6. ELLIE
Ellie fühlte, wie ihre Fingerkuppen den Kontakt zum Vorsprung verloren. Es gab nichts mehr, woran sie sich festhalten konnte. Nichts mehr, was ihren Sturz in den Tod noch verhinderte.
Aber sie fiel nicht. Sie hing noch immer über dem Abgrund. Genauso, wie noch wenige Lidschläge zuvor, obwohl ihre Hände keinen Halt mehr hatten. Stattdessen spürte sie einen kräftigen Druck an ihrem rechten Handgelenk. Verwirrt blickte Ellie nach oben. Jemand hatte ihren Arm gepackt und ihr somit das Leben gerettet. Sie konnte die Person nicht sehen. Das grelle Licht des Tages blendete sie. Sie wusste nur, dass es sich um einen Mann handelte, der in dicke Fellkleidung gehüllt war.
Eine zweite Hand wurde ihr entgegengestreckt.
„Nimm meine Hand“, sagte die Gestalt.
Ihr Herz machte einen Sprung. Sie kannte die Stimme. Ellie hatte sie ihn letzter Zeit viele Male vernommen. Ihr Verdacht, dass es sich bei ihrem Retter um Tanner Chera handeln könnte, bestätigte sich glücklicherweise nicht. Warum sollte er sie auch retten, wenn er zuvor noch ihren Tod gewollt hatte?
Nein, die Stimme gehörte Espen!
Sie zögerte. Warum rettet er mich? Was plant er? Die wildesten Gedanken rauschten durch ihren Kopf. Keiner von ihnen endete in guten Absichten.
„Komm schon“, forderte Espen. „Ich kann dich nicht ewig so halten!“
Sie wischte die Zweifel beiseite. Vorerst. Ihr blieb nichts Anderes übrig, wollte sie nicht als Futter für diese unheimlichen Viecher enden.
Die Eisfresser! Ellie hatte sie schon beinahe vergessen. Sie wagte nicht hinunter zu sehen, sondern schwang ihren Arm empor und versuchte Espens Hand zu packen. Es gelang ihr auf Anhieb.
Als würden die Eisfresser bemerken, dass ihnen das sichergeglaubte Opfer entging, schwoll das Kreischen an. Deutlich konnte Ellie das unheimliche Kratzen der dürren Beine hören, die über die eisige Wand krochen.
„Schnell“, rief Ellie. Panisch versuchte sie mit den Füßen irgendwo Halt zu finden, um Espen bei der Rettung zu unterstützen. Doch sie machte es dadurch nur noch schwieriger. Die unheimlichen Wesen kamen immer näher. Espen zog. Viel zu langsam näherte sich Ellie der rettenden Öffnung. Sie hatte das Gefühl, die Eismonster wären direkt hinter ihr und bräuchten sich nur noch abzustoßen, um sie zu packen. 
Flehend blickte sie Espen an, dessen Gesicht sie mittlerweile besser erkennen konnte. Sie glaubte in seinen Augen eine gewisse Verzweiflung zu sehen. Als wäre er sich nicht vollkommen sicher, sie überhaupt retten zu wollen.
„Bitte“, flüsterte Ellie. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Augen feucht wurden. Die Ungewissheit und die unbeschreibliche Angst vor den Eisfressern setzten ihr zu.
Espen presste die Lippen aufeinander. Plötzlich ließ er Ellies rechte Hand los. Im selben Atemzug packte er ihren Oberarm und zog sie mit einer übermenschlichen Kraftanstrengung auf die rettende Schneeebene. Der Eisfresser, welcher sich direkt hinter Ellie befand, stieß sich ab. Mit seinen spinnenartigen Vorderbeinen erwischte er ihre Wade und kletterte rasch auf ihren Rücken. Ellie spürte, wie die dürren Beine über ihren Körper krochen und schrie ihre gesamte Panik heraus. Sie rollte sich zur Seite, versuchte das bösartige Vieh abzuschütteln, doch es war zu flink. Es bewegte sich gegen Ellies Rettungsversuche, krabbelte auf ihren Bauch. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie, wie das Wesen das Maul öffnete und einen grauenhaften Laut ausstieß. Dünne, fingerlange Zähne kamen zum Vorschein. Der Eisfresser schob den Kopf zurück, um zum tödlichen Stoß auszuholen.
Espen reagierte blitzschnell. Für einen winzigen Moment blitzte etwas in seiner Hand auf. Sein Arm vollführte eine kreisrunde Bewegung und trennte mit einem einzigen Schnitt dem Eisfresser den Kopf ab. Neben Ellie fiel der Schädel in den Schnee. Mit Händen und Füßen krabbelte sie rücklings über den Boden und schüttelte dabei den zuckenden Torso ab. 
Die anderen unheimlichen Viecher erreichten den Rand des Abgrunds. Den ersten traf Espens Dolch noch bevor sich dieser überhaupt orientieren konnte. Der zweite stieß sich ab und sprang auf den Schattenkrieger zu. Instinktiv ließ Espen sich fallen und riss dabei gleichzeitig den Waffenarm hoch. Der unheimliche Eisfresser sprang direkt in die glänzende Klinge. Der Schattenkrieger kam mit einem Satz wieder auf die Beine. Er fixierte den Kadaver des Eisfressers mit dem Fuß auf dem schneebedeckten Boden. Es gab einen schmatzenden Laut, als er den Dolch aus dem Kopf des Wesens zog. Anschließend wandte er sich Ellie zu, die in einiger Entfernung noch immer auf dem Boden kauerte.
Sie zitterte am gesamten Körper. Die letzten Sekunden waren zu viel für sie. Tränen des Schreckens, aber auch der Erleichterung, rannen über ihre Wangen.
Alles um sie herum war für diesen Augenblick unwirklich. Sie war dem Tod zweimal nur um Haaresbreite entgangen. Und das alles nur vor wenigen Minuten. Ellie versuchte das Zittern und die Angst abzustellen, doch es schien ein Ding der Unmöglichkeit.
Sie bemerkte wie sich Espen zu ihr hockte und sie mit einem sanften, aber dennoch kräftigen Griff in den Arm nahm. Beruhigend strich er mit seiner Hand über ihr Haar. Ellie ließ es zu. Sie konnte Espen überhaupt nicht einschätzen, wusste nicht, welche Rolle er spielte. Aber in ihrem derzeitigen Zustand störte sie sich nicht daran. Das Einzige was zählte war, noch immer am Leben zu sein.
Nach einer gefühlten Ewigkeit löste sie sich aus seinen Armen. Sie blickte ihm in die Augen. Der Zweifel, den sie noch vor kurzer Zeit darin gelesen hatte, war verschwunden. Stattdessen sah Ellie in ihnen Zuversicht und Güte. Doch konnte sie ihm trauen? Vielleicht brauchte die Federkönigin sie lebend. Möglicherweise war sie nur deswegen nicht zum Opfer der Eisfresser geworden.
Ellie rutschte unwillkürlich ein Stück zur Seite und brachte ein wenig Abstand zwischen sich und dem Schattenkrieger.
„Warum hast du mich gerettet?“, fragte sie mit belegter Stimme. Die Erinnerung daran, dass er bei ihrem ersten Aufenthalt in Iphosia versucht hatte Kellan zu töten, kehrte zurück. Sie war sich ebenfalls sicher, dass er auch Anna und sie nicht verschont hätte, wenn es ihm damals gelungen wäre.
Espen erhob sich. Er drehte den Kopf und blickte in Richtung des Gebirges, bevor er wieder zu ihr sah.
„Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken“, war die knappe Antwort. „Wir sollten aufbrechen, bevor noch mehr von den Dingern aus diesem verfluchten Loch krabbeln.“
Der bloße Gedanke an die Eisfresser ließ Ellie frösteln. Sie warf einen angewiderten Blick auf den geköpften Leichnam.
„Danke“, sagte Ellie, als sie wieder zu Espen schaute. „Aber ich muss jetzt weiter!“
„Wo willst du hin?“ Espens Frage klang spöttisch. „Hier gibt es nichts als Kälte und Tod. Ich habe gesehen, wie der Kerl dich gejagt hat. Jetzt scheint er weg zu sein, doch ich befürchte, er wird wiederkommen. Was wollte er von dir?“
„Er hat sie alle getötet.“ Ellie sah in die Richtung, in der die Zelte standen. Auch aus dieser Entfernung war der blutgetränkte Schnee deutlich zu erkennen. „Mich wollte er ebenfalls töten. Ich weiß aber nicht warum. Zuerst war noch alles in Ordnung, doch auf einmal …“ Ellies Stimme versagte. Das Grauen war noch zu gegenwärtig.
Espen legte den Kopf schief. „Ich denke, Ylwan hat ihn beauftragt.“
„Wer ist das?“ Ellie fiel es schwer, die unterschiedlichen Personen einzuordnen. Als sie hier vor einigen Monaten mit ihrer Schwester zum ersten Mal eintraf, hatte die Federkönigin Arien Tulsa ihnen von Beginn an nach dem Leben getrachtet. Nun, bei ihrem zweiten Besuch gesellten sich Tanner Chera und dieser Ylwan dazu. Doch das Schlimmste daran war, dass Ellie überhaupt keinen blassen Schimmer hatte, warum sie dies taten.
„Du kennst Ylwan nicht?“ Espen wirkte überrascht. „Ylwan ist so ziemlich der hinterhältigste Kerl, den du auf diesem Land treffen kannst. Er ist die rechte Hand der Federkönigin, aber im Grunde ist er noch viel Schlimmer, als sie selbst.“
Irgendwann hatte Ellie den Namen des Mannes schon einmal vernommen, aber sie konnte ihn beim besten Willen nicht unterbringen. Aber jetzt war es ihr egal. Sie spürte, wie die Anspannung der letzten Minuten von ihr abfiel und die Kälte zurück in ihre Glieder kroch.
„Ich muss weiter“, sagte sie plötzlich und wandte sich ab.
„Wohin?“ Espen eilte ihr nach. Der Schnee knirschte unter seinen Schritten.
„Ich muss Kellan finden!“
„Das kannst du nicht!“
Ellie wurde sauer. Sie verspürte keine Lust mehr, sich mit dem Schattenkrieger auseinanderzusetzen. Sie traute ihm nicht. Seine Absichten waren ihr nach wie vor unklar und sie hatte keine Lust in Kürze von ihm gefesselt über den Schnee geschleift zu werden. Und wenn dem nicht so war, hielt er sie anscheinend für ein kleines, dummes Ding, das nicht wusste was sie tat. Zum Teil hatte er vielleicht sogar Recht, da sie wirklich keine Ahnung hatte, wohin sie gehen sollte. Doch das spielte keine Rolle. 
Mit immer schnelleren Schritten näherte sie sich dem Zeltlager. Das Lasttier war nicht mehr dort. Möglicherweise hatte es Tanner zur Flucht genutzt. Die ersten Toten kamen in ihr Blickfeld. Ellie sog tief die kalte Luft ein und versuchte nicht hinzusehen. Sie änderte ihren Weg in Richtung Gebirge.
„Jetzt bleib doch mal stehen“, hörte sie Espen knapp hinter sich. „Du wirst Kellan nicht finden, weil Ylwan ihn gefangen hat!“
Ellie erstarrte. Die Aussage des Schattenkriegers traf sie wie ein Keulenschlag. Bis eben hatte sie sich noch an die Hoffnung geklammert, der Vorsprung von Kellan mochte nicht besonders groß sein. Doch nun konnte er überall sein. Die Chance ihn zu finden, sank gen Null. Das einzig Gute, was man dieser Botschaft entnehmen mochte, war, dass er am Leben war. Jedenfalls noch.
„Komm“, sagte Espen als er sie einholte, „wir gehen in die Berge. Dort finden wir Schutz und können uns ein warmes Feuer machen. Dann erkläre ich dir alles. Einverstanden?“
Ellie blieb stehen. Nichts an Espen verriet ihr, ob er aufrichtig war oder nicht. Es blieb dieses tiefe Misstrauen dem Schattenkrieger gegenüber.
„Wer garantiert mir, dass du mich dort nicht umbringst?“, fragte sie spottend.
Espen warf ihr einen missbilligenden Blick zu.
„Ich habe weder vor, dich irgendwem auszuliefern, noch dich umzubringen“, sagte er tonlos. „Wenn ich es gewollt hätte, wärst du kein Hindernis für mich.“
Der Schattenkrieger wandte sich ab und ging dem Gebirge entgegen.
Ellie sah ihm nach. Wie sie es auch drehte und wendete, ihr blieb nichts Anderes übrig, als dem Schattenkrieger zu trauen. Sie fühlte die Kälte in ihren Knochen und musste zugeben, sich nach einem wärmenden Feuer zu sehnen. Schließlich folgte sie ihm. 
Zögernd.