38. ESPEN
Zu warten war eine der leichtesten Übungen des Schattenkriegers. ‚Geduldige Konzentration‘ nannte Espen diese Art des Ausharrens, ohne dabei das Ziel aus den Augen zu verlieren. Den richtigen Zeitpunkt zum Zuschlagen abzuwarten, wenn der Feind am wenigsten damit rechnete, war die effektivste Angriffsmethode.
Die Fesseln hatte Espen schon vor geraumer Zeit gelockert. Geduldig wartete er ab. Dabei tat er so, als wäre er in einen tiefen Schlaf gefallen. Um Ellie machte er sich keine Sorgen. Sie war weder eine Kämpferin, noch in irgendeiner Weise geschult, wachsam zu sein. Der kleinere der beiden Männer, die sich mit ihm im Zelt befanden, war ebenfalls kein Problem. Lediglich bei dem Hünen musste er vorsichtig sein.
Das Prasseln des Feuers wirkte beruhigend. Die Wärme im Zelt einschläfernd. Vorsichtig öffnete Espen die Augen. Er atmete flach. Seine Nerven waren zum Bersten gespannt. Im Widerschein des Feuers konnte er Ellie sehen. Die beiden Männer lagen hinter seinem Rücken. Vorsichtig lugte der Schattenkrieger über seine Schulter. Die Körper der Schlafenden zeichneten sich deutlich unter den Decken ab. In ruhiger Gleichmäßigkeit hoben und senkten sich ihre Brustkörbe. Ein gewinnendes Lächeln huschte über das Gesicht des blonden Schattenkriegers.
Wie ein Schemen huschte er von der Zeltstange hinüber zu der Seite, wo Begayien schlief. Keiner hatte Espens Bewegungen vernommen. Auf leisen Sohlen schlich er dichter an Schlafenden heran. Dicht in der Nähe seines Kopfes ging Espen in die Hocke. Während er mit der rechten Hand einen Dolch aus seinem Stiefel zog, ließ er Begayien keine Sekunde aus den Augen. Das Atmen des Statthalters war gleichmäßig und ruhig. Nichts deutete darauf hin, von Espens Nähe Notiz zu nehmen.
Der Schattenkrieger wog den Dolch in seiner linken Hand. Mit einer ansatzlosen Bewegung drehte er die Waffe zwischen den Fingern. Er packte den Griff fest und schlug mit dem Knauf zu. Er traf Begayien direkt an der Schläfe. Der Hüne reagierte nicht einmal. Die Bewusstlosigkeit überkam ihn mitten im Schlaf.
Espen grinste zufrieden. Er warf einen Blick über die Schulter, wo Ellie lag. Sie war sein nächstes Opfer. Geduckt huschte er zu ihr hinüber. Vorsichtig zog er die Decken von ihrem Körper. Ellie lag auf dem Rücken, was Espen für sein Vorhaben in die Karten spielte. Mit den flinken Bewegungen eines Taschendiebs huschte seine linke Hand behutsam über ihre Fellkleidung. Schließlich stieß er zu!
Der Stich war präzise in einem flachen Winkel geführt. Die Schneide ritzte lediglich die Fellkleidung an einigen Stellen auf. Mit wenigen Handgriff holte er aus einer der Schnittstellen ein gefaltetes Stück Papier hervor.
Dem Schattenkrieger fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte gefunden, wonach er suchte. Einige Atemzüge lang beobachtete er die schlafende Frau, bevor er sich umdrehte und unbemerkt aus dem Zelt entkam.
Auch außerhalb der Unterkunft war es ruhig. Eine schmale Mondsichel spendete kaum Helligkeit. Das zweite Zelt lag einige Schritte rechts von ihm. Der große, dunkle Schatten davor musste das Lasttier sein. Espen vermutete irgendwo in der Nähe eine Wache. Er glaubte jedoch nicht, dass diese besonders aufmerksam war. Hier draußen im Eis war die größte Gefahr die Kälte.
Espens Blick schweifte über die Landschaft. Die hohen Berge im Süden waren als dunkle Zacken erkennbar, die sich nur schwach von dem tiefblauen Himmel abzeichneten. Der Schattenkrieger umrundete das Zelt auf der linken Seite, um nicht den Eingang der anderen Unterkunft passieren zu müssen. Die Kälte durchdrang sofort die Kleidung des blonden Mannes. In der Nacht war es im Eis noch weitaus kälter und somit gefährlicher, als bei Tag.
Unbemerkt verließ Espen das Lager. Er lief den direkten Weg nach Süden. Sein Orientierungssinn funktionierte tadellos. Selbst im Dunkeln würde er den Ort wiederfinden, an dem Ylwan auf ihn wartete. Eigentlich hätte er Ellie töten sollen, doch er hielt es nicht für notwendig. Die Seite aus dem magischen Buch musste dem Handlanger der Königin genügen. Der Schattenkrieger mochte Ylwan nicht, aber er hatte Respekt vor ihm. Nicht einmal die besten Meuchelmörder verfügten über eine derartige Hinterlist. Diese, gepaart mit Kaltblütigkeit und der Fähigkeit Magie anzuwenden, machte Ylwan zu einem höchst gefährlichen Mann. Espen wusste, dass er nicht einfach zu bezwingen war. Doch bisher hatte er auch keinen Grund dazu gehabt.
Schneller als erwartet erreichte Espen das Gebirge. Der Aufstieg gestaltete sich schwierig. Die Felsen waren von Schnee und Eis überzogen. Sein Körper war schon ganz taub von der Kälte und er musste alles aufbringen, um seine Kräfte zu mobilisieren. Hin und wieder rutschte Espen aus, konnte sich dennoch immer wieder festhalten. Die Höhle, die er zu erreichen ersuchte, war nicht mehr weit entfernt. Der Schattenkrieger hoffte Ylwan würde sein Wort halten und ihn vor der Königin rehabilitieren. Dennoch musste er auf der Hut sein.
Mit einer letzten Kraftanstrengung zog er sich zur Plattform hoch, welche den Eingang zu der breiten Höhle bildete. Das hässliche Albinoflugtier stand davor und fauchte Espen böse an. Auf dem Rücken des Flugtieres lag ein menschengroßes Bündel, jenseits der zerzausten Schwingen.
„Es wurde auch Zeit“, sagte Ylwan und schwang sich hinter den Kopf des Albinos. „Meine Geduld hat Grenzen. Habt Ihr die Seite?“
„Was ist mit unserer Abmachung?“ Espen zögerte.
„Ich stehe zu meinem Wort. Gebt mir die Seite“, forderte der glatzköpfige Mann.
„Was ist das?“ Der Schattenkrieger deutete auf das Bündel hinter Ylwan.
„Das ist euer guter alter Freund. Er lief mir direkt in die Arme, war aber zu geschwächt, um gegen mich zu bestehen. Die Königin wird sich freuen, ihn wieder zu sehen. Das Glück uns hold. Und jetzt die Seite.“
Kellan , dachte Espen. Er hat es tatsächlich geschafft. Ein kurzes Gefühl der Erleichterung überkam ihn. Er reichte Ylwan die gefaltete Seite und wusste sogleich, dass es ein Fehler war, als der glatzköpfige Mann sie nahm und wegsteckte.
„Sind die Mädchen tot?“, wollte Ylwan noch wissen.
„Ihr habt die Seite“, sagte Espen. „Der Tod des Mädchens ist nicht erforderlich.“
„Narr“, schrie der Glatzkopf. Mit einer raschen Bewegung riss er die Zügel des Albinos zur Seite. Espen war einen kurzen Moment unaufmerksam. Der Flügelschlag des Tieres traf ihn mit voller Wucht. Hart wurde er im Gesicht getroffen und zurückgeschleudert. Nur mit einer geistesgegenwärtigen Reaktion verhinderte er es, über das Plateau zu rutschen.
„Gut, dass ich euch nicht getraut habe. Aber das ist nun egal“, rief Ylwan. „Der Tod der Mädchen ist bereits beschlossen. Sie werden das Eis nicht lebend verlassen!“
Lachend zog der glatzköpfige Mann den Albino-Ravener in die Höhe. Mit wenigen Flügelschlägen brachte er das Tier aus Espens Sichtfeld.
Der Schattenkrieger kam wieder auf die Beine. Ein Fluch entfuhr seinen Lippen. Er wandte sich um und sah über die weite Eisebene hinweg. Die schmale Mondsichel stand tief. Ein erster heller Schimmer im Osten kündigte den neuen Tag an.
Und in Espen wuchs eine bis dahin unbekannte Sorge.