16. KELLAN
Nur langsam kehrten die Erinnerungen zurück. Zunächst bruchstückhaft und verschwommen, doch allmählich wurden sie klarer. Kellans Kopf schmerzte. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal derartige Kopfschmerzen verspürt hatte.
Er versuchte dennoch die Fragmente der letzten Ereignisse zusammenzusetzen. Stückchenweise nahmen sie bekannte Formen an:
Magistra Telen, seine Schwester, hatte ein Portal beschworen. Anna war hindurchgegangen, Ellie wartete noch auf ihn. Aber er konnte nicht – die Gegner waren zu zahlreich. Die Federkönigin kam, Telen schubste Ellie durch das Portal, welches kurz darauf kollabierte. Seine Schwester wurde von einem Pfeil getroffen und brach zusammen. Er selbst musste aufgeben, da er der Übermacht nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
Doch was geschah danach?
Sie hatten ihn gefangen genommen, ausgefragt und gefoltert. Anschließend wurde es verschwommen. Er wurde abtransportiert und in einen Sarg aus Eis gelegt. Kellan konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie lange er sich in diesem Sarg befunden hatte. Eine stinkende Flüssigkeit hatte ihn umgeben, aber ihn auch gewärmt und am Leben gehalten. Die Zeit schien in dieser Phase nicht gegenwärtig gewesen zu sein.
Aber man hatte ihn gefunden. Espen befreite ihn aus dem eisigen Gefängnis. Kellan konnte seinen alten Freund überlisten und über das Eis fliehen. Dann verschwamm die Erinnerung erneut. Er wusste weder, wie er es geschafft hatte nicht zu erfrieren, noch wo er sich jetzt befand.
Kellan versuchte die Augen zu öffnen. Es fiel ihm schwer. Die Kopfschmerzen brachten ihn an den Rand einer erneuten Ohnmacht. Er gab sich einen weiteren Moment, um seine Kräfte zu sammeln. Erst im dritten Anlauf schaffte er es.
Seine Umgebung war glücklicherweise dunkel. Irgendwo befand sich aber eine schwache Lichtquelle, die ihn Konturen erkennen ließ. Wo sich diese befand, war ihm erst einmal egal.
Um ihn herum schoben sich Mauern aus festen Steinziegeln in die Höhe und endeten unterhalb einer hölzernen Decke. Obgleich dicke Balken diese stützten, waren Schritte oberhalb zu sehen: die Dielen ächzten unter den Bewegungen und Staub rieselte dabei hinab.
Allem Anschein nach lag er auf einer hölzernen Unterlage. Sie war hart und als er sich bewegte, spürte er schmerzhaft jeden einzelnen Muskel in seinem Rücken. Mühsam setzte er sich auf. Ein leises Ächzen fuhr dabei über seine Lippen.
Kellan sah sich um. Er benötigte nicht lange, um festzustellen, dass er sich in einer Zelle befand. Sie war kaum größer als zwei mal zwei Meter. In einer Ecke war eine verschlossene Gittertür eingelassen, durch welche der schwache Lichtschein hindurchdrang.
Anhand der trockenen Wände und den Schritten, die hin und wieder über ihm erklangen, wusste er genau, wo er sich befand: im Palast der Federkönigin auf Elora!
Schwankend kam Kellan auf die Beine. Beim ersten Versuch musste er sich an der erhöhten Holzpritsche, auf der er zuvor noch gelegen hatte, abstützen. Seine Beine fühlten sich taub und kraftlos an. Allmählich kehrte das Leben in seinen Körper zurück und das Blut rauschte durch seine Adern. Es kam ihm dabei vor, als würden sich Millionen kleiner Insekten durch sein Fleisch nagen.
Obwohl Kellan wusste, aus dieser Zelle nicht entkommen zu können, griff er nach der Gittertür. Wie zu erwarten, war sie verschlossen.
Es wäre auch zu schön gewesen.
Der Schattenkrieger massierte seinen Nacken und machte ein paar Dehnungsübungen. Wenn sich ihm eine günstige Gelegenheit bot, musste er schnell sein.
„Seht, wer von den Toten erwacht ist!“
Kellan zuckte zusammen. Er kannte die Stimme. Sie gehörte Arien Tulsa, der Federkönigin!
Sie stand jenseits der Gittertür, in einem langen, dunkelroten Kleid, welches schwarze Federmuster aufwies. Kellan hatte sie nicht kommen hören. Ihm war, als wäre sie einfach aus dem Nichts erschienen.
„Was wollt Ihr?“, herrschte er sie an. „Wenn Ihr mich tot sehen wollt, dann bringt es endlich hinter Euch. Aber verschont mich mit Euren Spielereien!“
„Oh, so zornig?“ Arien Tulsa lächelte gönnerhaft. „Der Tod ist so … endgültig. Das Leben bietet doch so viel mehr oder denkt Ihr nicht?“
„Seid Ihr fertig?“ Kellan hielt gebührenden Abstand zur Federkönigin. Er verspürte wenig Lust ihr näher zu sein, als er unbedingt musste.
„Ihr habt lange geschlafen – und so viel verpasst. Es gibt so viel, was ich Euch erzählen muss.“
Gelangweilt atmete Kellan aus. Er fuhr mit einer Hand über die schon etwas längeren Bartstoppeln in seinem Gesicht.
Arien Tulsa betrachtete ihn. Ihre Blicke verursachten bei ihm ein unbehagliches Gefühl.
„Also?“, hakte er ungeduldig nach. „Ihr werdet ohnehin nicht eher verschwinden, bevor Ihr es mir erzählt habt.“
„Stimmt“, antwortete sie. „Aber wo fange ich an? Wisst Ihr wie viele Schriften ich sichten musste, um herauszufinden, dass Ihr der Bruder von Magistra Telen und der Sohn von Selen seid? Es hat mich wirklich enorm viel Zeit gekostet. Ach, und bevor ich es vergesse: Eure Mutter ist tot!“
Die Aussage traf ihn unerwartet. Trotzdem behielt er seine Gefühle unter Kontrolle. Irgendwie hatte er tief in sich gespürt, dass sie nicht mehr am Leben war.
„Wie?“, fragte er gefasst.
„Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich glaube Ylwan hat sie einfach aufgeschlitzt.“
Kellans Magen krampfte sich zusammen. Wut begann in seinem Inneren empor zu kriechen und die Trauer zu verdrängen. Hätte er seinen ersten Impuls zugelassen, wäre er an die Stäbe gestürmt und hätte versucht die Federkönigin zu packen. Doch er behielt die Kontrolle über seinen Willen.
„Es muss euch große Freude bereiten, mir das zu erzählen“, sagte er stattdessen.
Arien Tulsa legte nachdenklich den Kopf schief.
„Ja“, antwortete sie. „Ja, durchaus. Aber das ist noch nicht alles. Ich habe auch gute Nachrichten.“
„Aus Eurem Mund kommen nur Lügen und Hass!“
„Eure Schwester lebt allerdings … noch. Und das ist keine Lüge.“
„Was habt Ihr mit ihr vor? Wenn Ihr meiner Schwester auch nur ein Haar krümmt …“ Kellan trat unwillkürlich einen Schritt vor.
„Dann? Was dann, kleiner Schattenkrieger? Ich habe Eurer Schwester das Leben gerettet. Es war nicht leicht, aber sie erfreut sich mittlerweile bester Gesundheit. Und, verzeiht mir diese Offenheit, Ihr seid nicht gerade in der Position mir zu drohen.“
Natürlich hatte sie recht und das wusste Kellan. So lange er sich in diesem Gefängnis befand, waren ihm die Hände gebunden. Er ärgerte sich über die verpasste Chance, die sich ihm damals geboten hatte: 
Wäre ich nicht aus dem Schloss geflohen, um Ellie und Anna zu retten, sondern hätte stattdessen die Königin getötet …
Kellan unterbrach diesen Gedanken. Es war müßig vergangener Chancen nachzutrauern. Der Erfolg dieser Idee war ohnehin zweifelhaft und er musste sich dem Hier und Jetzt stellen.
„Deine Freundin und ihre kleine Schwester sind hier“, fuhr Tulsa fort.
Ein eiskalter Strom durchzuckte den Körper des Schattenkriegers.
Ellie! Er hatte sie in Sicherheit gewähnt, sich schon beinahe damit abgefunden, sie niemals wiederzusehen. Und jetzt das! Sie hatten eine kurze Zeit; eine intensive Zeit. Er mochte das Mädchen, vielleicht zu sehr. Sie war anders, als alle die er zuvor kennengelernt hatte. Und verdammt ja, er hätte mit ihr zusammen Iphosia verlassen.
Aber weshalb ist sie zurück? Vor allem wie?
„Ihr lügt“, warf Kellan der Königin vor. „Ich war selbst dabei, wie sie Iphosia verlassen hat. Es gibt für sie keinen Weg zurück.“
„Irgendwie hat sie es geschafft. Ich glaube, Horace Finton hatte erneut seine Finger im Spiel. Wie dem auch sei, sie ist wieder hier … und in meiner Gewalt.“
„Was wollt Ihr?“ Die Wut kehrte zurück. Wie ein Monster begann sie an ihm zu nagen, sich Stück für Stück durch seinen Körper zu fressen.
„Sagt es endlich“, schrie er und stürmte plötzlich an die Gitterstäbe. Sein rechter Arm schnellte vor und verfehlte Tulsas Kragen nur um Haaresbreite.
Unbeeindruckt blieb die Federkönigin stehen. Lediglich ein gewinnendes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Ich habe einen Mangel an Hohepriestern zu beklagen“, sagte sie kühl. „Überzeugt Eure Schwester davon, für mich das Ritual zu vollziehen. Andernfalls werde ich Eure Freundin töten!“