18. ELLIE
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als die Expedition startete. Sie waren zu acht: Ellie, Begayien, Tanner und noch fünf weitere Männer aus Avrannah. Sie waren allesamt in dicke Fellkleidung gehüllt, hatten Kapuzen übergestülpt und die Gesichter vor der eisigen Kälte durch Tücher geschützt. Ein gewaltiges Lasttier begleitete sie, welches die gesamte Ausrüstung trug, die sie benötigten. Ellie erinnerte dieses Tier, das die Männer einen Horakuu nannten, entfernt an ein Mammut. Nur ohne Stoßzähne und Rüssel.
Ellie ging mittig zwischen den Männern. Sie wurde von Begayien und Tanner flankiert. In der vergangenen Nacht hatte es stark geschneit. Bei jedem Schritt sackten sie bis zu den Schienbeinen in den Neuschnee ein und kamen nur schwerlich voran. Die Luft war frisch und klar. Die Kälte fühlte Ellie nur an der Stirn, die nicht vom Tuch verdeckt war. Am restlichen Körper spürte sie sogar eine angenehme Wärme, dank des Kokuuli auf ihrer Haut.
Sie waren von Avrannah aus in Richtung Westen aufgebrochen. Als Ellie zurücksah und die Eisstadt betrachtete, war sie ein wenig enttäuscht. Sie hatte sich eine Art Schloss vorgestellt, mit hohen Türmen, die Wind und Wetter trotzten. Stattdessen erinnerte sie Avrannah an viele langgezogene Iglus, die miteinander verschmolzen waren und sich wie kleine Hügel übereinander aufschichteten. Von außen war die Stadt so weiß wie ihre Umgebung. Wer den Standort nicht kannte, würde sich im ewigen Eis des Nordens wohl zu Tode suchen. Lediglich ein einsamer Turm markierte den Ort.
Die Schneelandschaft kam Ellie unendlich vor. Wohin sie auch blickte, sie entdeckte kaum etwas Anderes. Zwischendurch wurde die flache Ebene durch vereinzelte Risse oder höhere Eisformationen unterbrochen. Der Wind hatte Neuschnee an die Seiten dieser Formationen gedrückt und verlieh ihnen das Aussehen von weißen Sanddünen, wie sie Ellie von manchen Küsten kannte.
Im Süden konnte man entfernt die Spitzen einer hohen Gebirgskette erkennen.
„Liegt hinter dem Gebirge Iphosia?“, fragte Ellie.
Begayien zog das Tuch vor seinem Mund tiefer.
„Ja“, sagte er. „Das sind die Berge von Asha’Ree. Dort beginnt das Reich der Federkönigin.“
Asha’Ree . Ellie verspürte eine gewisse Vertrautheit, als sie diesen Namen hörte. Dies war das Gebirge, wo sie mit Kellan zusammen auf dessen Mutter Selen getroffen war. Der Gedanke an den Schattenkrieger elektrisierte Ellie. Ihr Herzschlag erhöhte sich. Hoffentlich komme ich nicht zu spät , dachte sie.
„Wie lange kann Jemand in dem Eisgefängnis überleben?“ Ellie hatte lange damit gewartet, diese Frage zu stellen. Die Angst vor einer Antwort, die ihr nicht gefallen würde, war zu groß. Doch nun musste sie es wissen.
„Ewig“, meinte Begayien. „Ihr sorgt Euch um Kellan, nicht wahr?“
Er blickte zu Ellie hinab. Sie erkannte die Zuversicht in seinem Blick und auch die Wahrheit, die dahinterlag. Allein dies beruhigte sie wieder.
„Das Gefängnis“, fuhr Begayien fort, „ist eine unterirdische Höhle. Darin befinden sich geformte Kammern aus Eis, in denen Gefangene in einer magischen, gallertartigen Masse liegen. Als Gefangener bist du bei vollem Bewusstsein, kannst nur nicht sprechen oder dich bewegen. So lange, bis dich jemand aus dieser Masse befreit.“
„Das ist ja furchtbar!“ Ellie schüttelte sich. Sie hatte mal einen Film über einen lebendig Begrabenen gesehen. Die Vorstellung alles mitzubekommen und nichts dagegen unternehmen zu können, war so ziemlich das Grausamste, was sie sich vorstellen konnte.
„Woher wisst Ihr, dass sich Kellan in diesem Gefängnis aufhält?“
„Ich weiß es nicht.“ Begayien versuchte ein Lächeln, doch überzeugend wirkte es nicht. „Es ist aber die einzige Möglichkeit, wo er sich hier aufhalten kann. Meine Männer haben zufällig Soldaten der Königin gesehen, die mit einem Gefangenen in eben diese Richtung zogen. Die Beschreibung des Gefangenen passt jedenfalls auf diesen Kellan.“
Ellie fiel ein Stein vom Herzen. Während Begayiens Antwort hatte sie für einen kurzen Augenblick beinahe die Hoffnung verloren. Aber die Erklärung des Statthalters klang für sie plausibel. Dennoch hinterließ diese Aussage einen kleinen Splitter des Zweifels in ihr.
„Nur noch ein kleines Stück und wir werden den Eispfad auf den Frostebenen erreichen. Dort ist das Vorankommen besser“, meinte Tanner Chera. „Die Frostebenen ziehen sich bis zum Kalten Meer hoch. Wir nennen sie so, weil der Wind aus Iphosia bis dorthin so weit abgekühlt ist und der Schnee sofort gefriert. Der Boden ist dort fester.“
Ellie nickte Tanner zu. Sie wusste zwar nicht so recht, was sie mit seiner Landschaftsbeschreibung anfangen sollte, war aber froh darüber. Ein wenig Abwechslung tat ihr jetzt gut.
„Warum lebt ihr in diesem unfruchtbaren Land?“, fragte sie. „Ich meine, sich dieser kalten Einöde auszusetzen wäre jedenfalls nicht so meine Sache.“
Tanner lächelte.
„So unfruchtbar ist dieses Land gar nicht“, sagte er. „Man muss nur wissen, wo man zu suchen hat. Eine Vielzahl an Pflanzen und Tieren gibt es hier. Aber auch Gefahren, die weit über das Erfrieren hinausgehen. Das Schönste hier ist die Abgeschiedenheit und die Ruhe. Kaum Jemand verirrt sich hier her. Nicht einmal die Federkönigin.“
„Ihr mögt die Federkönigin nicht?“ Ellie war die Verachtung in Tanners letztem Wort nicht verborgen geblieben.
Chera wandte sich von Ellie ab. Er blickte starr nach vorn, presste die Lippen aufeinander und schwieg.
„Niemand mag diese Hexe“, sagte Begayien stattdessen. „Sie hat ihm die Familie genommen. Er konnte zu uns fliehen, wo ihn der lange Arm Arien Tulsas nicht erreichen kann. Wer geht auch schon freiwillig in die Eislande?“
Ellie lächelte gequält. Im Grunde war sie eine von jenen, die freiwillig in diese unwirtliche Gegend gegangen ist. Allerdings musste sie sich zu Gute halten, dass sie zu Beginn ihrer Reise nicht wusste, wohin es sie verschlagen würde. Mit einer Eiswüste hatte sie wahrlich nicht gerechnet.
„Wie weit ist es noch?“, fragte Ellie. Avrannah war nicht mehr zu sehen, als sie sich umdrehte.
„Zwei bis drei Stunden“, meinte Begayien und wies mit dem Finger nach Nordwesten. „Wenn uns der Sturm nicht vorher erreicht!“
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte Ellie den Fingerzeig mit ihren Blicken. Dunkle, fast schwarze Wolkenberge schoben sich langsam über den Horizont. Mit einem Mal wurde die Sorge stärker, Kellan doch nicht mehr zu erreichen …