-interessiert und öffnete. Draußen stand der Neffe von Krauses, dieser merkwürdige Junge, der irgendeine Störung hatte und einem nie in die Augen schaute. Seit sie ihn vor ein paar Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, war er ziemlich gewachsen, und zwar in alle Richtungen. Er hatte mindestens zwanzig Pfund zugelegt und trug ein viel zu enges blau-rot gestreiftes Hemd, in dem er wie ein Harlekin kurz vor dem Platzen wirkte. Wie hieß der gleich noch mal?

»Gernot«, begrüßte sie ihn freundlich. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich heiße doch Gregor.« Der Junge lachte in sich hinein, als hätte sie einen besonders knackigen Witz gerissen. »Gernot ist ein voll blöder Name.«

Also, so was. »Ach ja, Gregor, natürlich. Was kann ich für dich tun, Gregor

»Ich bringe das hier.« Er reichte ihr etwas, ein Paket von einem Onlineshop, irgendein Teil, das Jochen bestellt hatte. »Das hat der Briefträger bei uns abgegeben.«

»Ach so, danke.«

Er sah sie gespannt an, schien auf etwas zu warten. Wollte er Geld für diesen kleinen Botendienst? Warum guckte der so?

»Was ist denn drin?«, fragte er endlich und deutete auf das Paket.

»Also … ich …« Sie lachte verblüfft. »Ich wollte das jetzt eigentlich nicht öffnen.«

»Warum denn nicht? Wollen Sie nicht wissen, was da drin ist?«

»Das ist für meinen Mann.«

»Ist es was für mich, Doris?«, schallte die Stimme ihrer Schwiegermutter aus den Tiefen der Wohnung.

»Nein, es ist für den Mann von ihr«, rief Gregor zurück, bevor Frau Hoffmann überhaupt zu Wort kommen konnte. »Wir wissen aber nicht, was drin ist.«

»Doris?« Die Schwiegermutter klang verwirrt. »Wer ist denn da?«

»Nicht der Gernot«, rief Gregor, den das unheimlich zu erheitern schien.

»Doris? Was …?« Etwas klapperte, dann knallte es, gefolgt von einem Schmerzensschrei.

»Entschuldigung.« Frau Hoffmann rannte zurück ins Wohnzimmer, wo die Schwiegermutter beim Versuch, an ihre Krücken zu kommen, von der Couch gerutscht war.

»Elvira, was machst du denn da?«

»Ach, Doris, das ist alles so schrecklich. Aua, ich glaube, ich habe mich geprellt.«

»Du bist krank, du kannst nicht alleine aufstehen, das weißt du doch. Du musst sitzen oder noch besser liegen.«

»Meine Mutter liegt auch«, sagte da eine Stimme hinter ihnen. Frau Hoffmann fuhr herum. Dieser Gregor war ihr einfach gefolgt und stand jetzt mitten im Wohnzimmer.

»Sie liegt den ganzen Tag lang im Bett. In einem Koma, weil sie einen Unfall auf dem Parkplatz hatte. In einem Koma macht man gar nichts. Man träumt nur. Von Fahrrädern oder Menschen. Man merkt auch nichts. Ob es kalt ist zum Beispiel. Oder wie das Wetter ist. Es regnet ja heute, aber das merkt sie nicht, weil sie im Koma liegt. Es könnte auch einen Tsunami geben und sie würde es nicht merken.«

Frau Hoffmann und ihre Schwiegermutter starrten den Jungen an wie eine Erscheinung.

»In der Tat«, gelang es Frau Hoffmann endlich zu sagen. Elvira hatte vor lauter Verblüffung aufgehört zu jammern.

»Hatten Sie auch einen Unfall?«, erkundigte sich Gregor bei der Schwiegermutter. Dann lief er durch das Zimmer und betrachtete hemmungslos alle Fotos, die Basketballtrophäen aus Max' Schulzeit, den Mark-Rothko-Druck an der Wand und das gute Porzellan hinter Glas. »Hier riecht es komisch.«

Frau Hoffmann schluckte. »Danke für das Paket«, sagte sie laut. »Du kannst jetzt wieder gehen.«

»Ich hatte einen Schlaganfall«, meldete sich die Schwiegermutter mit einem Mal.

Frau Hoffmann bezweifelte, dass der Junge irgendetwas mit dieser Information anfangen konnte, doch er drehte sich interessiert um. »So was hatte der Opa von meinem Freund in Bayern auch vor drei Jahren. Da war gerade alles überschwemmt und das Wasser ging bis an die Häuser ran. Es waren zwölf Zentimeter mehr als 1990

»War seine rechte Seite auch gelähmt? Ich kann ja nur noch die linke Hand benutzen und auch die nicht besonders gut. Es ist schrecklich.«

»Ich glaube. Der hatte so ein schiefes Gesicht.« Gregor machte es vor.

»Und wie geht es ihm jetzt?«, erkundigte sich die Schwiegermutter gespannt. Sie schien völlig vergessen zu haben, dass sie noch auf dem Teppich saß.

»Nicht gut. Der ist tot. Wegen dem Schlaganfall, logisch.« Gregor wandte sich interessiert einem Foto zu, das auf der Anrichte stand. »Ist das der Frank?« Er deutete auf das Bild, auf dem Frank und Max zu sehen waren, als Zehnjährige in kurzen Hosen, jeder mit einem Eis in der Hand und dem sorglosen Lachen von zwei Kindern an einem sonnigen Ferientag. Ein Bild aus einem anderen Leben. Aus einem anderen Universum.

»Ja, das ist der Frank mit dem Max.« Frau Hoffmann schob ihre Hände unter die Achseln der alten Frau und stellte sich so hin, dass sie sie auf die Couch hochhieven konnte, ohne sich dabei den Rücken auszurenken.

Plötzlich stand Gregor neben ihr. »Der Frank kommt uns bald besuchen.«

»Ach, tatsächlich?« Das waren doch mal interessante Informationen. Dann stimmte es wohl, was Judith Krause immer erzählte? So richtig glaubte ihr Frau Hoffmann nämlich nicht, irgendetwas schien mit Frank passiert zu sein, irgendwas verschwiegen die ihr, aber ihr konnte man nichts vormachen. Wenn der Frank tatsächlich so ein toller Makler und so unendlich reich war, wie seine Mutter immer behauptete, warum kam er dann nie seine Eltern besuchen, hm? Ihr Max hatte leider auch keinen Kontakt mehr zu ihm, obwohl sie ihn schon mehrmals angestachelt hatte, etwas über Frank in Erfahrung zu bringen, im Internet oder so.

»Wann kommt er denn?« Sie ließ die Schwiegermutter einen Moment lang los. Elviras Lebensmut war nach dem niederschmetternden Schicksal von dem unbekannten Opa des Freundes von diesem Gregor auf den Nullpunkt gesunken, sie stierte trübe vor sich hin und ihr linker kleiner Finger berührte das Blatt mit den Laubenfotos, das bei dem Sturz ebenfalls auf den Teppich gesegelt war.

»Soll die Oma da hoch?«, fragte Gregor zurück, und noch ehe Frau Hoffmann ihm antworten konnte, hatte er die Schwiegermutter auf die Couch gewuchtet. Die stieß überrascht einen heiseren kleinen Schrei aus und atmete schnappend.

»Bald kommt der Frank«, fuhr Gregor fort. »Sehr bald. In Australien ist aber jetzt Winter. Da ist das Wetter verkehrt herum.«

»Das erlebe ich sowieso nicht mehr«, ließ sich jetzt Elvira vernehmen, die ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Ich sterbe bald. Mit mir geht es zu Ende.«

»Wann denn?«, erkundigte Gregor sich interessiert.

»Das weiß man doch nicht, wann man stirbt.« Die Schwiegermutter klang leicht verstimmt.

»Da merkt man komplett gar nichts mehr, wenn man tot ist«, stellte Gregor fest. »Da ist alles weg. Bei einem Koma merkt man auch nichts, obwohl man da noch lebt. Vielleicht fallen Sie auch in ein Koma. Das wäre ja erst mal besser.«

»Ich will aber nicht in ein Koma fallen«, wehrte sich die Schwiegermutter.

»Ist aber besser als sterben.« Gregor griff nach dem strunzhässlichen bunten Plastikfächer, der seit einer Venedigreise vor sieben Jahren ein sinnloses Dasein auf dem Regal fristete, und fächerte sich Luft zu.

Eine Weile lang sagte niemand etwas, dann seufzte Elvira demonstrativ. »Jedenfalls sterbe ich in absehbarer Zeit.«

»Aber heute nicht. Heute leben Sie ja noch.«

Sie sah verdutzt auf, lauschte Gregors letzten Worten nach und schien sie in Gedanken in ihrem Kopf hin und her zu wälzen. »Ja, das ist wahr«, sagte sie dann.

Frau Hoffmann lachte in sich hinein.

Gregor hob das Blatt mit den Fotos auf. »Das hier ist ein sehr schönes Haus. Sehr schöne Farbe. Da könnte man wohnen, wenn es ein Erdbeben gibt, denn es ist aus Holz und biegsam und man wird nicht von Steinen erschlagen und es gibt auch keine Hochhäuser in der Nähe.«

»Das ist meine Laube, mein Junge. Da haben wir früher immer unsere Sommer verbracht. Wir hatten Kaninchen und Hühner und Erdbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, Kirschen, Äpfel und jede Menge Gemüse. So viel Obst hatten wir, das konnten wir gar nicht alles essen, wir haben das dann immer eingeweckt.« Die Schwiegermutter hatte jetzt ein Glänzen in den Augen, wie immer wenn sie auf die Vergangenheit zu sprechen kam.

Frau Hoffmann stand auf, denn sie konnte das alles nicht mehr hören, und wenn sie nur an die zahllosen Gläser mit gelblich-bräunlichem Eingemachtem dachte, die schon seit Jahrzehnten mit ihrem mumifizierten Inhalt unten im Keller vor sich hin dämmerten und nicht weggeworfen werden durften, dann wurde ihr regelrecht schlecht. »Ich hol uns mal was zu trinken.«

Als sie schließlich mit dem Apfelsaft zurückkam, fand sie Elvira und Gregor in angeregtem Gespräch über die glorreiche Vergangenheit der Laube vor. Gregor lauschte den Ausschweifungen der alten Frau über Sommer, in denen es noch richtig heiß, die Gesundheit noch gut, eine Erdbeere noch richtig süß, ein Kind noch höflich, das Gras noch viel grüner und der Mond noch heller gewesen waren. Nur gelegentlich verlangte Gregor nach Zwischeninformationen, über die Niederschlagsmenge im Jahr 1956 zum Beispiel, die die Schwiegermutter aber nicht liefern konnte.

Frau Hoffmann hatte tatsächlich Zeit, in Ruhe die Küche aufzuräumen, ohne ständig von spitzen Befehlen und Klagelauten unterbrochen zu werden. Als Gregor nach einer Stunde ging, saß die alte Frau erschöpft, aber glücklich auf ihrem Platz. »So ein netter Junge«, meinte sie benommen.

»Ja.« Frau Hoffmann entsorgte die Blumen und öffnete endlich das Fenster. Wo war jetzt das Blatt mit der Info über die Laube? Sie hatte beschlossen, das Ding wegzupacken, bis Jochen von seiner Dienstreise wiederkam. Sollte der das seiner Mutter doch beibringen. Das Papier lag allerdings weder auf noch unter dem Tisch, auch nicht auf der Couch oder dem Fußboden. Seltsam. Hatte die Schwiegermutter es versteckt?

Gedämpfte Musik erklang von unten, wenn man das überhaupt als Musik bezeichnen konnte, so schrilles, rockiges Zeug. Das besoffene Nilpferd unter ihnen, Frau Dürer, leitete damit seinen Abend ein, und es würde im Verlauf der nächsten Stunden immer lauter werden und irgendwann dann mitsingen.

»Jetzt geht das wieder los«, sagte Frau Hoffmann zu Elvira.

Die stöhnte. »Dass ihr euch das gefallen lasst. Das muss man doch mal melden.«

Frau Hoffmann antwortete nicht. Die Exzesse von Frau Dürer waren das einzige Thema, über das sie mit der Schwiegermutter einer Meinung war und richtig schön genüsslich ablästern konnte. Wenn sie durch ein Verbot erreichte, dass Frau Dürer keinen Mucks mehr von sich gab, was blieb ihr dann noch?