19. ESPEN
Der Schattenkrieger war soweit in den Wald gegangen, bis er die anderen nicht mehr sehen konnte. Erschöpft lehnte er sich gegen einen Baumstamm und rutschte in das feuchte Nadelbett. Feine Schweißperlen hatten sich auf seine Stirn gelegt. Tief sog er die Luft ein und verzog dabei schmerzverzerrt das Gesicht.
Nach einigen Atemzügen hob er mit beiden Händen vorsichtig sein Obergewand an. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse konnte er deutlich den großen, roten Fleck auf dem Verband erkennen.
Die Schmerzen hatten auf der Reise stetig zu genommen. Er hätte Horace Finton nach Medizin fragen können, doch er wollte vermeiden, dass die anderen seinen Zustand bemerkten. Ihnen jetzt zur Last zu fallen, war keine Option.
Espen hatte viel Zeit in der Wildnis verbracht und wusste von den Heilkräutern die in der Natur vorkamen. Dieser Nadelwald hier beherbergte eine Vielzahl geeigneter Pflanzen. Dies war auch der Grund, weshalb er unbedingt allein auf Holzsuche gehen wollte.
Der blondhaarige Schattenkrieger ließ sich zur Seite fallen und kroch auf allen Vieren über den Boden. Dabei wischte er immer wieder herabgefallene Baumnadeln beiseite. Das Erhoffte ließ sich jedoch lange Zeit nicht blicken.
Endlich, als er schon nah dran war seine Kenntnisse in Frage zu stellen, fand er die zarten grünen Zweige auf dem Boden. Kleine, dunkelrote Beeren befanden sich an ihren Enden. Espen pflückte einige davon und steckte sie sich in den Mund.
Sie schmeckten widerlich. Espen verzog das Gesicht. Er musste den Würgereiz überwinden und kaute die bitteren Früchte tapfer weiter. Es war wichtig, dass sich der Saft schon vor dem Magen aus der Beere löste.
Der Schattenkrieger ließ sich erschöpft auf den Boden sinken. Er schloss die Augen und wartete auf die heilsame Wirkung.
Als es ihm besserging, rappelte er sich wieder auf. Er fühlte regelrecht, wie der Schmerz nachließ. Doch im gleichen Maße spürte er auch die Nebenwirkungen:
Der Wald schien sich verändert zu haben. Die Farben waren gräulich-grün, verschmolzen mit einem blau. Er sah aus den Augenwinkeln Bewegungen, wo keine waren. Dazu kam, dass er sich unaussprechlich mächtig fühlte. Grenzen schien es für ihn nicht mehr zu geben.
Espen wusste von der Gefährlichkeit der Katiope-Beeren. Sie konnten zur Abhängigkeit führen und er hatte schon früher Menschen in den Dörfern gesehen, die an ihrem Verzehr zu Grunde gegangen waren. Er fühlte sich aber stark genug, diesen Fehler nicht zu begehen. Doch die schmerzlindernden Eigenschaften waren so enorm, dass der Schattenkrieger noch einige Katiope einsammelte und sie sich in die Tasche steckte. Anschließend suchte er geeignetes Feuerholz, lief leichtfüßig zum Waldrand zurück und blieb wie angewurzelt stehen.
Diese Stimme, die an sein Ohr drang, kannte er. Und sie verhieß nichts Gutes.
Augenblicklich ließ er das Feuerholz fallen und begann zu rennen. Als er aus dem Wald hinausstürmte bot sich ihm ein grauenhaftes Bild. Dicht am Wald lag der reglose Körper des Kanzlers. Etwas weiter sah er Horace Finton liegen und Ylwan, der Ellie bedrängte. Nur mit einem Stock bewaffnet, versuchte sie sich dem Angreifer vom Leib zu halten, doch dieser lachte nur.
„Niemand wird dich mehr retten“, tönte der glatzköpfige Mann. „Ich werde dir deine Augen ausstechen und sie der König zum Geschenk machen. Zu lange warte ich schon auf diesen Augenblick.“
Espen konnte in Ylwans Hand einen Dolch blitzen sehen. Ansatzlos stieß er damit zu. Ellie wich zurück und schlug zu, doch der Schlag ging ins Leere. Der Scherge der Federkönigin lachte irrsinnig.
Dies alles dauerte nur ein bis zwei Lidschläge, die Espen brauchte, um die Übersicht zu gewinnen. Er rannte los. Die Angst um Ellie beflügelte ihn.
Wieder griff der Glatzköpfige an. Diesmal traf Ellie und schlug ihm das Messer aus der Hand. Doch sie hatte zu viel Schwung in den Schlag gelegt und kam ins Straucheln. Ylwan jaulte kurz auf und erkannte seine Chance. Mit der linken Hand packte er ihren Hals und mit der rechten ihr Gesicht. Mit gezieltem Druck zwang er sie ihn die Knie. Bösartige Beschwörungsformeln verließen seine Lippen.
Ellies Aufschrei ließ Espen das Blut in den Adern gefrieren. Nur noch ein kleines Stück und er war bei ihr.
„Ich werde dich verrecken lassen, wie ich Selen verrecken lassen habe“, keifte der Glatzköpfige.
Nur noch wenige Schritte trennten den Schattenkrieger von den Kämpfenden. Espen stieß sich kraftvoll ab. Wie ein Raubtier warf er sich gegen den Hexer. Er traf ihn auf Hüfthöhe und riss ihn mit sich zu Boden. Ellie wurde von der Wucht herumgeschleudert und fiel hin.
Espen wollte nachsetzen, doch er hatte Schwierigkeiten Ylwan auszumachen. Die Wirkung der Katiope spielte seinen Augen einen Streich. Der Schattenkrieger schlug zu, doch dort wo er hinzielte, befand sich sein Gegner schon nicht mehr. Der Schattenkrieger taumelte einen Schritt nach vorn, wirbelte herum und blieb erwartungsvoll stehen. Bei Tageslicht war die Wirkung der Beeren nicht so verheerend wie in der Nacht. Espen kam sich vor, wie Jemand dem man Sand in die Augen gestreut hatte. Die Umgebung wirkte auf ihn unwirklich und verlangsamt. Er versuchte sich auf die anderen Sinne zu konzentrieren, doch auch diese waren beeinträchtigt.
Espen spürte den Schlag mehr, als er ihn kommen sah. Blitzschnell packte er zu, hebelte Ylwans Arm nach hinten und konterte mit einem Fußtritt. Der glatzköpfige Mann jaulte auf.
Doch Ylwan gab sich nicht geschlagen. Er sah seinen Dolch in der Nähe liegen und hetzte darauf zu. Er achtete nur auf die Waffe und den Schattenkrieger. Ellie hatte er vollkommen vergessen. Als er sich nach der Waffe bückte, hämmerte sie ihm mit aller Kraft den Holzstock auf den Kopf. Ylwan brach zusammen. Ellie schlug erneut zu. Wieder und wieder, bis Espen ihren nächsten Schlag stoppte und sie in den Arm nahm.
„Ist er …“, fragte sie schluchzend.
„Ich weiß es nicht“, sagte Espen beruhigend und hielt sie eng umklammert. Ellie ließ den Stock fallen.
Nach einigen Sekunden löste er sich von ihr und begutachtete den am Boden liegenden Ylwan.
„Er lebt“, sagte er schließlich. „Er wird nur ein paar Beulen davontragen. Und wahrscheinlich Kopfschmerzen.“ Espen suchte die Rucksäcke mit der Ausrüstung auf und kam mit einem Seil zurück. Sorgfältig verschnürte er die Arme des Bewusstlosen.
Ellie saß inzwischen im Gras und starrte auf den Boden. Der Schattenkrieger kniete sich zu ihr und strich ihr sanft durchs Haar. Sie ließ es sich gefallen.
„Was ist überhaupt passiert?“, fragte Espen.
„Ich hätte nicht herkommen sollen“, sagte Ellie mit monotoner Stimme. „Es war ein Fehler. Er hat dem Kanzler die Kehle aufgeschlitzt. Und das wegen mir. Wäre ich nicht hergekommen, würde er noch leben.“
„Nein, das war es nicht. Iphosia hat dich gerufen, weil es dich braucht. Es ist gut, dass du hier bist. Die Königin hätte den Kanzler so oder so getötet. Aber du bist der Schlüssel! Sie fürchtet dich und nur du kannst Iphosia von ihr befreien.“
„Was kann ich schon tun?“
„Du wirst es wissen, wenn es soweit ist.“ Er küsste ihre Stirn und erhob sich wieder. Er ging in Richtung Waldrand, wo der leblose Körper des Kanzlers lag. Espen wäre gern länger bei Ellie geblieben, doch er wollte die Situation nicht ausnutzen. Sie waren sich trotz der schrecklichen Ereignisse nähergekommen. Das war schon mal ein guter Schritt, wie er fand.
Die Wirkung der Beeren ließ allmählich nach. Der Schmerz meldete sich wellenartig zurück, aber dafür auch das Sehvermögen. Darkus Rothenschild lag auf dem Bauch. Der Schattenkrieger kniete sich neben ihn und drehte ihn behutsam auf den Rücken. Gebrochene Augen starrten ins Leere und eine grässliche Wunde prangte auf der Vorderseite seines Halses. Espen strich mit der Handfläche über das Gesicht des Kanzlers und schloss dessen Lider. Als er sich von dem Toten abwenden wollte, fiel sein Blick auf die Pistole, die im Gras lag. Espen bückte sich und hob sie auf.
Bei seiner Rückkehr zu Ellie, kam Horace Finton zu sich. Ylwan hatte ihn anscheinend nur niedergeschlagen, denn es zeigten sich bei dem kleinen Mann keine offenen Wunden. Als der Schattenkrieger ihm vom Tod des Kanzlers berichtete, konnte er regelrecht erkennen, wie in Finton eine Welt zerbrach. Er sagte nichts, starrte nur ausdruckslos ins Leere und eine einsame Träne rann über seine Wange.