8. JARMO
Die senkrechten Holzlatten der kleinen Hütte, durch deren Zwischenräume das Licht fiel, kamen Jarmo wie die Gitterstäbe eines Kerkers vor. Trotzdem verspürte er wenig Lust dieses ‚Gefängnis‘ zu verlassen. Die Leute draußen, deren Gejohle und Geschrei er noch eine geraume Zeit vernommen hatte, waren keine willkommene Gesellschaft für ihn. Er sah sie nicht als Freunde oder Verbündete an; im Gegenteil: sie waren es, die ihm den Gefährten nehmen wollten.
Lange Zeit hatte der Junge überlegt, ob er wieder hinausgehen sollte, um sich mit Gewalt für das Leben Tranes einzusetzen. Doch dieser Gedanke starb ebenso schnell, wie er entstanden war. Jarmo machte sich diesbezüglich nichts vor. Die anderen waren weitaus in der Überzahl und er hatte ja nicht einmal gegen Dagen bestehen können. Wahrscheinlich würde er nicht einmal in die Nähe der Vaera
kommen. Und wenn doch, wie weit würde es ihn bringen? Würden sie auf seine Forderungen eingehen und Trane Saiz am Leben lassen?
Jarmo glaubte nicht recht daran. Verzweifelt erhob er sich vom sandigen Fußboden. Mit dem Handrücken wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Dabei hinterließ er eine weitere Spur, die ihm quer über die schmutzigen Wangen lief. Wenige Schritte brachten den Jungen an die westliche Wand der Hütte. Durch die Spalten konnte er hinausblicken. Er hoffte irgendwo seinen Freund zu entdecken, aber er sah ihn nicht.
Haben sie ihn schon in den Wald gebracht? Lebt er überhaupt noch?
Jarmo versuchte die düsteren Gedanken zu verdrängen. Die Ungewissheit quälte ihn. Es musste doch irgendetwas geben, was er tun konnte, anstatt hier tatenlos herumzulungern.
„Er wird es schaffen“, hörte er eine Stimme hinter sich und fuhr herum.
Cia stand am Eingang der Hütte. Das Licht der Sonne umschmeichelte ihre Konturen und gab ihr das Erscheinungsbild eines flügellosen Engels.
Jarmo antwortete nicht und wandte sich stattdessen wieder ab. Er hatte sich von der ersten Begegnung, mit dem braunhaarigen Mädchen, mehr für seinen Freund erhofft.
„Lass mich allein“, sagte er schließlich, als er ihre Hand auf seiner Schulter spürte.
„Er ist ein erfahrener Kämpfer. Er wird es überstehen!“ Cia dachte gar nicht daran, auf Jarmos Forderung einzugehen.
„Was weißt du schon?“, fuhr er sie unbeherrscht an. „Du hast mir versprochen mit deiner Mutter zu reden und was ist passiert? Nichts!“
„Ich habe mit ihr gesprochen! Und ich habe dir auch gesagt, dass ich nichts versprechen kann. Meine Mutter musste in diesem Fall Stärke zeigen, damit ihr die Männer nicht auf der Nase herumtanzen.“
Mit einem Gesichtsausdruck, der gleichermaßen Wut und Traurigkeit erkennen ließ, starrte Jarmo das Mädchen an. Er wollte etwas erwidern, sie zurechtweisen und ihre Mutter aufs Übelste beschimpfen, doch die Worte blieben in seinem Hals stecken. Es war ganz gleich, was auch immer er an Wörtern des Zorns hervorbringen konnte, sie würden nichts ändern. Nicht mehr.
„Weißt du, was es für ein Gefühl ist, hilflos in einem Versteck zu kauern?“ Cias Stimme wurde versöhnlicher. „Jeden Tag zu hoffen, wenigstens ein paar Beeren zu finden, damit dein Magen nicht mehr knurrt? Jeden Tag auf deinen Vater zu warten, damit er dich aus diesem Dasein erlöst? Doch mein Vater ist nicht gekommen. Eigentlich weiß ich nicht einmal mehr, ob er überhaupt noch lebt.“
„Ihr hattet doch eine Hütte“, warf Jarmo ein. „Das ist mehr, als manch anderer besitzt. Auch wenn sie irgendwann abgebrannt ist. Wie lange wart ihr ohne Haus? Zwei Tage? Verzeih‘, wenn ich dafür kein Mitleid empfinden kann.“
„Einige Monate“, antwortete Cia mit tränenerstickter Stimme. Von der Selbstsicherheit des Mädchens war nicht mehr viel geblieben. Die Erinnerung an die vergangene Zeit machte ihr offensichtlich zu schaffen. Ihr klarer Blick war wässrig geworden und ein silbriger Schleier rann über ihre Wangen.
„Was hat das alles mit meinem Freund zu tun?“, herrschte Jarmo sie an.
„Ich will dir nur verdeutlichen, warum meine Mutter nicht anders handeln kann! Es waren die Soldaten der Königin, die uns überall gesucht haben! Sie folterten unschuldige Menschen, um unseren Aufenthalt zu erfahren. Vielleicht haben sie sogar meinen Vater gefoltert und getötet. Dein Freund ist ein Soldat der Königin! Er hat nichts Anderes verdient!“
Cia wirbelte auf dem Absatz herum und stürmte schluchzend aus der Hütte. Jarmo verharrte reglos an seinem Platz. Er hätte ihr nachlaufen können, sich vielleicht entschuldigen. Doch wofür?
Er hatte Cia und ihre Mutter nicht gejagt. Und Trane Saiz ganz sicher auch nicht. Dennoch fühlte er, wie sich sein Blick auf die Dinge änderte. Mit bloßer Wut und Gewalt kam er an dieser Stelle nicht weiter.
Langsam entwickelte er eine Idee. Er wusste nun, wie er die Vaera
überzeugen konnte. Und Cia würde dabei eine tragende Rolle spielen …