Die Sonne weckte Heinrich Fuchs am nächsten Morgen später als gewöhnlich, und obwohl er sich beim Anziehen beeilte, kam er zu spät zum Morgenmahl in die Küche.
»Der Meister hat schon gegessen«, beschied ihm Dorothea. Die Magd hatte bei seinem Eintreten am Spülstein gestanden und dort einen Topf mit Scheuersand bearbeitet. Aber nun wischte sie sich flugs die feuchten Hände an der Schürze ab und schnitt ihm eine dicke Scheibe vom frischgebackenen Osterbrot ab, die sie mit einer großzügigen Portion Butter bestrich. »Wollt’s vielleicht noch ein bisserla Mus dazu oder Honig«, erkundigte sie sich.
Dem Magister, der sich gerade Wasser in einen Becher gegossen hatte, blieb der Mund offenstehen. »Danke, ja – Mus bitte!«, sagte er ein wenig verspätet. Mit einem Lächeln, dass die Magd sonst ausschließlich für ihren Herrn reserviert hatte, setzte Dorothea ihm den Teller vor. »Wohl bekomm’s! Sobald Ihr aufgegessen habt, erwartet Euch der Meister in der guten Stube. Er hätt’ eine Überraschung für Euch, soll ich ausrichten.«
Während Fuchs mit Genuss kaute, fragte er sich, was es mit der Überraschung wohl auf sich haben mochte und ob sie womöglich der Grund dafür war, dass Dorothea ihre Feindseligkeit gegen ihn so plötzlich begraben hatte. Leider würde er sich ihres neugewonnenen Wohlwollens nun nicht mehr lange erfreuen, dachte er, vorausgesetzt, es handelte sich dabei nicht ohnehin nur um eine Eintagsfliege.
Oben in der Stube erwartete ihn ein ungewöhnlicher Anblick: Meister Ambrosius trug ein blütenweißes Hemd mit gestärkter Rüschenkrause am Hals, darüber ein fast neues Wams aus dunkelblauem Schamlott, eine farblich passende Pluderhose und weiße Strümpfe. Statt der abgewetzten Lederkappe saß heute eine schwarze Samtmütze auf seinem Kopf. Da er sich erst vor wenigen Tagen beim Besuch der Badestube auch den Bart hatte scheren lassen, wirkte er nun tatsächlich wie ein erfolgreicher Meister seiner Zunft. Davon abgesehen war er so aufgekratzt, als wandelte er auf Freiersfüßen, was aber auch dem Rotwein geschuldet sein mochte – ein halbvolles Glas stand vor ihm auf dem Tisch. »Gleich kommt hoher Besuch, mein Freund!«, verkündete der Meister augenzwinkernd. »Der ehrbare Herr Tucher, der erst vor Kurzem Alter Genannter im Rat geworden ist, hat sich angekündigt. Er will sich den Eppelein anschauen.«
Während Fuchs noch überlegte, ob der ehrbare Herr womöglich der Gleiche war, der ihn im Frühsommer vor der Frauenkirche erst umgerannt und dann beschimpft hatte, erzählte Ambrosius vergnügt weiter: »Ich glaube, wenn er ihn erst gesehen hat, wird er ihn auf der Stelle kaufen wollen. Der Benedikt und der, die kennen sich aus ihrer Schulzeit, und als Bub war er manchmal bei uns in der Werkstatt. Nicht genug hat der kriegen können von den kleinen Spielwerken, die ich damals gebaut habe!« Dann erst schien er zu bemerken, dass Fuchs noch immer wartend vor ihm stand. »Setzt Euch zu mir, mein Freund!« Er goss Rotwein in ein zweites Glas. »Lasst uns zuvor noch einen Schluck trinken und darüber sprechen, wie es weitergehen soll, wenn Euer Jahr um ist.«
Der Magister setzte sich, doch während er an dem Wein nippte, beschlich ihn das Gefühl, dass er und Ambrosius unterschiedliche Vorstellungen von der nahen Zukunft haben könnten.
»Ich weiß es schon seit ein paar Tagen, habe Reinfeld und Dorothea aber ausdrücklich dazu verdonnert, die Goschen zu halten«, verkündete Ambrosius nun. »Aber Ihr, Magister Fuchs, werdet nachher die Ehre haben, den Eppelein erstmalig vorzuführen, denn ohne Euch hätte ich ihn längst noch nicht beendet!«
Fuchs glaubte zu verstehen, weshalb sich Reinfeld ausgerechnet jetzt bemühte, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Gewiss würde Ambrosius’ Diener nachher bei der Demonstration vor dem ehrbaren Herrn Tucher dabei sein, um damit herauszurücken. Generös beschloss Fuchs, den jungen Mann seinerseits damit zu überraschen, dass er ihm den Vortritt ließ. Doch zunächst wollte er seine Bitte vorbringen, was ihm notwendig zu tun schien, bevor sich Ambrosius in weiteren Zukunftsvorstellungen erging, in denen er eine Rolle spielen könnte. Der Meister mochte ein Sonderling sein, aber im Grunde hatte er das Herz auf dem rechten Fleck, und so hoffte Fuchs, dass Ambrosius ihn verstehen würde.
»Lasst mich eine Bitte äußern, bevor Ihr weitersprecht, Meister«, begann er ohne Umschweife. Ausführlich legte er die Überlegungen dar, die ihm gestern während der Ostermesse gekommen waren. Fuchs hoffte, die rechten Worte gefunden zu haben, und schloss: »Darum bitte ich Euch von ganzem Herzen, mich gütlich vorzeitig aus unserem Vertrag zu entlassen, Meister Ambrosius. Zwar könnte ich behaupten, es sei göttliche Erleuchtung, die mich in der letzten Nacht überkam, doch so hoch will ich nicht greifen. Ich glaube, es war mein Herz, das endlich wahr und ehrlich zu mir gesprochen hat – so wie ich jetzt zu Euch, Meister.« Er nahm das Glas, um seine Kehle zu befeuchten, die vom vielen Reden, aber auch vor Aufregung, ganz trocken geworden war. Während seiner Erzählung hatte er zahlreiche Gefühle auf dem Gesicht des Älteren gesehen – Überraschung und Mitgefühl, aber auch Trauer und Enttäuschung waren darunter gewesen.
Ambrosius trank ebenfalls und schwieg noch eine Zeitlang. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Ich hätte es ahnen müssen«, sagte er schließlich. »Wenn Ihr von Eurem Weib spracht, dann war dieser sehnsuchtsvolle Glanz in Euren Augen. Und da sie nun mal nicht bereit war, meiner Einladung nach Nürnberg zu folgen, war es logisch, dass Ihr irgendwann zu ihr reisen würdet. Allerdings hoffte ich dennoch …« Er brach ab, zog die Kappe von seinem Kopf und schleuderte sie achtlos auf den Tisch. »Ach, was soll’s! Der Herrgott gibt, der Herrgott nimmt – so geht’s nun mal im Leben.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Dann schleicht Euch halt – meinen Segen dazu sollt Ihr haben!« Als Fuchs sich gerührt bedanken wollte, winkte der Meister ab. Er wischte sich kurz über die Augen, bevor er sich die samtene Kappe wieder über den kahlen Schädel zog.
Von unten ertönte nun ein energisches Klopfen. Ambrosius erhob sich. »Aber Strafe muss sein!«, verkündete er mit sardonischem Lächeln. »Den Eppelein, den werd ich heute vorführen, dass Ihr’s nur wisst!« Heinrich Fuchs nickte erleichtert und folgte dem Meister die Treppe hinab, wo Dorothea den Gast bereits hereingebeten hatte.
»Ah, da seid Ihr ja, mein guter Meister Ambrosius!«, rief der junge Patrizier, indem er mit gönnerhafter Geste die Arme ausbreitete. Wieder trug er Kleider, deren Stoffe von ausgesuchter Qualität waren und ein Vermögen gekostet haben mussten – Fuchs, als Sohn eines Tuchmachers, erkannte das mit einem Blick. Das Samtbarett war mit Straußenfedern geschmückt, die jede Kopfbewegung Tuchers mit hochmütigem Wippen unterstrichen. Ihren Wert vermochte der Magister nicht einmal zu schätzen. Der blonde Bart des Kaufmanns war sorgfältig gestutzt, und Fuchs roch sogar noch aus fünf Schritten Abstand den Duft seiner Pomade. Tuchers Lächeln gefror, als er Fuchs hinter dem Meister bemerkte. Immerhin erinnert er sich an mich, dachte der Magister grimmig.
»Ich freue mich, Euch wieder einmal in meiner Werkstatt zu haben, werter Herr Tucher«, begrüßte Ambrosius seinen Gast. »Das hier ist Magister Heinrich Fuchs aus Sachsen.« Einen Augenblick schien er irritiert, als er sah, mit welch eisiger Höflichkeit der Magister den Kopf neigte und wie abfällig der junge Kaufmann den Mund verzog.
Tuchers lautes Händeklatschen ließ ihn das schnell vergessen. »Zeigt mir, wo Ihr Benedikts fabelhaften Automaten versteckt habt, Meister Ambrosius!« Sein Blick glitt über die Werkbänke und den Ausstellungstisch.
»Dazu müsst Ihr schon mit mir in den Keller kommen«, Ambrosius nahm die Fackel, die Dorothea für ihn angezündet hatte, und ging voran. Tucher folgte ihm, und der Magister schloss sich den beiden an. Er war davon ausgegangen, dass Reinfeld unten auf sie warten würde – doch obwohl die Kellergewölbe bereits von Fackeln erleuchtet waren, konnte er den Diener nirgendwo entdecken.
Inzwischen hatte Ambrosius seine Fackel neben der Werkbank in eine Halterung gesteckt. Der Automat trug wieder seine Leinenhülle, die der Meister nun mit schwungvoller Geste herunterzog. »Darf ich vorstellen: der berüchtigte Raubritter Eppelein von Gailingen – zurück in Nürnberg, um sich demütigst vor einem der ehrenwerten Herren vom Stadtrat zu verneigen!« Er trat zur Seite, damit sein Gast die Gelegenheit bekam, den Automaten von allen Seiten eingehend zu betrachten.
Während Tucher die Rüstung umkreiste und Meister Ambrosius ihm zufrieden schmunzelnd mit den Augen folgte, hielt sich Heinrich Fuchs im Hintergrund. Er hatte sich die erste Vorführung des Automaten in den letzten Wochen stets anders ausgemalt. in seiner Vorstellung hatten sie den Eppelein zum ersten Mal im Versammlungsraum des Zunfthauses vor einem sachverständigen Publikum gezeigt, mit dem sie anschließend, vorzugsweise bei einem guten Mahl mit reichlich Wein und Bier, eingehend die Details und Schwierigkeiten der Konstruktion diskutieren konnten. Doch wer weiß, ob man ihn dort überhaupt zugelassen hätte – immerhin war er kein Mitglied der Zunft, und er hatte beim Bau des Automaten auch nur einen geringen Beitrag geleistet. Kurz überlegte er, ob er erwähnen sollte, dass Reinfeld an dem Automaten in der vergangenen Nacht noch die letzten störenden Kleinigkeiten behoben hatte, doch dann beschloss er, davon erst zu sprechen, wenn Tucher gegangen war.
Der Patrizier hatte seine Besichtigung mittlerweile beendet und auf einem Schemel Platz genommen, den der Meister für ihn bereitgestellt hatte. Erwartungsvoll beugte er sich vor, als Ambrosius feierlich verkündete: »Und nun, werter Herr Tucher, wird der alte Eppelein zum ersten Mal einem Nürnberger Ratsherrn seine Ehrerbietung erweisen!« Tuchers Augen, für gewöhnlich kühl und distanziert, begannen zu leuchten. »Nur zu! Auch wenn das mehr als hundert Jahre zu spät kommt, kann ich es kaum erwarten!«, rief er und klatschte in die Hände wie ein Kind im Angesicht eines neuen Spielzeugs.
Obwohl Heinrich Fuchs den Eppelein schon mehrfach in Funktion gesehen hatte, spürte er, dass auch sein Herz rascher zu schlagen begann, als Ambrosius den Schlüssel nahm, um den Automaten aufzuziehen.
Fuchs fragte sich, ob der Meister bemerkte, dass das Aufziehen heute viel besser funktionierte als beim letzten Mal. Doch Ambrosius zog den Schlüssel ab, ohne ein Wort zu verlieren, und drückte dann mit geheimnisvollem Lächeln den Knopf. Anschließend ging er zur Seite und lehnte sich an die Werkbank, denn von dort aus konnte er die Reaktionen seines hohen Gastes am besten beobachten.
Tucher reckte den Hals, sobald es im Inneren des Automaten zu rattern und zu klacken begann. Er riss die Augen auf, als sich der rechte Unterarm des Ritters mit dem Dolch in der gepanzerten Faust langsam hob. Während gleich darauf die Linke mit dem Schwert folgte, begann er auf seinem Schemel zu zappeln, und als die Schwertspitze das Visier anhob, machte er Anstalten aufzuspringen.
»Bleibt sitzen, verehrter Herr Tucher, ich bitte Euch!«, rief Ambrosius warnend. »Wir wollen doch nicht, dass Euch etwas zustößt, denn wie Ihr wisst, ist dies die erste Demonstration des Automaten vor einem Gast.« Der junge Kaufmann, dem das belustigte Augenzwinkern des Meisters offenbar entgangen war, hielt sofort inne. »Ja, meint Ihr denn, es könnte gefährlich werden?«, fragte er. »Sagt Ihr es mir!« Der Meister wackelte mit dem Kopf. »Schaut dem wüsten Raubritter ruhig in die Augen, wenn Ihr es wagt!«
Tucher, der nun merkte, dass Ambrosius sich nur einen Spaß mit ihm erlaubt hatte, erhob sich forsch und trat so dicht an den Automaten heran, dass seine Nasenspitze beinah die geschnitzte Hakennase in Eppeleins grimmigem Gesicht berührte. Dann trat er einen Schritt zurück und schüttelte verwirrt den Kopf. »Der schaut tatsächlich so echt aus – man könnt fast glauben, Eppelein, der verfluchte Kerl, sei aus der Hölle zurückgekehrt«, flüsterte er ehrfürchtig. Der Magister stimmte ihm im Stillen zu. Obwohl er die meisterliche Schnitzarbeit in den letzten Wochen oft genug betrachtet hatte, spiegelte sich das Licht der Fackeln heute besonders lebhaft in den künstlichen Augen. So blitzten sie boshaft, und es schien, als würde sich der grausame Mund des Ritters im nächsten Augenblick öffnen, um ein höhnisches Gelächter auszustoßen.
Tucher kehrte zu seinem Hocker zurück, nachdem er sich sattgesehen hatte. Der Meister trat an den Automaten und betätigte den zweiten Knopf, der den Mechanismus erneut auslösen und den Ritter wieder in seine Ausgangsposition zurückbewegen sollte. Klickend begann das Räderwerk erneut zu laufen, und der Ritter neigte mit einer kurzen, ruckartigen Bewegung den Kopf zur Brust. Doch dann ertönte metallisches Knirschen, der Automat erbebte und stand auf einmal still. Schwert und Dolch verharrten an ihrem Platz, das Visier blieb geöffnet. Die Augen des Ritters starrten kalt und böse auf den Meister herab, auf dessen Gesicht sich Verwirrung und Ratlosigkeit ausbreiteten. »Das verstehe ich nicht«, murmelte er, bevor er sich verlegen an seinen Gast wandte. »Ich befürchte, dass soeben etwas kaputtgegangen ist im Inneren des Automaten!«
»Wahrscheinlich klemmt das Visier«, sagte Fuchs, der jetzt bereute, dass er Ambrosius noch nichts von Reinfelds nächtlichem Treiben erzählt hatte. Der vermaledeite Kerl musste den Automaten dabei beschädigt haben, was wiederum dafürsprach, dass Ambrosius die Fähigkeiten seines Dieners richtig beurteilt hatte. Verärgert über sich selbst stieß Fuchs die Luft aus. »Lasst mich helfen!«, sagte er, eilte zur Werkbank und ergriff die Zange. »Ich kann das sicher wieder in Ordnung bringen.«
Aber Ambrosius hatte sich bereits seine Fußbank geholt, sie vor dem Automaten aufgestellt und war daraufgeklettert. »Gebt her!« Ungeduldig streckte der Meister die Hand nach der Zange aus. Fuchs zögerte, wollte einwenden, dass er die Reparatur müheloser erledigen könne, weil er größer sei als Ambrosius, der sich selbst auf der Fußbank noch auf die Zehenspitzen stellen musste, um an dem Visier arbeiten zu können. Aber dann begriff er, dass er den Meister damit vor Tucher noch mehr beschämen würde.
Als Ambrosius ungehalten zischte, reichte er ihm das Werkzeug, trat rasch beiseite und beobachtete, wie der Meister versuchte, das Visier mit der Hand zu schließen. Zunächst sah es aus, als würde das gelingen, doch kaum hatte Ambrosius die Metallschiene zwei Fingerbreit nach unten bewegt, ertönte ein scharfes Klacken, gefolgt von einem Sirren. Ambrosius stieß einen grässlichen Schrei aus, fasste sich an den Kopf, taumelte gegen den Automaten, verlor den Halt und stürzte, wobei er die Rüstung umriss.
In der Annahme, der Meister habe einen Schwächeanfall erlitten oder ihn habe – was Gott verhüten möge – gar der Schlag getroffen, sprang Fuchs hinzu. Als er den Meister an der Schulter packte, um ihn umzudrehen, bemerkte er die Pfütze, die sich immer rascher unter dem Kopf des Gestürzten ausbreitete und den Sandsteinboden des Kellers dunkel färbte.
»Was ist passiert?«, fragte Tucher, der neben ihn getreten war, in harschem Ton.
Der Magister quittierte die Frage mit einem ungehaltenen Schnauben. »Helft mir, ihn umzudrehen!«, forderte er. »Aber vorsichtig! Er muss sich bei seinem Sturz verletzt haben.«
Der junge Patrizier wurde blass. »Dann lasse ich besser nach einem Arzt schicken«, sagte er und wollte gehen. Fuchs hielt ihn am Arm fest. »Ich bin Arzt«, knurrte er. »Und nun fasst endlich mit an, sonst verblutet er uns am Ende noch!«
Widerwillig griff Tucher zu, aber als sie den Verletzten auf den Rücken gelegt hatten, keuchte er entsetzt auf. »Mein Gott«, stammelte er. »Was ist das?« Dieselbe Frage stellte sich der Magister ebenfalls. Fassungslos standen beide vor Ambrosius, dessen rechtes Auge an die Decke starrte, während aus dem linken ein fingerdicker Metallbolzen ragte. »Ist er noch zu retten?«, fragte Tucher mit bebender Stimme.
»Das glaube ich nicht«, Fuchs kniete sich hin und tastete nach einer Vene am Hals des Meisters. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich spüre keinen Puls. Der Bolzen muss die Augenhöhle durchschlagen haben und ist wahrscheinlich ins Gehirn eingedrungen. Niemand hätte es vermocht, ihn unter diesen Umständen zu retten.« Sein Blick schweifte zu dem Automaten, der zwei Schritt entfernt auf dem Boden lag. Der Sturz musste den blockierten Mechanismus ausgelöst haben, denn beide Arme waren wieder gesenkt, die Waffen zeigten mit ihren Spitzen nach unten und das Visier war geschlossen. »Ich frage mich, woher der Bolzen gekommen ist?«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Aus dem Automaten wird er gekommen sein. Woher sonst?« Tucher zuckte mit den Schultern. »Ihr habt selbst gehört, wie Meister Ambrosius gesagt hat, dass etwas kaputtgegangen sein muss da drinnen!«
»Ja, möglicherweise«, räumte Fuchs ein, obwohl er nicht so recht an diese Erklärung glaubte. Schließlich kannte er das Räderwerk im Inneren des Automaten und wusste, dass es dort keinen Bolzen gab, der im Falle einer Blockierung mit solcher Kraft hervorschießen könnte. Da er für den Meister nichts mehr tun konnte, erhob er sich, um den Automaten aus der Nähe in Augenschein zu nehmen.
Tucher musste ihm seine Zweifel angesehen haben, denn er nahm die Fackel und sah sich argwöhnisch um. »Oder meint Ihr gar, jemand hätte auf den Meister geschossen? Womöglich hält sich der Meuchelmörder noch irgendwo hier versteckt!«
Wie zur Antwort auf diese Frage, erklangen nun Schritte aus dem angrenzenden Lagerraum, doch sie entfernten sich nicht, sondern steuerten geradewegs auf die Werkstatt zu. »Halt! Wer da?«, rief Tucher erschrocken, und dann erschien auch schon Reinfelds dürre Gestalt im Durchgang zur Werkstatt. »Meister?«, rief der Diener. »Mich deucht, Ihr habt nach Reinfeld gerufen.«
Fuchs, der sich soeben bemühte, das Visier der Rüstung zu öffnen, drehte sich um. Reinfeld starrte ihn einen Augenblick verständnislos an, doch dann entdeckte er die Leiche seines Meisters. Seine Augen weiteten sich entsetzt, als er den Bolzen sah. Langsam, wie unter Zwang, bewegte er sich auf seinen Herrn zu und sank neben ihm in die Knie. Er strich immer wieder zärtlich über das erstarrte Gesicht, wobei es ihn nicht zu stören schien, dass er seine Finger mit dem Blut aus der zerstörten Augenhöhle befleckte. Dann griff er nach der Hand des Toten und presste sie mit einer hilflosen Geste gegen seine Wange. Ein hoher klagender Ton drang aus seinem Mund.
Wie gebannt beobachtete Fuchs die verstörende Szene. Selbst Tucher vergaß den Meuchelmörder, ließ die Fackel sinken und verfolgte, wie Reinfeld mit dem Oberkörper zu pendeln begann, während sein Heulen immer lauter wurde. Doch dann schein sich der Patrizier seiner Würde zu entsinnen. »Schluss damit!«, rief er und hob die Hand. »Lass das Greinen! Geh nach oben in die Küche und sag meinem Diener, er soll losgehen und so schnell wie möglich zwei Männer der Stadtwache auftreiben und herbringen! Und einer der Gerichtsschöffen muss sofort benachrichtigt werden. Was hier passiert ist, bedarf der genaueren Prüfung!« Allerdings schienen seine Worte nicht zu Reinfeld durchzudringen, denn der reagierte nicht und setzte seine schaurige Totenklage fort. Erst als Tucher zu ihm ging und ihn unsanft an der Schulter packte, endete das Heulen. Dafür begann der Mann haltlos zu schluchzen, warf sich über den Leichnam und krallte die Finger ins Gewand des Toten.
Wütend und ratlos zugleich stampfte der junge Patrizier mit dem Fuß. »Ja, ist dieser Kerl denn narrisch geworden?«, rief er. Magister Fuchs hockte noch immer neben dem Automaten und versuchte vergeblich zu verstehen, was geschehen war. War der Tod des Mechanikers die Folge eines Unfalls? Oder hatte Tucher doch recht, und es handelte sich um einen sogfältig geplanten Mord?
Schwerfällig wie ein alter Mann erhob er sich. »Ihr habt recht, Ratsherr Tucher, die Sache muss genau untersucht werden! Wenn Ihr erlaubt, benachrichtige ich jetzt Euren Diener.«
»Natürlich«, Tucher nickte. »Macht schnell und kommt schnell zurück!«
Fuchs ahnte, dass Tucher der Gedanke, mit der Leiche des Meisters, dem verrückten Reinfeld und einem hypothetischen Mörder allein gelassen zu werden, nicht behagte. »Ich beeile mich!«, versicherte er und nahm die Fackel, die Reinfeld achtlos neben sich auf den Boden gelegt hatte. Dann hastete er durch die Kellergewölbe und eilte die Treppe hinauf. Keuchend riss er die Tür zur Küche auf, wo Tuchers Diener am Tisch hockte und sich einen Krug Bier schmecken ließ.
Dorothea, die derweil mit den Vorbereitungen fürs Mittagsmahl begonnen hatte, fuhr herum. Fuchs vermutete, dass ihm der Schrecken noch im Gesicht geschrieben stand, denn die Magd reagierte auf seinen Anblick so verstört, als wäre ein Gespenst in ihrer Küche erschienen. Das Messer, mit dem sie Wurzelgemüse geputzt hatte, glitt ihr aus der Hand und fiel geräuschvoll zu Boden.
»Bei der Vorführung des Automaten hat es einen schrecklichen Unfall gegeben. Meister Ambrosius ist tot«, sagte Fuchs, kaum dass er wieder Luft bekam. Die Magd begann zu wanken, ihre Finger suchten Halt an der Kante des Tisches. »Euer Herr will, dass Ihr sofort loslauft und zwei Männer der Stadtwache und einen der Gerichtsschöffen herbringt!«, gab Fuchs Tuchers Anweisungen weiter, bevor er Dorothea sanft am Arm fasste. »Ihr solltet Euch setzen, gute Frau!«
Die Magd riss sich los. »Lasst mich!«, schrie sie und wich ein Stück zurück, als wäre er der Teufel in Person. Der Mann hatte sich inzwischen erhoben. »Sagt meinem Herrn, dass ich schon unterwegs bin!«, rief er, griff nach seinem Umhang und verließ die Küche mit der gebotenen Eile.
Unschlüssig blickte Fuchs zu Dorothea, die mit kreidebleichem Gesicht und bebenden Lippen neben dem Herd stand. Die robuste Magd wirkte dermaßen erschüttert, dass er sich fragte, ob er es wagen konnte, sie allein zu lassen. Sie mit in den Keller zu nehmen schien erst recht keine Option zu sein. »Soll ich Euch vielleicht zu den Nachbarn begleiten?«, fragte er. »Dann müsstet Ihr nicht allein bleiben. Die Magd des Silberschmieds oder die Hausfrau des Fingerhutmachers könnten Euch beistehen.« Aber Dorothea hob abwehrend beide Hände. »Geht!«, krächzte sie. »Lasst mich allein!«
»Seid Ihr sicher?«, erkundigte sich der Magister besorgt. »Ja! Verschwindet!« Das klang schon wieder ganz nach der Dorothea, die Fuchs kannte. Er nickte und machte sich auf den Rückweg in den Keller.
Dort war es mittlerweile still geworden. Reinfeld, der mit geschlossenen Augen neben der Leiche seines Meisters kniete, hatte die Hände gefaltet und schien zu beten – zumindest legten seine fortwährenden Lippenbewegungen das nahe. Tucher hantierte an der Rüstung herum. Offensichtlich war es ihm gelungen, das Visier mit roher Gewalt zu öffnen. Empört sah Fuchs auf das verbeulte Blech und den Hammer in der Hand des Patriziers. Nur jemand, der keine Ahnung hatte, wie viel Mühe, Zeit und Scharfsinn der Meister und sein Sohn auf den Bau des einzigartigen Automaten verwendet hatten, konnte sich derart ignorant verhalten! Um Beherrschung ringend stieß er hervor: »Euer Diener ist auf dem Weg, Ratsherr!«
Tucher starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Steht nicht herum, kommt gefälligst her«, blaffte er Fuchs an. »Und sagt mir, wie Ihr Euch das erklärt!« Anklagend zeigte er auf die kunstvoll geschnitzte Lindenholzmaske.
Fuchs trat näher und erkannte sofort, was Tucher meinte. Die grimmige Visage des Automaten war eine groteske Spiegelung des zerstörten Gesichts seines Meisters – denn während das linke Glasauge des Eppelein gefährlich glitzerte, war seine rechte Augenhöhle schwarz und leer. Der Magister beugte sich darüber, entdeckte eine tiefe Scharte in der Mitte des unteren Augenlids und befühlte sie mit dem Finger. »Es sieht so aus, als wäre der Bolzen hier herausgeschossen«, sagte er fassungslos. Suchend ließ er das Licht seiner Fackel über den Boden wandern, bis er winzige Glasstücke im Staub glitzern sah. »Das rechte Auge muss dabei zersplittert sein.«
»Schaut ganz so aus!«, bestätigte Tucher, der offenbar zur selben Erkenntnis gekommen war. »Die Frage ist allerdings, wie es dazu kommen konnte!«
»Das frage ich mich auch«, murmelte Fuchs, ging in die Knie und brachte die Fackel näher an das schartige schwarze Loch. Soweit er wusste, gab es kein Bauteil unter dem Helm, das dem Bolzen, der Ambrosius getötet hatte, auch nur entfernt ähnelte. Daran, dass es sich um einen Unfall gehandelt haben könnte, glaubte er immer weniger. »Ich muss den Automaten öffnen, damit ich die Mechanik genauer untersuchen kann«, erklärte er. »Womöglich hat sich jemand daran zu schaffen gemacht.« Fuchs konnte nicht verhindern, dass sich sein Kopf unwillkürlich zu Reinfeld drehte. Was hatte der unglückselige Kerl nur mit dem Automaten angestellt?
»Ihr glaubt also, der Automat sei absichtlich manipuliert worden, und derjenige, der das getan hat, wollte ihn als Mordwerkzeug benutzen?« Tucher runzelte die Stirn, der Blick des Magisters war ihm offenbar nicht entgangen. »Aber Ihr glaubt doch wohl nicht, dass dieser Simpel dazu in der Lage war!«
Noch bevor Fuchs etwas dazu sagen konnte, war Ambrosius’ Diener aufgesprungen. Abgrundtiefer Hass verzerrte seine Züge, sodass der Magister an jene dämonischen Fratzen erinnert wurde, mit denen Steinmetze die Traufen an Kirchdächern verzierten. »Der ist schuld daran, der allein!«, kreischte Reinfeld und zeigte mit blutbeschmierten Fingern auf Fuchs. »Der sächsische Satan hat meinen lieben Meister auf dem Gewissen! Voll Arglist und Tücke hat er sich in diesem Haus eingeschlichen und sich festgesetzt wie eine blutsaugende Zecke. Auf die Seele meines Meisters hatte er es abgesehen.«
Fuchs, der sich fühlte, als hätte ihm jemand ein Brett vor den Kopf geschlagen, schüttelte sich, wobei der letzte Rest von Mitleid, den er für den Unglückswurm empfunden hatte, von ihm abfiel. »Wie kommst du zu solchen Anschuldigungen?«, donnerte er. »Gerade du! Schließlich habe ich mit eigenen Augen gesehen, dass du dich an dem Automaten zu schaffen gemacht hast!«
»Glaubt ihm kein Wort!«, geiferte Reinfeld, der sich Tucher inzwischen so weit genähert hatte, dass er dessen Hand ergreifen konnte. »Er ist der Fürst der Lügen!«
Der Ratsherr stieß ihn von sich und wischte sich angewidert einen Speicheltropfen aus dem Gesicht. Reinfeld taumelte gegen die Werkbank und klammerte sich schwer atmend daran fest. »Was hast du letzte Nacht mit dem Mechanismus angestellt?«, herrschte Fuchs ihn an.
»Ihr habt das getan!«, zischte Reinfeld. »Ich habe es genau gesehen!« Mit einer jähen Bewegung riss er die Fackel über der Werkbank aus ihrer Halterung. »Und dafür werdet Ihr brennen, bevor Ihr in die tiefste Hölle fahrt!« Bei diesen Worten hatte er ausgeholt, um die Fackel nach Fuchs zu werfen, der sich geistesgegenwärtig duckte.
Tucher war noch schneller gewesen und hatte sich auf Reinfeld gestürzt. Während er ihm die Fackel entriss, traf seine Faust zielsicher die Nase des Tobenden, die mit widerlichem Knirschen brach. Reinfeld schrie, griff sich ins Gesicht und sackte jaulend zu Boden. Blut quoll unaufhörlich zwischen seinen Fingern hervor. Mit zufriedener Miene hob Tucher die Fackel auf und steckte sie zurück in die Halterung. »Hätte noch gefehlt, dass der uns hier unten röstet wie Ferkel im Ofen!« Dann nahm er einen Strick von der Wand, band dem heulenden Diener Füße und Handgelenke zusammen und zerrte ihn in eine Ecke neben der Werkbank.
»Danke!«, krächzte Fuchs, der sich mit einem Blick vergewisserte, dass Reinfeld nicht ohnmächtig wurde. Als Arzt hätte er sich dann verpflichtet gefühlt, dafür zu sorgen, dass Ambrosius’ Diener nicht an seinem eigenen Blut erstickte. Aber solange die Gefahr nicht bestand, sollte der verrückte Kerl ruhig weiter jammern und bluten. »Bitte helft mir, den Automaten aufzurichten«, wandte er sich an Tucher. »Nur dann kann ich ihn öffnen, um nachzuschauen, was dieser Narr mit dem Mechanismus angestellt hat.«
Der junge Ratsherr verzog das Gesicht, als hätte er Zahnweh. »Das kann ich Euch nicht gestatten, Magister«, sagte er. »Immerhin hat das Ding einen Menschen getötet, und ich wurde Zeuge, wie Ambrosius’ Diener Euch des Mordes an seinem Herrn beschuldigte.«
»Aber ich selbst habe gesehen, dass Reinfeld sich letzte Nacht hier unten an dem Automaten zu schaffen gemacht hat!«, begehrte Fuchs auf.
»Dasselbe behauptet er von Euch«, entgegnete Tucher. »Und während ich den guten Reinfeld kenne und weiß, wie sehr er seinem Herrn ergeben war, seid Ihr in Nürnberg ein Fremder. Überdies habt Ihr es gerade selbst gesagt: Reinfeld ist ein Narr. Wie sollte einer wie er dazu fähig sein, einen komplizierten Mechanismus zu manipulieren?«
Auch wenn der Patrizier ein Gockel war und man seinen Standesdünkel schon aus einer Entfernung von hundert Schritten roch, musste der Magister zugeben, dass der Mann in der Lage war, Schlussfolgerungen zu ziehen, und auch in einer vertrackten Lage einen kühlen Kopf bewahrte. Vielleicht hatte Tucher seine Wahl in den Rat nicht ausschließlich dem Geld seines Vaters und dem Namen seiner Sippe zu verdanken. Erschöpft ließ er sich auf den Schemel neben der Werkbank fallen, beugte sich nach vorn und stützte die Unterarme auf die Knie. »Und wie wird es nun weitergehen?«, fragte er leise.
Tucher spielte mit einem Spindelbohrer. Entweder hatte er Fuchs nicht gehört, oder er wollte den Magister, dem nach und nach dämmerte, in welch prekärer Situation er sich befand, absichtlich im Ungewissen lassen. Sein Stolz verbot es Heinrich Fuchs, die Frage zu wiederholen. So schwiegen sie beide, während Reinfeld in der Ecke schniefte. Der Magister biss sich auf die Lippe und versuchte vergeblich abzuschätzen, wie gut seine Chancen standen, mit heiler Haut aus der Sache herauszukommen. Schließlich hatte Tucher es mit seiner Bemerkung, dass hier Aussage gegen Aussage stehe, ganz gut auf den Punkt gebracht. Dummerweise wollte ihm partout nichts einfallen, was er zu seinen Gunsten hätte verwenden können! Erst als auf der Kellertreppe die eiligen Schritte mehrerer Männer zu hören waren, warf der Ratsherr das Werkzeug auf den Tisch und drehte sich mit bedeutungsvoller Miene zu ihm um. »Nun werdet Ihr gleich erleben, wie das Recht in der freien Reichsstadt Nürnberg gehandhabt wird, Magister Fuchs aus Sachsen.«
Zwei Männer in den rot-weißen Uniformen der Stadtwache marschierten in den Keller. Ihnen folgte ein Mann mit kurzem Haar und Bart – weder klein noch groß und im Vergleich zu Tucher auch nicht besonders prunkvoll gekleidet. Dennoch strahlte er Würde und Selbstsicherheit aus, und seinen aufmerksamen dunklen Augen schien kaum etwas zu entgehen.
Der junge Ratsherr empfing ihn mit einer förmlichen Verbeugung. »Gott zum Gruße, ehrenwerter Herr Haller! Ich bin sehr froh, dass Ihr so schnell kommen konntet, denn der jähe Tod des armen Meister Ambrosius gibt einige Rätsel auf.« Er trat zur Seite, damit Haller den Toten sehen konnte. »Auf den ersten Blick scheint es sich um einen Unfall zu handeln.
Der Meister wurde bei der Vorführung seines neuen Automaten, bei der ich zugegen war, von einem hervorschnellenden Bolzen so unglücklich getroffen, dass er sofort starb. Allerdings versicherte mir Magister Fuchs«, Tucher deutete auf Fuchs, der beim Eintritt der Männer von seinem Schemel aufgestanden war, »der gemeinsam mit Ambrosius an der Mechanik gearbeitet hat, dass es darin kein solches Bauteil gebe.«
»Hat’s selbst eingebaut, der sächsische Satan«, näselte Reinfeld aus der Ecke neben der Werkbank. »Hat meinen Meister gemeuchelt!«
»Das habe ich mitnichten!«, widersprach der Magister. »Reinfeld war derjenige, der sich in der vergangenen Nacht als Letzter an dem Automaten zu schaffen gemacht hat.«
»Seht Ihr, was ich meine, werter Herr Haller?«, wandte sich Tucher an seinen Ratskollegen. »Durchaus!« Haller nickte. »Ihr habt gut daran getan, mich sogleich an den Ort des Geschehens rufen zu lassen, damit ich mir ein Bild machen kann.« Er blickte von Tucher zu Fuchs. »Was macht ein sächsischer Magister im Haus eines Nürnberger Uhrmachers?« Die Mundwinkel unter dem graumelierten Barthaar zuckten, doch die Augen des Ratsherrn blieben ernst.
»Auch ich beschäftige mich mit der Kunst der Mechanik, hochverehrter Herr Haller«, entgegnete Fuchs. »Für das Rathaus der Pirnaer habe ich eine astronomische Uhr gebaut, die ich noch mit einem Spielwerk vervollständigen möchte. Darum hat mich der hochwohllöbliche Rat zu Pirna nach Nürnberg geschickt, damit ich mich bei den besten Meistern im ganzen Reich umtun kann. Meister Ambrosius bot mir an, mich in die Geheimnisse seiner Kunst einzuweihen, wenn ich mich bereit erklärte, ein Jahr für ihn zu arbeiten.«
Haller nickte. »Dann werdet Ihr Euch gewiss ausweisen können und Empfehlungsschreiben vorzuweisen haben?«
»Selbstverständlich!«, antwortete Fuchs. »Geht und holt sie!« Der Gerichtsschöffe gab dem Jüngeren der Stadtknechte, einem schlaksigen Kerl mit pockennarbigem Gesicht, einen Wink. »Ihr werdet den Magister begleiten, Brunner!«
Den Uniformierten im Schlepptau stieg Heinrich Fuchs zu seiner Kammer hinauf. Fragen über Fragen wirbelten ihm durch den Kopf und wehten fort, bevor er sie zu fassen bekam. Was übrig blieb, war die drückende Gewissheit, dass er seinen Plan, Nürnberg in den nächsten Tagen zu verlassen, erst einmal vergessen konnte. Gleich als er die Tür zu seiner Kammer aufstieß, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Der Reisesack, den er heute Morgen verschlossen in die Ecke neben dem Fensterchen gestellt hatte, lag mit geöffnetem Zugband auf dem Boden. Die Ledermappe mit seinen Dokumenten, die zuoberst darin gelegen hatte, fand er auf dem Bett. »In meiner Abwesenheit hat jemand meine Sachen durchwühlt!« Aufgebracht drehte er sich nach dem Stadtknecht um. »Niemand anderes als Reinfeld kommt dafür infrage!«
»Besonders unordentlich schaut’s nicht aus, find ich«, sagte Brunner, rückte die weiße Schärpe auf der Brust zurecht und baute sich breitbeinig in der Türfüllung auf. »Fehlt denn was?« Misstrauisch kniff er die Augen zusammen.
Fuchs schnürte die Mappe auf und keuchte, als er seine schlimmste Befürchtung bestätigt fand. »Der Brief des Pirnschen Rates und das Empfehlungsschreiben des Herrn von Carlowitz!« Ambrosius’ Diener musste beide Schreiben an sich gebracht haben, während er mit Tucher und dem Meister im Keller war. Das konnte im Grunde nur bedeuten, dass Reinfeld von Anfang an die Absicht verfolgt hatte, ihm den Mord an seinem Herrn in die Schuhe zu schieben. Hastig machte sich Fuchs daran, den Rest seiner Sachen zu überprüfen. Auch wenn einiges darauf hinwies, konnte er kaum glauben, dass der närrische Reinfeld zu einer Intrige solchen Ausmaßes fähig sein sollte. In diesem Punkt stimmte er mit Tucher völlig überein. »Ansonsten fehlt nichts«, beschied er dem Wachmann, der daraufhin mit den Schultern zuckte und ihn zurück in den Keller eskortierte.
Dort hatte sich mittlerweile auch Dorothea eingefunden, die mit einem nassen Lappen das Blut von Reinfelds Gesicht wusch. Trotz seiner eigenen Misere und der bösartigen Beschuldigungen, die der Kerl gegen ihn vorgebracht hatte, konnte der Magister den jämmerlichen Zustand des Faktotums nicht gänzlich ignorieren, schließlich hatte er einst den Eid des Hippokrates geleistet. »Lasst mich die Nase richten, bevor sie noch mehr anschwillt«, sagte er und ging auf die beiden zu. Die Magd fuhr herum. Sie breitete die Arme aus, wie eine Glucke, die ihre Küken vor dem Habicht zu schützen sucht. »Bleibt weg von ihm, oder ich vergesse mich!«
»Ich bitte Euch!«, hilfesuchend drehte sich Fuchs zu Haller um. »Ich bin Arzt und kann dem Mann helfen!«
»Arzt wollt Ihr also auch noch sein?« Haller hob die Augenbrauen und streckte die Hand aus. »Dann zeigt mir doch erst einmal Eure Papiere!«
»Er sagt, jemand habe sie ihm heimlich aus seiner Kammer gestohlen«, mischte sich Brunner ein.
»Ach so?« Die Augenbrauen wanderten noch ein Stück höher auf die Stirn des Gerichtsschöffen. »Dann sollen wir uns darin wohl auch einzig und allein auf Euer Wort verlassen?«
»Mitnichten!« Fuchs schüttelte den Kopf. »Ihr könnt Professor Schöner fragen. Er kennt mich und hat sowohl den Brief des Rates zu Pirna als auch das Empfehlungsschreiben Christophs von Carlowitz gesehen!« Haller lächelte schmal. »Wenn Ihr den Professor tatsächlich kanntet, solltet Ihr wissen, dass unser Herrgott ihn bereits vor drei Monaten zu sich genommen hat, womit unsere Stadt bedauerlicherweise um einen ihrer größten Gelehrten gebracht wurde.«
Fuchs riss die Augen auf. »Schöner ist tot?«, fragte er verdutzt und kam sich dabei selbst unglaubwürdig vor. Wie konnte es nur sein, dass er davon nichts mitbekommen hatte? Aber in den letzten Monaten hatte er mit Ambrosius von früh bis spät im Keller gehockt und am Mechanismus des Eppelein gearbeitet. Selbst vom Tod Martin Luthers im Februar hatte er erst vor Kurzem erfahren. »Ach, zum Teufel!«, entfuhr es ihm.
»Solche Äußerungen solltet Ihr besser unterlassen, wenn Ihr offiziell zu der Angelegenheit befragt werdet!«, ermahnte ihn Haller streng. Dann drehte er sich nach Tucher um. »Bitte seid so gut und sorgt dafür, dass der Automat ins Zunfthaus geschafft wird, damit die Meister ihn untersuchen können. Es ist wichtig, dass das Gericht erfährt, wie das Ding den Tod von Meister Ambrosius verursachen konnte. Ich veranlasse derweil die Leichenschau.« Als Tucher nickte, wandte sich Haller mit ruhiger Autorität den beiden Stadtknechten zu. »Ihr bringt Reinfeld und den Magister ins Lochgefängnis, wo wir sie weiter befragen werden, sobald uns die Berichte der Zunftmeister und des Stadtarztes vorliegen.«
Panik überfiel Fuchs. Er verstand plötzlich, wie dem Tier, dessen Namen er trug, zumute sein musste, wenn es von einer Hundemeute in die Enge getrieben wurde. Dennoch wehrte er sich nicht, als Brunner ihn am Arm packte, um ihn nach oben zu führen. Reinfeld hingegen begann zu jammern und klammerte sich an Dorothea, die leise auf ihn einredete. »Wirst schon sehen, Bub, am End wird alles gut! Brauchst keine Angst zu haben!« Dabei strich sie ihm beruhigend über den Kopf. Als Reinfeld von ihr abließ und der zweite Stadtknecht das Faktotum beiseitezog, lag ein Ausdruck des Schmerzes auf dem Gesicht der Magd, der Fuchs im ersten Augenblick unangemessen erschien, bis er schlagartig begriff: Die beiden waren Mutter und Sohn!