Am Vorabend der Noahde — dem festlichen Stapellauf der neuen Arche des Noah, der ersten einer ganzen Archen-Flotte — sahen wir das Fürchterliche sich nähern: Bild der Schwemme, die über das Land griff und auch stabilste Gebäude in die Masse von Zerberstendem hineinriß. Bild von der erbarmungslosen Ausuferung, die das Kriechende wie das Aufragende verschieben, auflösen und zerbrechen würde.
Die Flutwelle richtete sich vor uns auf wie eine angriffslustige Kobra in Kilometerbreite. Eine Bestie, die auch das Haus ergreifen würde, das einmal so wachsam am Ufer des dunklen Stroms stand, aus dessen Fenstern ich den Flußlauf der Dinge mit furchtsamem Abstand beobachten, lieben und unterscheiden konnte. Jetzt ein grenzenloses Diluvium, das alle Fundamente aus dem Erdreich heben, Hab und Gut vom Platz spülen wird, unabsehbare Flut, die das Land frißt, das gestern noch fußfest und verläßlich war, Schwemme der Verschwendung, die jede Wohnstatt, jedes Gesicht, jede Seele mit sich reißt. Alles zerteilt und abräumt. Aber wozu die Metapher, die nicht minder großtut als der Gewässer Aufstand, ihr Schäumen, ihr Mutwille und dies Schaugepränge der Zerstörung?
Da Vincis Zeichnungen des diluvio: Die Zerstörung der Welt hat die Gestalt von Spiralen riesiger Wasserwirbel.
Die Grenzen täglich neu bestimmen. Den Dingen dienen, die da übrigblieben. Und noch eine Grenze und noch eine — bis die Schwemme auch sie niederreißt. Das Grenzenziehen selbst am Tag vor der sicheren Sintflut ist ebenso wichtig wie Luthers Pflanzen des Apfelbaums.
Gilgamesch nach der Sintflut:
»Ein Fenster tat ich auf, und Helle fiel / Auf mein Gesicht. Ich schaute … Stille rings / Und alle Menschheit war zu Lehm geworden, / Das Land lag eben wie ein flaches Dach.«
Zurück blieben ungangbare Wege. Die Last nächtlicher Urtiere hinterließ anderthalb Meter tiefe Fußabdrücke im Lehmboden. Doch konnte ich ganz gut auf den inzwischen getrockneten Rändern der Koloß-Spuren gehen. Ich gewöhnte mich daran; es war nicht leicht, das Gleichgewicht zu halten, ich mußte oft verschnaufen. Ein anderer Weg, weiter unten, war vollkommen zerdrückt und wüst. Ein kleines Mädchen kroch von dort zu mir herauf, ich trat ihm eine Steige vor im steifen Schlick, auf deren oberster Stufe ich es erwartete. Die Kleine war verzweifelt, sie fand nicht mehr nach Haus, ringsum war zerrissenes Gehölz, war die ganze Gegend unkenntlich geworden. Ich lehrte sie, auf den erstarrten Schlammrippen zu balancieren.
Diluvium so oder so. Weggewaschen, fortgeschwemmt, was man getan, vermutet, aufgebaut und an sich gezogen hat. Verlorenheit heißt nun das ganze öde Land.
In einer Welt, die dem Überfluß huldigt, warst du, mein Geliebter, das einzige Niezuviel.
Es ist traurig, daß niemand mehr traurig ist. Aber könnte denn einer sagen: Ich bin traurig über meine verlorene Traurigkeit?
Man möge seine Tage vor der Kulisse unlösbarer Probleme verbringen, aber darauf achten, daß sie bloße Kulisse bleibt, flache verschiebbare Stellwand mit nichts dahinter.
Verlust und Lust: mehr an schierem Gegensatz kann Sprache nicht aus derselben Wurzel pressen.
Die Wurzel, die nun der schweigende Mund kaut. Was er von sich gibt: ein braunes Rinnsal, klebriger Saft, der über das mümmelnde Kinn läuft.
Den hohen Bierdeckelturm von Ansicht, Standpunkt, Einstellung, Überzeugung, Haltung und anderem Undurchdachtem brachte ein einziger Puster der Dichterin zum Einsturz.
Neuere Visionen preisen die winzige Herberge. Zur Utopie verklärt man das Versteck. Das Reich, das ist, das war, das sein wird: der Unterschlupf.
Die Stirn im Armwinkel geborgen-gebettet, die Brust gegen die schmale Tischkante gedrückt … Es ist lächerlich, im Palast der Verlassenheit zu residieren und vom Schlupfwinkel zu schwärmen! Überhaupt etwas anderes zu hegen als immer nur das Palastgefühl. Zähle auf nichts und zähle nicht mehr. Alle anderen sind anders als du und haben auch anderes im Sinn.
Was sagen sie denn? Was bringt die alte Tonspur? Rufe und Zungenschnalzen aus der Gruft.
Sollte nicht, wer schreibt, sich wieder in zarten Zwischentönen üben? Dem Durchschein der Dinge, den Übergängen, dem Dunst, dem Schimmer, den verwischten Konturen eine neue Chance geben? Wie würde das sein?
Ist nicht bekannt, daß jede düstere Ansicht der Welt aufgerastert werden kann, bis sie zumindest mausgrau erscheint? Ist nicht bekannt, daß Dichtung nur das ältere Wort für Pixeldichte, für hohe Auflösung beim Sehen und Sagen ist?
Jedoch vergeblich wird man das Feingewirkte zum Vorschein bringen, wenn allgemein das Wahrnehmen von Menschen sich mit den gröbsten Umrissen begnügt. Vom detailreichen Bild zum detailreichen Gefühl führt kein Weg in der Zeit.
Der Rosentrichter, Schlund, Kelch, Abgrund — die Blume kennt mein Riechhirn, dem sie ihren Duft spendet, während ich bloß einen Begriff von ihm habe.
Solange ich in der Schrift bin, würde ich mich nicht erkennen im Spiegel. In der Schrift befindet man sich in einem Alter, das kein Spiegel zeigen kann.
Du faßt dir ein Herz und drückst die schwerste Klinke deines Lebens nieder.
Kaum ist die alte Tür um einen Spalt geöffnet, da stürzt ein Schwall von Blut in dein Gesicht …
So ist Erinnerung. Wußtest du das?
Und es wurde ihr alles zu Kram. Eine, die sucht und sucht unter ihrem Kram und aufräumend alles aufs neue verkramt und schließlich mit schaufelnden Händen sich selbst verkramt unter dem Kram.
Was, wenn ich würde wie die Schwester, die heimlich trinkt? Nicht wie andere Frauen manchmal, die leicht besäuselt, beschwipst, bedudelt oder sonst irgendwie gesellschaftsfähig betrunken sind, sondern eben wie Sonia, die dann gurgelnd Zusammenhangloses ausstößt, dessen Bedeutung sie selbst nicht mehr kontrollieren kann. Jedesmal wiederholt sie denselben Satz: »Das ist so in Deutschland!« Wenn sich jemand über einen nicht funktionierenden Fahrkartenautomaten beschwert: »Das ist so in Deutschland!« Genauso, wenn bloß ein dünner Regen fällt. Und schließlich: »Das ist so in Deutschland!« Nämlich daß man die Unberührbaren — und das sind nicht die Elenden, Kastenlosen, sondern die große Vedette, die heilige Schauspielerin, wie sie eine war — achtlos berührt, sie betätschelt und krault wie einen Schoßhund. Sobald sie jemand in der U-Bahn erkannte (seinerzeit), sich neben sie setzte und sich nicht genierte, ihr auf die Schulter zu klopfen. »Das ist so in Deutschland: Jeder erhöhte Mensch ist bloß zum Betatschen da.«
Über Ohrstöpsel und Mikroknopf telefoniert sie mit ihrem Unterirdischen. Intimgeflüster, das ein paar unerfüllbare Wünsche aufsagt. »Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt«, brüllt sie das Penthesilea-Zitat, Mund am Gully, unter die Erde brüllt sie’s. Anthrazitfarbene Lederjacke, Falten-Rock, der kaum die dicken Beine bedeckt.
»Ich könnte es so einrichten, daß wir uns nächsten Samstag sehen.« Warten auf Antwort aus der Kanalisation.
Klar, daß man ihr aufhilft, die ausgestreckte Hand reicht, weil sie wieder mal in eine üble Klemme rutschte und darin festsitzt, ohne Hilfe sich nicht befreien kann.
Belustigt, mit spöttischem O! bei glattgezogener Stirnhaut und einem schlüpfrigen Schalk im Auge erblickt sie bei allem, was er sagt, eines Mannes männliche Schwäche. Gerade eine so bedauerliche Frau wie meine Schwester versteckt sich gern hinter der dünnen Maske sexueller Überheblichkeit. Gleichzeitig wird der runde O!-Mund unzweideutig ein Zeichen für »mein armer leerer Schoß«.
Gustav, der Entsetzte, fragt mich, mein Bruder: »Weshalb werden die guten und festen Orte der Erde immer die Zwischenstätte genannt? Wozwischen denn liegen sie?« Zitternd lugt er über den Hochkragen seiner Lederjacke und bekommt von mir zur Antwort: »Zwischen Leere und Fülle! Zwischen ausgeräumten Räumen und überfüllten Plätzen.« Aber die Begriffe ziehen an ihm gegeneinander vorbei wie Frachtschiffe auf dem Rhein, ergänzen sich nicht, berühren sich nicht, sind nur täglicher Verkehr.
Und schon wird der Entsetzte von der Gabel des luziferischen End-Entsorgers erwischt. Mann mit Schiebermütze, Beine und Arme noch in der Scheren-Stellung des panischen Davoneilens, bei welchem er aufgegabelt wurde.
»So hatte sich auch das erübrigt«, hätte er dazu gesagt, wäre ihm ein letztes Wort vergönnt gewesen.
Meine Elissa besteht aus zwei Teilen, die Schwester ist nicht enthalten. Zwei Teile Ich, die sich gegenseitig abschätzig beurteilen und kleinmachen und unentwegt den Beweis führen, daß der eine ohne den anderen eine verschwindende Winzigkeit darstelle. Der eine heißt Gedächtnislein, ein Häufchen Elend, weil es vor lauter Entsinnen keinen Körper mehr spürt. Und der andere ist das Niemandchen, ebenfalls ein Häuflein Elend, das nur wenig Gedächtnis besitzt, dafür den rebellischen Rest von einem Leib.
N: Memorina! Gedächtnislein. Bist du wach?
M:Nemorina. Süße kleine Niemandin. Hast du gerufen?
N: Es ist unser Schönstes, durch Schlüssellöcher ein und aus zu fliegen.
M: Hast du dir das genau überlegt? Du bleibst bestimmt noch mal hängen im Schlüsselloch.
N: Wo wir doch da und dort gemeinsam ein und aus gingen damals dann und wann.
M: Ohne mich wärst du eine unter Millionen Niemandinnen. Mit mir kannst du bald ihre Parteiführerin sein.
Ich, die um Glauben ringende, kämpfende Frau. Er aber der voreilige Skeptiker; mit gereizter Vernunft jedes Wunder, auch das zwischen uns beiden, zersetzend. Und doch: Welch eine Leidenschaft bewegt nicht auch dies unermeßliche Begreifen!
Und vom Unermeßlichen lebt doch der Geist wie die Seele des Menschen. Vom Unermeßlichen getrieben und getreten, erhoben und zerschmissen zu werden, dem hat sich der Lebendige, der wahrhaft Lebendige hinzugeben. Ob im Glauben, ob im Wissen, ob im Dunklen, ob im Hellen … Beim Lieben aber vor allem, immer gilt: Friß das Leben, bevor es dich auffrißt.
Thekla selbst predigte nicht, doch sie wälzte sich auf der Erdstelle, die des Paulus Füße berührten, als er predigte.
In der Tür steht, rutscht nieder am Rahmen, kauert auf der Schwelle sie, die aschblonden Locken gefettet, kommt nicht mehr hoch, preßt den Rücken gegen den Pfosten, im leichten Mantel, im Dauerselbstgespräch. Bis der Liebste mit zwei Freunden durch die Tür tritt, über ihre Beine steigt, während sie, den Ton des Selbstgesprächs nicht überwindend, vor sich hin spricht: »Flüchtling, Flüchtling, sieh hin, da hockt dein Hochzeitsmädchen!«
Der Liebste bemerkt sie nur mit einem Seitenblick, duldet sie im Durcheinander seiner Gäste, sie stört ja nicht. Sie bleibt auf der Schwelle, redet flackernd weiter, ummantelt vom Selbstgespräch, ohne die Chance, jemals wieder einen Menschen ansprechen zu können. Die offene Anrede, das nach außen gerichtete Wort — ob sie sich je wieder befreien kann von der ehernen Eintönigkeit des Vorsichhinsprechens?
»Später erzähle ich alles«, sagte die Geliebte des Malers, als jemand sie in Cannes ausfindig machte und nach ihrer Geschichte mit dem Berühmten fragte. Sie entwich den Biographen — entwich ihnen für immer. Niemals hat sie die Geschichte erzählt.
Auch ein Höhlengleichnis …
Zwei vollkommen Verliebte suchten die vollkommene Verborgenheit in einer Felshöhle, zu der nur ein schmaler Spalt Zutritt gewährte. Durch ihn zwängten sie sich hinaus und hinein, solange sie ihr Versteck mit Vorräten füllten. In der Grotte ihrer Liebe wurden sie bald aber so unförmig, daß keiner von beiden mehr durch den Felsspalt paßte, der zurückführte in die Welt.
Je mehr sie aßen, um so gieriger liebten sie. Bis sie eines Tages so rund wie zwei Kugeln waren, die nur noch aufeinanderprallten, ohne sich vereinigen zu können. Die Vorräte gingen zur Neige und ihr Lieben auch. Tag für Tag magerten sie nun und glichen ihren Körper ab mit der Öffnung des Höhleneingangs. Schließlich gelang es dem Mann als erstem, das vernutzte Liebesnest zu verlassen. Noch eine Woche magerte die Frau im Dunkeln allein. Dann schlüpfte auch sie durch den Spalt. Draußen suchten sich die beiden vergebens und sind sich nie wieder begegnet.