27. VAERA
„Es begann, als die Engelskönigin verschwand. Seit diesem Tage war nichts mehr in Iphosia wie zuvor. Arien Tulsa, ihre Schwester, riss die Macht an sich, noch bevor überhaupt jemand wusste, was mit ihrer Vorgängerin geschehen war. Sie begann Untergebene zu foltern, um irgendetwas über das Verschwinden herauszufinden. Allerdings war ihr mehr an dem magischen Buch gelegen, als an ihrer Schwester, welches am gleichen Tage nicht mehr aufzufinden war. Mein Mann, Erenar Olten, war Hohepriester im Tempel des Windes und somit der Königin zur Treue verpflichtet. Obwohl er mit dem Gedanken spielte, einfach wegzulaufen, wäre sein Verschwinden aufgefallen. Er wusste von der Gefährlichkeit der Federkönigin und wagte aus diesem Grund keine Flucht. Unsere Tochter Cia und ich waren für die Königin allerdings uninteressant. Jedenfalls so lange, wie mein Mann tat, was sie verlangte. Um ihr dieses Druckmittel zu nehmen, versteckte er uns in einer alten Hütte im Süden des Landes. Zu Beginn kam er uns oft besuchen, doch je größer die Macht der Königin wuchs, desto seltener erschien er bei uns. Schließlich kam er überhaupt nicht mehr.“
Evangeline Olten unterbrach ihre Ausführung für einen Augenblick. Die Erinnerung an ihren Gatten schnürte ihr erneut den Hals zu und trieb die Tränen zurück in ihre Augen. Durch den trüben Schleier sah sie die Männer, die sich ihr gegenüber befanden und ihrer Erzählung stumm lauschten.
„Vor einiger Zeit“, fuhr sie fort, „brach ein Feuer in unserem Versteck aus. Ich weiß nicht genau, weshalb dies geschah. Vielleicht war es ein Funke aus dem Kamin oder eine Kerze. Die Hütte brannte so schnell. Ich konnte mich nur noch mit Cia ins Freie retten. Wir besaßen kaum Nahrung und Kleidung. Irgendwann fanden uns die Kohonen. Zunächst dachte ich, es wären die Späher der Königin, doch zum Glück verhielt es sich nicht so. Sie nahmen uns auf und mit der Zeit reifte ich zu ihrer Anführerin, als der alte Vaerun
verstarb. Ich hatte immer gehofft Erenar würde uns suchen kommen. Jetzt weiß ich, dass er es nicht mehr konnte.“
Evangeline schluckte und wischte sich die Tränen von den Wangen.
„Sagt, Trane Saiz“, fuhr sie fort, „wie ist mein Mann gestorben?“
Der einäugige Soldat strich sich mit der Hand durch den roten Bart.
„Ich weiß es nicht genau“, sagte er wahrheitsgetreu. „Ich war nicht wirklich zugegen. Nachdem was man sich erzählte, hatte er versucht einer jungen Priesterin das Leben zu retten. Er starb durch einen Soldaten der Königin. Es tut mir sehr leid.“
„Schon gut.“ Die Vaera
legte ihren Kopf auf den ihrer Tochter, die sich immer noch an ihre Mutter schmiegte. „Irgendwie habe ich tief in mir gespürt, dass er nicht mehr am Leben ist. Doch ich habe trotz allem etwas Anderes erhofft.“
„Anscheinend sind zwei Mädchen hier in Iphosia“, erklärte Trane Saiz. „Oder sie waren es. Ich bin mir nicht sicher. Aber sie sollen die Nachfahren der Engelskönigin sein. Arien Tulsa versucht sie zu töten. Der Grund dafür liegt meines achtens auf der Hand: die Erstgeborene des Königsgeschlechts ist immer die Mächtigste. Die Federkönigin ist nur eine Zweitgeborene. Deswegen fürchtet sie die Erben ihrer Schwester, da deren magische Fähigkeiten ihre eigenen übersteigen könnten. Wir müssen diese Situation zu unserem Vorteil nutzen und Arien Tulsa stürzen.“
„Versuchst du es schon wieder?“, keifte Dagen. „Du hast die Vaera
gehört: es wird keinen Krieg gegen die Königin geben!“
„Es wird für uns aber keine Sicherheit geben, solange sie lebt“, warf Jarmo ein. „Sie hat meinen Bruder getötet. Sie hat schon viele Menschen getötet! Zu viele!“
Der Junge wandte sich der Vaera
zu:
„Sie wird auch Cia töten, wenn sie die Gelegenheit findet!“
„Hör auf ihr zu drohen!“ Dagen preschte vor und packte Jarmo am Kragen. Trane Saiz wollte kurzentschlossen dazwischen gehen, doch der Ruf Evangelines hinderte ihn daran.
„Hört auf“, forderte sie. „Vielleicht haben sie recht. So lange Arien Tulsa lebt, ist niemand mehr sicher. Der Tod meines Mannes beweist es mir. Sie macht nicht einmal vor ihren engsten Vertrauten halt! Was wäre ihr dann unser Leben wert?“
„Wir können keinen Krieg gegen ihre Soldaten und Priester gewinnen“, erklärte Dagen ungläubig.
„Nein“, antwortete Evangeline. „Das können wir nicht. Um die Federkönigin zu stoppen, benötigen wir eine weitaus größere Macht. Diese müssen wir suchen und uns zu Nutze machen.“
„Wovon redet Ihr?“, wollte Saiz wissen.
„Ich rede von der ersten Königin“, antwortete die Vaera
.
„Das ist ein Ammenmärchen“, erklärte der alte Gysbanth. „Die erste Königin ist schon vor Jahrhunderten verfault. Die Legende, sie würde noch im Wald von Tra’Keh leben, dient lediglich dazu, kleinen Kindern Angst zu machen. An dieser Geschichte ist nichts dran.“
„Möglicherweise habt Ihr recht“, gab Evangeline zu. „Doch wozu sollten Kinder vor einer gütigen Königin Angst haben? Der Sage nach, hilft sie jenen die reinen Herzens sind, wenn sich ihr Land in Gefahr befindet. Und das ist jetzt! Ich denke, es ist einen Versuch wert.“
„Wenn es diesen Geist wirklich gäbe, hätte die Federkönigin ihn schon vernichtet“, meinte Gysbanth.
„Arien Tulsa fürchtet sich viel zu sehr davor, schlafende Geister zu wecken!“ Evangeline löste sich von ihrer Tochter und erhob sich.
„Mein Entschluss steht fest“, sagte sie bestimmt. „Im Morgengrauen brechen wir auf!“
Gysbanth wollte noch etwas dagegen vorbringen, aber zog es vor zu schweigen. Niemand hatte jemals den Entschluss eines Anführers infrage gestellt.