41. KELLAN
Sie flogen Elora von der Südseite an. Kellan passierte die größte der Inseln einmal, um etwaige Feinde rechtzeitig auszumachen. Doch die schwebende Stadt schien verlassen. Nahe dem Palast wagte er die Landung. Kellan und Ellie stiegen ab. Sicherheitshalber band er den Ravener in der Nähe des Hauptportals fest. Es gab niemanden, der sich ihnen näherte oder versuchte Alarm zu schlagen. Es wirkte beinahe so, als befänden sie sich in einer Geisterstadt.
„Wo sind sie alle?“ Ellie flüsterte unwillkürlich.
„Sie sind alle im Krieg“, antwortete Kellan. „Arien Tulsa hat alles aufgeboten, was sie hatte. Jeden Soldaten, jeden Priester.“
„Und wo steckt die Federkönigin jetzt?“
„Telen hat mir von einem Zeremonienraum erzählt, der sich irgendwo oben im Palast befindet. Wenn Espen ihr das Buch gebracht hat, wird sie sicherlich das Ritual der Federn des Windes durchführen wollen.“
Sie liefen die Stufen zum Portal hinauf. Obwohl alles leer und verlassen schien, blickten sie sich dennoch öfter um, damit sie nicht doch noch in einen Hinterhalt gerieten. Aber alles blieb ruhig, beinahe gespenstisch.
Kellan berührte das Portal. Es war nicht ganz geschlossen und schwang unter einem leichten Knarren auf. Normalerweise standen hier wenigstens zwei Wachsoldaten, doch auch die gab es nicht.
Vorsichtig lugten sie ins Innere des Eingangsbereichs. Auch er war menschenleer. Kellan und Ellie schlüpften ins Innere. Der Schattenkrieger wies auf die breite Treppe, die ins Obergeschoss führte. So leise es ihnen möglich war, machten sie sich an den Aufstieg. Sie schlichen einen breiten Flur entlang. Nach einiger Zeit zweigte ein anderer Gang links von ihm ab.
„Ich kann mir vorstellen, wo dieser Zeremonienraum ist“, sagte Kellan leise. „Wenn ich mich nicht allzu sehr irre, endet dieser Gang am Ende einer Wendeltreppe, die bis in den höchsten Turm führt. Dort müssten wir sie finden.“
„Gut, dann los“, gab Ellie zurück. Der Schattenkrieger hörte das schwache Zittern in ihrer Stimme. Er wusste, dass sie sich vor Arien Tulsa fürchtete. Ihm erging es nicht anders. Er hatte sie erst kürzlich beim Kampf gegen seine Schwester erlebt und wusste von ihrer Macht. Er hatte noch keinen blassen Schimmer, wie er die Federkönigin stoppen sollte. Aber es nicht zu versuchen, war keine Option.
„Bist du dir sicher, dass du mitkommen willst“, hakte er noch einmal nach und erntete einen bitterbösen Blick von Ellie.
„Ich bin nicht mitgekommen, um hier einfach abzuwarten“, antwortete sie. „Ich weiß nicht was uns erwartet und ich weiß auch nicht, ob wir es schaffen. Aber nach allem was ich bisher gehört habe, haben wir kaum eine Wahl, oder?“
Kellan presste die Lippen fest aufeinander. Er bewunderte die Stärke, die Ellie ausstrahlte. Nach allem was sie erlebt und durchgemacht hatte, war sie entschlossen, dem möglichen Tod ins Auge zu blicken. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen und ging in den Gang hinein. Sie folgte ihm dicht auf.
Die Atmosphäre war nervenaufreibend. Kein einziger Laut, außer ihren eigenen leisen Schritten, war zu vernehmen. Keine Untergebenen, die eifrig umherliefen; keine Wachen, die an den wichtigen Türen standen; keine Geräusche, die darauf schließen ließen, dass hier überhaupt jemand lebte.
Schritt für Schritt näherten sie sich dem Ende des Gangs. Eine schmale Tür versperrte den Durchgang zur dahinterliegenden Wendeltreppe. Kellan öffnete die Tür und betrat mit Ellie das Treppenhaus.
Die Stufen waren aus Stein, schmiegten sich an die runde Außenwand des hohen Turms und ließen in der Mitte eine Öffnung. Bevor sie die Stufen betraten, blickte Ellie durch die Öffnung nach oben. Weit entfernt sah sie eine steinerne Decke.
Gemeinsam gingen sie nach oben. Ellie hielt sich dicht an der äußeren Mauer, um nicht durch einen falschen Schritt in die Tiefe zu stürzen. Nachdem sie über die Hälfte der Strecke hinter sich gelassen hatten, blieb Kellan unvermittelt stehen.
Schritten drangen an sein Ohr. Sie waren laut und schwerfällig und kamen direkt auf sie zu. Es gab keine Möglichkeit sich zu verstecken, er musste es auf eine Konfrontation ankommen lassen.
Stiefel gerieten in sein Blickfeld und schon bald sah er den muskelbepackten Körper Krabags, des Leibwächters Arien Tulsas. Grinsend kam der Hüne näher. Er presste seine rechte Faust in die linke Hand. Seine Knöchel quittierten dies mit einem knackenden Geräusch. Siegessicher zog er in aller Seelenruhe ein Langschwert hinter seinem Rücken hervor. Mit nur einer Hand vollführte er elegante, aber kraftvolle Drehungen mit der Klinge, die seine Überlegenheit signalisierten. Hin und wieder traf die Spitze der Klinge die Außenmauer und ließ kleine Funken aufblitzen.
Ellie stieß einen angsterfüllten Schrei aus.
„Alles wird gut“, beruhigte Kellan sie.
Als wären seine Worte das Signal, sprang der Hüne mit einem wütenden Aufschrei direkt auf ihn zu, das Schwert dabei weit über den Kopf schwingend.
Der Schattenkrieger wartete auf den richtigen Augenblick. Plötzlich verlagerte er sein Gewicht. Sein rechtes Bein schoss vor, traf Krabag mitten in der Mitte des Körpers. Dabei drehte sich Kellan ein wenig und veränderte somit die Sprungrichtung des Hünen. Krabag verlor das Gleichgewicht. Das schwere Schwert sauste nach unten, verfehlte jedoch das Ziel und traf klirrend die steinernen Stufen. Der Hüne konnte den Schwung mit seinem muskelbepackten Körper nicht mehr abfangen. Er ließ die Klinge los, ruderte mit den Armen, doch es war zu spät. Sein Fuß trat ins Leere und er stürzte ab. Sein Todesschrei hallte noch an den Wänden des Turms wider. Dann war es still.
„Komm“, forderte Kellan Ellie auf. Er ließ nicht zu, dass ihr der Tod des Leibwächters einen Schock versetzte und trieb sie weiter voran.
Jetzt liefen sie die Treppe schneller hinauf. Wenn sich Arien Tulsa dort oben befand, war sie von dem Schrei ohnehin gewarnt worden. Somit war es egal.
Die Treppe endete vor einer weiteren Tür. Deutlich hörten sie die weibliche Stimme, die unverständliche Worte in einer Art Singsang von sich gab. Sie waren am Ziel!
Die Tür war unverschlossen. Lautlos ließ Kellan sie aufgleiten und blickte in den dahinterliegenden Raum. Er war kreisrund. Zwei große Feuerschalen spendeten reichlich Helligkeit. Ihre unruhigen Flammen warfen bizarre Schatten an die dunklen Vorhänge, welche an den Wänden hingen. Kellan sah viele Kerzen überall im Raum, die jedoch nicht brannten. Eine kühle Brise streifte seine Haut. Er sah die großen Steinquader des Bodens und die Lichtschlitze am äußeren Rand, durch die der Wind in den Raum drang. Doch mitten im Raum sah er sie: Arien Tulsa. Sie trug ein langes, dunkles Kleid und wandte ihm den Rücken zu. Sie stand vor einen Altar aus dunklem Stein und murmelte beschwörende Worte. Anscheinend merkte sie nichts von den Eindringlingen. Es schien so einfach …
Kellans Hand umfasste den Griff seines Dolchs. Er war nur wenige Schritte von der Federkönigin entfernt. Ein rascher Sprung, eine schnelle Bewegung und Iphosia wäre erlöst. Sein sechster Sinn schrie förmlich danach, vorsichtig zu sein, doch diese Möglichkeit war einzigartig. Eine derartige Chance gab es nicht noch einmal. Er musste sie nutzen, jetzt und sofort. Er durfte nicht länger warten.
Der Schattenkrieger riss den Dolch hoch und sprang ansatzlos vor. Der Schlag traf ihn völlig überraschend und schleuderte ihn zur Seite. Espen stürmte hinter dem Vorhang hervor, der ihm als Versteck gedient hatte. Noch bevor er nachsetzen konnte, warf sich Ellie Espen entgegen. Sie umschlang mit beiden Armen seinen Hals und riss ihn nach hinten. Espen war von dem Angriff vollkommen überrascht. Für einen kurzen Moment verlor er das Gleichgewicht, stolperte mit Ellie auf dem Rücken nach hinten und rammte ihren Körper gegen die Außenwand. Die junge Frau schrie kurz auf, ihr Griff lockerte sich. Espens Ellenbogenschlag traf sie mitten ins Gesicht. Sie verdrehte die Augen und sank ohnmächtig zu Boden.
Ellies Einsatz hatte Kellan die Zeit verschafft, wieder auf die Beine zu kommen. Mit einem Blick sah er Arien Tulsa, die in der Zeremonie vertieft aus dem magischen Buch las, welches aufgeschlagen vor ihr lag. Der Schattenkrieger drehte den Dolch in der Hand, doch bevor er die Königin angreifen konnte, war Espen schon auf dem Weg zu ihm.
Kellan parierte dessen Angriff. Gleichzeitig trat er ihm vors Schienbein. Espen ging zu Boden, rollte sich blitzschnell ab und kam reflexartig wieder auf die Beine. Der folgende Schlag traf Kellan an der Brust und schleuderte ihn quer durch den Raum.
„Du wirst alt, Kel“, spottete Espen und ging seinem Gegner entgegen.
Kellan ging nicht auf die Sprüche seines Gegenübers ein, sondern erwartete ihn ruhig und konzentriert. Espen täuschte einen Tritt an und feuerte stattdessen einige Faustschläge ab. Kellan parierte sie, packte Espens linken Arm, drehte ihn eiskalt herum. Dieser musste die Bewegung mitmachen und kassierte einen Ellenbogenschlag ins Gesicht.
Espen taumelte zurück. Ein zweiter Treffer schleuderte ihn gegen einen Vorhang und ein dritter schickte ihn zu Boden. Benommen klammerte er sich an den dunklen Stoff und riss den Vorhang mit sich. Tageslicht durchflutete den Raum und ließ unzählige Staubpartikel wie kleine Mücken tanzen.
Jetzt blieb nur noch die Königin!