24. MAGISTRA TELEN
Wieviele Tage sich Telen bereits in der kleinen Zelle befand, wusste sich nicht. Zeit spielte hier keine Rolle, ein Wechsel von Tag und Nacht war nicht zu erkennen. Es gab nur nackte Steinwände, an denen in kleinen Halterungen vereinzelt eine Fackel brannte, und kalte Gitterstäbe. Die Luft war feucht hier unten. Feucht und modrig. Das bewies Magistra Telen, dass man sie auf dem Festland gefangen hielt und nicht oben auf Elora. Demnach kam nur das Nest in Frage.
Die blondhaarige Frau war allein. Die übrigen Zellen waren allem Anschein nach nicht belegt. Jedenfalls hatte Magistra Telen nichts vernommen, was diese Annahme widerlegen könnte. Auch Wachen waren keine hier. Man schien sich der Stärke der Gitter sicher zu sein. Allerdings würden sich bestimmt einige Soldaten oben aufhalten, denn zwei Mal pro Tag brachte man ihr etwas zu essen und zu trinken.
Einmal war Arien Tulsa gekommen. Nicht aus Gefälligkeit, sondern einzig allein, um sie zu quälen. Um sie mit Worten zu verletzen und ihr die aussichtlose Lage, in der sie sich befand, vor Augen zu führen.
Magistra Telen hatte die einsame Zeit zum Nachdenken genutzt. Sie saß dann immer, wie auch jetzt, mit dem Rücken an der Steinwand und blickte durch die Gitterstäbe hindurch. An der gegenüberliegenden Wand brannte die gelbrote Flamme einer Fackel und wirkte in gewisser Weise beruhigend auf die Hohepriesterin.
Arien Tulsa wollte Magistra Telen benutzen. Und allem Anschein nach, blieb ihr keine andere Wahl, als die Königin zu unterstützen. Würde sie sich weigern, wäre es der Tod ihres Bruders Kellan.
Im Grunde besaß Telen lediglich Tulsas Wort, dass er ihr Gefangener war. Es gab keinen Beweis und trotzdem musste sie darauf vertrauen. Die Königin hatte keinen Grund, sie in diesem Punkt zu belügen. Magistra Telen war sich allerdings sicher, wenn sie Tulsa bei der Durchführung des Rituals unterstützte, wäre das Leben ihres Bruders, sowie ihr eigenes, ohnehin verwirkt. Doch vielleicht konnte sie Zeit gewinnen. Möglicherweise gab es eine List, mit der sie den Untergang der Hoffnung noch verhindern konnte.
„Magistra?“ Eine zarte Stimme drang an das Ohr der Hohepriesterin. Langsam wandte diese den Kopf und sah eine junge Frau jenseits der Gitterstäbe stehen. Telen hatte sie nicht kommen gehört.
„Ennefe?“ Kurzzeitig war Magistra Telen gewillt aufzustehen und zu ihrer Schülerin an die Stäbe zu eilen. Sie entschied sich jedoch anders und blieb unbeeindruckt sitzen. „Wie kommt Ihr hier hinunter?“
„Ich wurde von der Königin geschickt, um nach Euch zu sehen“, antwortete die junge Frau. Sie hatte die Kapuze ihrer grünen Robe über die roten, geflochtenen Haare gezogen.
„Magistra!“ Mit einem schnellen Schritt trat sie dicht an die Stäbe und umfasste diese. Ihre Stimme zitterte. „Ich habe nicht gewusst, dass Ihr hier unten seid. Ich dachte, Ihr wäret tot!“
Telen erkannte im Widerschein der Fackel eine Träne, die Ennefe über die Wange lief. Die Magistra ging zu ihr hinüber und umfasste die Hände der jungen Priesterin.
„Es ist gut“, sagte Telen tröstend. „Es ist schön Euch zu sehen. Hat die Königin Euch etwas angetan?“
„Nein, es geht mir gut.“ Ennefe sprach hastig. Immer wieder wurden ihre Sätze durch Tränen unterbrochen. „Sie hat mich wegen des Rituals ausgefragt. Immer wieder. Sie vermutet, dass es etwas darüber gibt, was sie nicht weiß. Aber sie ist doch die Königin. Sie muss es doch wissen!“
„Sie hat immer nur auf ihre Berater gehört. Und wir haben sie beraten. Allerdings so, wie wir es für richtig erachteten. Das Ritual ist böse. Keine Königin hat es jemals gewagt. Und wir haben alles versucht, um es Arien Tulsa so schwierig wie möglich zu machen. Was habt Ihr der Königin über das Ritual erzählt?“
„Alles, was ich wusste!“ Ennefe schaute wie ein geprügelter Hund. „Das war falsch, oder?“
„Naja, gut war es nicht.“ Telen blickte nachdenklich zur Seite. „Aber es ist, wie es ist. Arien Tulsa ist eine mächtige Priesterin, da sie in direkter Linie von den alten Königinnen abstammt, aber sie ist nicht die wahre Königin. Nur die erstgeborene Tochter einer Königin ist die wahre Königin. Somit kann sie das Ritual sicher nicht erfolgreich absolvieren. Doch das ist nur Spekulation …“
„Die Königin ist so niederträchtig. Ich fürchte mich vor ihr …“ Die junge Priesterin brach ab. Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen und schluchzte hemmungslos.
„Keine Angst. Wenn Ihr Euch ruhig verhaltet, wird Euch nichts passieren. Wir finden eine Lösung.“
„Ich möchte, dass ihr mich zur Hohepriesterin weiht“, sagte Ennefe plötzlich. In ihrem Blick war von der Traurigkeit schlagartig nichts mehr erkennbar.
Telen sah sie überrascht an.
„Unmöglich!“ Telens Gedanken rasten. Selbstverständlich war Ennefe qualifiziert. Sie hätte schon längst geweiht werden sollen, wenn die Umstände andere gewesen wären. Aber wenn Telen dies jetzt tat, wäre es gleichzeitig ihr eigenes Todesurteil.
„Warum nicht?“ Ennefes Gesichtszüge verhärteten sich. „Ich bin bereit! Ich habe die Prüfung bestanden. Ihr dürft mir die Weihe nicht verweigern!“
„Ennefe, bitte versteht. Ich kann Euch nicht weihen, jedenfalls jetzt noch nicht …“
„Ihr müsst es tun!“ In den Augen der rothaarigen Priesterin flammte ein bösartiges Feuer auf, welches Telen zurückweichen ließ. „Die Königin wird mich bestrafen, wenn ihr es nicht macht! Ich bitte Euch nicht Magistra, ich flehe Euch an!“
Telen verwirrte der plötzliche Sinneswandel der jungen Priesterin. Von einer Sekunde zur nächsten war aus der traurigen, hilflosen jungen Frau eine fordernde Furie geworden. Obgleich ihr Flehen im krassen Widerspruch zu ihrem Zorn stand.
„Nein!“ Telens Antwort klang hart und bestimmt. Sie fragte sich, inwieweit die Königin den Willen der jungen Priesterin bereits gebrochen hatte.
„Ich werde einen anderen Weg finden! Verlasst Euch darauf!“ Ennefes Augen blickten eiskalt. Kurz darauf machte sie auf dem Ansatz kehrt und lief aus dem Zellentrakt. Telen trat vor und klammerte sich an die Stäbe. Sie sah ihr verzweifelt nach. Telen hatte sich von Ennefe täuschen lassen. Sie kannte die junge Priesterin und war von ihrer warmen, aber auch zurückhaltenden Art stets angetan gewesen. Doch Arien Tulsa war mächtig. Noch viel mächtiger, als Telen geglaubt hatte. Die Königin hatte ihren Stachel bereits tief in das Herz Ennefes getrieben und es würde sehr schwer sein, ihn wieder zu entfernen. Angst erfüllte die Magistra. Ein Gedanke nahm von ihr Besitz. Der Gedanke, dass Ennefe den einen Weg finden würde, die Weihe ohne Hohepriesterin zu erhalten.
Und das würde ihren eigenen Tod bedeuten.