14. ESPEN
Sie hatten Espen noch Zeit gegeben, ein wenig zu Kräften zukommen. In der Zwischenzeit hatten der Kanzler, Horace Finton und Ellie nützliche Dinge aus den Ruinen Kesselbergs sowie Proviant zusammengesucht. Am frühen Nachmittag waren sie schließlich Richtung Süden aufgebrochen.
Der Wind war aufgefrischt. Es roch nach Regen und dunkle Wolkenberge zogen über das Land. Espen kam es vor, als würde sich auch das Wetter auf einen letzten, alles entscheidenden Kampf vorbereiten.
Das Gelände war uneben. Tiefe Krater durchzogen die Landschaft. Das Gras war verbrannt. An die ehemalige Waldlandschaft erinnerten nur noch abgebrochene Stümpfe und umgestürzte Bäume. Dies war der Preis, den die Natur für die Versuche und Produktionen der Techniker hat zahlen müssen. Espen gefiel dies ganz und gar nicht. Es lag nicht nur daran, dass er Schwierigkeiten hatte in dem toten Land schmerzfrei voranzukommen. Espen war ein Kind der Wildnis. In der Stadt hatte er sich nie richtig wohlgefühlt. Er brauchte die Gräser, die Wälder und den Wind in den Haaren. Nun gut, der Wind konnte diese Ebene ungehindert passieren, doch Gräser und Wälder waren zerstört.
Jeder Schritt tat ihm weh. Das stechende Ziehen in seiner Bauchgegend trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.
„Geht es?“, fragte ihn Ellie irgendwann. Sie hatte ihre Schneekleidung aus Avrannah in Kesselberg gegen etwas Luftigeres tauschen können. Sie sah noch hübscher aus als je zuvor, fand er. Das dunkle Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre Beine steckten in einer dunklen Hose, die an den Seiten mit mehreren Schnallen versehen war. Dazu trug sie eine feste, blaue Leinenjacke, die sie um die Hüfte mit Hilfe einer hellen Kordel verschnürt hatte. Sogar passende Stiefel hatte sie in den Ruinen gefunden.
„Es geht mir gut“, log Espen. Wenn er ehrlich wäre, hätte er gesagt, die Schmerzen würden ihn umbringen. Doch er wollte sich keine Blöße geben.
„Sicher?“, hakte sie nach.
Er lächelte. „Wichtig ist nur, dich in den Wald von Tra’Keh zu bringen. Alles andere wird sich zeigen.“
„Was erwartet mich dort? Alle Aussagen sind derart mysteriös, dass ich tatsächlich erwarte dort einen Geist zu treffen.“
„Im Grunde ist es auch so.“ Espen war erfreut über das Gespräch. Es lenkte ihn ein wenig von den Schmerzen ab. Allerdings musste er dabei aufpassen, sich nicht durch gequälte Aussprache zu verraten.
„Doch niemand weiß es mit Gewissheit“, fuhr er fort. „Fakt ist, dass die erste Königin nach ihrer Regentschaft dorthin gezogen ist. Schon damals mieden die Iphosier dieses Gebiet, da dort schreckliche Kreaturen hausen sollten. Die Königin hatte jedoch keine Angst und ging dorthin. Sie veranlasste, dass niemand ihr folgen sollte. Und so ist es auch geschehen. Die Königin ward nie wiedergesehen, doch der dunkle, bedrohliche Wald verwandelte sich in einen Lichtdurchfluteten Hain. Manche glauben dort eine Frau Lieder singen zu hören, deswegen wagt niemand sich diesem Wald zu nähern. Man sagt, der Geist der ersten Königin haust dort noch immer.“
„Wenn sich dort niemand hin traut“, meinte Ellie, „wie kann es sein, dass man ihre Lieder hört?“
Espen lachte auf.
„Siehst du“, sagte er. „Nichts als Märchen.“
„Und warum willst du mich dort unbedingt hinbringen?“
„Weil es dort sicher ist. Arien Tulsa meidet diesen Wald. Sie fürchtet den Zorn des Windes und die dort verbliebene Macht der ersten Königin. Dort werden wir den Plan zu Kellans Befreiung schmieden.“
„Und wie wird dieser Plan
aussehen?“
„Ich weiß es noch nicht“, antwortete der Schattenkrieger. „Aber uns wird schon etwas einfallen.“
„Ich hoffe sehr, dass du recht hast.“
Nach diesen Worten schwiegen die beiden. Ellie ging etwas schneller als Espen und war schon bald auf einer Höhe mit dem Kanzler. Horace Finton ging ganz vorn.
Espen kam sich ein wenig wie ein Verräter vor, als er an seine Heimat Elora dachte. Doch er wischte diesen Gedanken beiseite. Es war Vergangenheit. Was nun zählte, war das hier und jetzt. Und Ellie.
Vor allem Ellie!
Der Schattenkrieger war von seinen Gefühlen überwältigt. Schon als er sie das erste Mal gesehen hatte, wusste er, dass sie füreinander bestimmt waren. Nur wusste er noch nicht, wie er sie davon überzeugen sollte.
In seiner Fantasie führte Espen die Geschichte fort. Er würde ihr helfen, Kellan zu befreien. Nur so, konnte er ihr Vertrauen gewinnen. Ihm war bewusst, dass der Wald von Tra’Keh reine Zeitverschwendung war. Dort gab es nichts, was ihnen helfen konnte. Aber auf diese war er noch längere Zeit mit ihr zusammen, um sie von Kellan abzubringen und von seinen Gefühlen zu überzeugen.
Auf keinen Fall durfte sie Kellan wiedersehen!