8. TRANE SAIZ
Zielsicher flog der Pfeil seinem Ziel entgegen, um doch im letzten Augenblick, durch eine einzige Handbewegung, magisch abgelenkt zu werden. Statt in das ursprüngliche Ziel, bohrte sich das Geschoss tief in den Rücken von Magistra Telen.
Immer wieder spielte sich diese Szene in den Gedanken von Trane Saiz ab. Jedes Mal war dieser Treffer ein tiefer Stoß in sein eigenes Herz. Seit nunmehr zwei Monaten verfolgte ihn dieser dunkle Moment jeden Tag und jede Nacht. Er hatte zwar ihren Tod nicht feststellen können, aber er war erfahren genug, um zu wissen welche Treffer tödlich waren. Und dieser war es mit Sicherheit. An diesem Tag schwor er sich blutige Rache, an der Person, die sich dafür verantwortlich zeigte, zu nehmen. Er würde erst ruhen, wenn dies vollbracht war.
Trane Saiz kniete am Ufer des grauen Flusses und starrte gedankenversunken auf die beinahe glatte Wasseroberfläche. Es war windstill. Ohnehin hatte sich seitdem kaum ein Lüftchen geregt, beinahe so, als wäre der Gott des Windes in Trauer fortgegangen. Saiz zog die Pfeife aus dem Mundwinkel und blies den würzigen Dunst in die Luft. Anschließend klopfte er den Tabak mit Hilfe eines kleinen Steins aus der Glimmkammer und steckte das hölzerne Gerät ein.
Irgendwo hinter sich, hörte er ein Mädchen schreien. Zunächst war es lediglich ein schwaches Schluchzen, das an seine Ohren drang, doch es schwoll rasch zu einem regelrechten Kreischen an. Trane Saiz drehte sich langsam um und blickte zu dem kleinen Dorf hinüber. Ein kleiner Trupp von königlichen Soldaten scheuchte die Bewohner vor sich her. Ein kleines Mädchen war gestürzt und wurde brutal wieder auf die Beine gerissen. Mühselig erhob sich der Oberbefehlshaber aus dem feuchten Gras. Er klopfte den Dreck von seiner Uniform und rückte die Augenklappe gerade. Mit müdem Gang ging er den Soldaten entgegen, konnte dabei die Kraftlosigkeit in seinen Bewegungen nicht vollkommen kaschieren.
„Hauptmann“, rief Saiz, als er die erste Hütte des Dorfes passierte. Der angesprochene Soldat drehte sich zu ihn um und ließ das Mädchen augenblicklich los, welches sofort zu seiner Mutter eilte. Der Blick des Hauptmanns ließ Unverständnis und Überraschung erkennen. In seiner weißblauen Uniform, und in Kombination mit der roten Schärpe, ähnelte er einem seltenen Paradiesvogel.
„Der Junge ist das Ziel!“ Trane Saiz baute sich vor dem Hauptmann auf. „Oder irre ich? Demnach solltet Ihr Eure Zeit nicht mit den Mädchen verschwenden!“
„Verzeiht“, antwortete der Soldat freundlich, aber mit ernstem Klang in der Stimme. „Doch wenn ich nicht irre, seid Ihr nicht länger Oberbefehlshaber der Truppen. Die Königin hat Euch all Eurer Ämter enthoben, da Ihr mit dem Attentäter geflohen seid. Also steht uns nicht im Weg, sondern ergebt Euch besser, sofern Euch Euer Leben noch etwas wert ist. Da Ihr Euch hier bei diesen Bauern im Dorf verkriecht, scheint mir der Junge nicht allzu fern.“
Trane Saiz gefiel es überhaupt nicht, von einem Untergebenen in diesem Ton angesprochen zu werden. Vor zwei Monden noch, hätte er diesem jungen Möchtegern einmal gezeigt, wer hier das Sagen hat. Allerdings hatte Saiz es vorgezogen eine andere Richtung einzuschlagen und der Federkönigin nicht weiter dienlich zu sein. Die Gedanken an jenen schicksalhaften Tag kehrten in sein Gedächtnis zurück. Deutlich, als wäre es eben erst passiert, sah er wie der Pfeil Telens Rücken traf. Das teuflische Lächeln Arien Tulsas würde er sein Leben nicht vergessen. Noch ehe er die Lage überhaupt hatte begreifen können, wimmelte der Raum bereits von Soldaten, welche die Königin schützten und Kellan gefangen nahmen. Trane Saiz blieb lediglich den jungen Jarmo zu schnappen und den Wachen glaubhaft zu machen, er wäre sein Gefangener und hätte alles unter Kontrolle. Nur so war es ihm gelungen, zusammen mit dem Jungen, von Elora zu fliehen. Nun war die Zeit des Widerstandes gekommen und den Tod seiner Liebsten zu rächen.
„Ihr steht hiermit unter Arrest, Trane Saiz“, sagte der Hauptmann mit überlegenem Grinsen. „Es wäre das Beste, Ihr verratet uns, wo der Junge steckt und vermeidet somit, dass wir noch mehr von diesem Bauernpack foltern müssen!“
Die Blicke der beiden Kontrahenten trafen sich. Die Genugtuung in den Augen des wesentlich jüngeren Hauptmanns störte Saiz nicht. Er kannte diese Art von Männern, die in ihrem neuen Posten aufgingen und so manches Mal dabei über das Ziel hinausschossen. Trane Saiz ging einen Schritt vor und hielt dem Blick des Jüngeren mühelos stand. Die in der Luft liegende Spannung war beinahe spürbar. Die Soldaten des Hauptmannes ließen von ihren gegenwärtigen Handlungen ab und traten an die beiden Männer heran. Wie zwei Duellanten standen sie sich gegenüber, so nah, dass sie sich beinahe berührten. Kein Anzeichen von Nervosität, keine Schweißperle zeigte sich auf der Stirn des jungen Hauptmanns. Saiz merkte, dass er ihn nicht einschüchtern konnte.
Ohne eine Miene zu verziehen, stieß Trane Saiz den rechten Arm vor. Sein Gegenüber zuckte kurz, die Augen des Mannes weiteten sich vor Überraschung und Fassungslosigkeit. Saiz spürte die warme Flüssigkeit, die über seinen Handrücken lief. Er stützte den Hauptmann mit der anderen Hand, während er sah, wie die Augen des Jüngeren ihren Glanz verloren. Erst dann zog er den langen Dolch wieder aus dem Körper und ließ den Mann zu Boden sinken.
Es dauerte wenige Lidschläge, ehe die Soldaten aus ihrer Starre erwachten. Sie fixierten den Mörder ihres Hauptmannes, blickten einander an und waren unsicher, ob sie angreifen sollten oder nicht. Trane Saiz stand ihnen reglos gegenüber und wartete. Ein jüngerer, vollbärtiger Soldat reckte schließlich sein Schwert gen Himmel und schrie:
„Für den Hauptmann!“
Der Ruf löste die Starre! Die Soldaten stürmten vor. Trane Saiz ließ den Bärtigen dicht an sich herankommen, beobachtete den Weg des gegnerischen Schwertes, welches mit weitem Schwung auf ihn niederrauschte. In letztem Augenblick tauchte Saiz unter dem Hieb hindurch, packte dabei den Waffenarm seines Gegners und riss ihn herum. Der nachfolgende Angreifer konnte seine Attacke nicht mehr stoppen und hieb mit seinem Schwert in den Körper seines Gefährten, den Saiz wie einen Schild vor sich hielt. Die anderen Soldaten schafften es nicht mehr nahe genug an ihren Gegner heran. Hinter den Hütten tauchten in diesem Moment ein dutzend Bauern auf. Jeder von ihnen hielt einen Bogen in der Hand und zögerte nicht, den todbringenden Pfeil auf die Angreifer zu schießen. Die Soldaten hatten dem Hinterhalt nichts entgegen zu setzen. Noch bevor sie Trane Saiz erreichten, brachen sie unter mehreren Treffern zusammen. Einige waren sofort tot, andere schrien und wimmerten vor Schmerz.
Der einstige Oberbefehlshaber ließ den bärtigen Soldaten los, wischte den Dolch an seiner Hose ab und steckte ihn zurück in das Futteral am Gürtel. Einer der Bogenschützen lief zu ihm hinüber. Die anderen, zum Teil auch Kinder und junge Frauen, folgten ihm in einigem Abstand.
„Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch hierher kommen“, sagte Saiz zu Jarmo, einem der Bogenschützen. „Eure Ausbildung hat sich bezahlt gemacht. Tötet die Soldaten, die nicht mehr zu retten sind. Sorgt dafür, dass sich die Überlebenden unserer Sache anschließen. Wir werden bald aufbrechen, um die anderen Dörfer aufzusuchen. Ich hoffe, wir finden noch ausreichend kampffähige Männer und Frauen.“
„Bestimmt“, gab sich Jarmo zuversichtlich. „Es gibt einige Dörfer entlang des Flusses und auch weiter im Südosten. Sie werden sicherlich gewillt sein, sich unsere Sache anzuschließen!“
Trane Saiz ließ seinen Blick an den wenigen Holzhütten vorbei in Richtung Südosten schweifen.
„Sofern sie noch leben“, sagte er mit einem Hauch von Bitterkeit in der Stimme.