14. ELLIE
Das prasselnde Lagerfeuer war eine reine Wohltat. Ellie hatte sich nah an das Feuer gesetzt, hielt ihre Hände dicht an die Hitze und knetete hin und wieder ihre noch immer kalten Finger.
Der Marsch bis ins Gebirge hatte lange gedauert. Mit Einbruch der Dämmerung hatten sie die Höhle erreicht, die Ylwan zuvor als Unterschlupf gedient hatte. Espen war vorausgeeilt, hatte das Gebiet gesichert und die junge Frau mit dem frisch entzündeten Feuer empfangen.
Der Schattenkrieger saß Ellie gegenüber; auf der anderen Seite der brennenden Holzscheite. Er wühlte in einer geräumigen Bauchtasche und holte einige, kleingeschnittenen Fleischstücke hervor. Eins davon reichte er ihr.
„Nimm“, sagte er. „Es ist Pökelfleisch. Es wird dir schmecken.“
Ellie verzog das Gesicht. Pökelfleisch versetzte sie nicht grad in Verzückung. Sie musste sich aber eingestehen, dass der Hunger, den sie verspürte, im Moment schon ziemlich zwingend war. Widerwillig nahm sie das dunkelrote Fleisch. Es fühlte sich irgendwie hart an, aber dennoch elastisch. Es erinnerte sie in gewisser Weise an das abgerissene Stück eines Ledergürtels.
Lecker …
„Probier’s“, forderte Espen, steckte sich selbst ein Stück zwischen die Zähne und biss ein wenig davon ab. Grinsend kaute er das Fleisch.
Ellie sog tief die Luft ein, führte es an die Lippen und probierte ein kleines Stück davon. Zu ihrer Überraschung war es nicht so ekelig, wie sie zunächst angenommen hatte. Es war auch kein kulinarischer Hochgenuss, aber im Augenblick das Beste, was sie bekommen konnte. Also gab sie sich damit zufrieden und aß weiter.
„Warum bist du wieder hier?“, fragte der Schattenkrieger. „Ich meine, wenn meine Informationen richtig sind, warst du doch schon zurück in deiner Welt. Wieso, verdammt nochmal, bist du wieder hier?“
Die zuckenden Flammen tauchten Espens Antlitz in einen rötlich-gelben Schein. In diesem Licht kam er Ellie wie ein Dämon aus der Hölle vor: finster, gerissen und verräterisch. Bei jedem Wort, das er sagte; jeder Frage, die er stellte, vermutete sie irgendeine böse Absicht. Daher überlegte sie lange und wog ihre Antwort schon im vornherein ab, ob diese für sie verfänglich sein konnte.
„Wegen Kellan“, sagte sie schließlich.
„Wegen Kellan?“ Die Verwunderung war in Espens Gesicht offensichtlich. „Das ist nicht dein ernst!?“
Ellie ärgerte sich, dem Schattenkrieger eine Antwort gegeben zu haben.
„Ja, natürlich“, antwortete sie viel zu schnell. „Warum auch nicht?“
„Komm schon, Mädchen!“ Espen lachte. „Gibt es bei euch keine Männer? Du bist nicht wegen Kellan hier! Glaub mir, Kleines.“
„Weswegen sonst?“ Ellie wurde zornig. Sie hatte all ihre Warnungen ignoriert und sich in die Defensive drängen lassen. Das hätte niemals passieren dürfen.
„Ich liebe ihn“, warf sie hinterher. „Ich muss doch wissen, ob es ihm gut geht!“
„Tust du nicht“, war seine knappe Antwort.
„Was weißt du schon davon“, entgegnete sie.
„Denk doch mal nach“, forderte er. „Du kommst in dieses unbekannte Land, lernst diesen Kerl kennen und bist sofort bereit, für ihn zu sterben? Wie lange kennst du ihn? Drei, vielleicht vier Tage?“
„Es … es war eine Extremsituation“, stammelte Ellie. Sie spürte, wie sie zitterte. Tränen der Wut stiegen in ihr auf und sie musste alles aufbringen, um ihrem Gegenüber nicht diese Genugtuung zu geben.
„Wenn meine Informationen echt sind, und das sind sie meistens, bist du die Nachfahrin einer Königin der Elorén.“ Espen ließ die Worte zunächst so stehen und biss ein weiteres Stück von dem Pökelfleisch ab. Ellie schwieg. Sie wusste überhaupt nicht, was sie noch sagen sollte. Es kam ihr beinahe vor, als würde sich ohnehin alles was sie sagte, gegen sie richten.
„Und wenn du eine Elorén bist“, fuhr der Schattenkrieger fort, „dann bist du mit diesem magischen Land verbunden. Du bist ein Teil von ihm und das Land will dich auf jeden Fall halten. Doch deine Gefühle können dies nicht erkennen, weswegen sie auf etwas Anderes projiziert werden. Etwas, das du begreifen kannst. Wie zum Beispiel auf Kellan. Es ist nicht Kellan, den du liebst. Es ist Iphosia.“
Ellie war zu perplex, um auf Espens hanebüchene Theorie zu reagieren. Sprachlos starrte sie den Schattenkrieger an, der weiter genüsslich an seinem Fleischstück kaute.
Aber ist die Theorie wirklich so hanebüchen? Der Splitter war gesetzt. Obwohl Ellie in einem ersten Ansturm Espens Behauptungen vehement dementiert hätte, geriet sie dennoch ins Nachdenken. Kann ein Land so magisch sein und mir falsche Gefühle vorgaukeln, damit ich zu ihm zurückkehre? Sie fühlte, wie irgendetwas in ihr zu zerspringen drohte. Können meine Gefühle und Empfindungen mich derart täuschen? Ist das alles eine Lüge? Sie mochte nicht recht daran glauben. Ihre Gefühle für Kellan waren echt. Sie liebte ihn, bevor sie Iphosia wieder verlassen hatte. Wollte Iphosia mich schon zu dem Zeitpunkt daran hindern, es zu verlassen? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie waren so verlogen und unwirklich, aber dann auch wieder klar und verständlich. Aber was ist mit Annie?
„Tolle Geschichte.“ Ellie bot alles auf, um einigermaßen kühl und gefasst zu wirken. „Aber sie ist nicht wahr. Meine Schwester Anna verschwendet seit damals keinen Gedanken mehr an Iphosia. Und sie wollte auch auf keinen Fall mit. Wie passt das in deine Theorie?“
Espen blieb sichtlich unbeeindruckt. Geduldig kaute er seinen Bissen zu ende, bevor er antwortete:
„Anna ist jünger als du. Du bist die Erstgeborene. Nur die Erstgeborenen besitzen die vollkommene Macht der Elorén. Sie sind für das magische Land wichtig.“
„Anna konnte die Seite lesen“, entgegnete Ellie. „Für mich stand da nichts drauf. Wie soll ich da magischer sein?“
„Anna ist noch ein Kind und für Kinder ist Magie ein Teil der Realität. Du glaubst an so etwas nicht oder willst es nicht. Was weiß ich. Es ist, wie es ist. Akzeptiere es oder lass es bleiben. Wir sollten uns jetzt ein wenig ausruhen. Morgen gehen wir weiter.“
Espen ließ sich auf den Rücken fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Ellie hingegen blieb noch einige Minuten sitzen und starrte in die Flammen des Lagerfeuers. Sie konnte die düsteren Gedanken nicht vertreiben. Alles, was sie in den letzten Monaten zu fühlen geglaubt hatte, war mit einem Mal in Frage gestellt.