Fest der fliederweißen Blässe am Sonntag. Weiß auf dem Weg zur blütenreinen Negation, schon beinahe ein Nichts, feiner als in alle Winde zerstreut, doch aufwärts wirbelnd … Überbleibsel, Überlebsel, Zurückgelassenes, Übriggebliebenes, nachdem alle Liebe zerstreut ist, nachdem alle Sprache in die Zerstreuung überging.
Vielleicht nicht ganz irdisch die Musik, zu der wir unwillkürlich uns bewegen, wechselnde Figuren bilden, als ob unsere Schritte allesamt zu einem Tanz gehörten, dessen Kür und Formen wir nicht absehen können. Oft sind es Andeutungen nur, beim Gehen oder Schlafen; das Gefühl, von fernen Rhythmen leicht bewegt zu werden an Schulter, Hüfte, Knie, von gedämpften, einflußreichen Klängen, die bestimmend oder auch umstimmend auf uns wirken.
Es genügt die eine schnelle Kehre, und zwei, die sich kaum kannten, stehen plötzlich unausweichlich voreinander. So reif und frisch, daß sie am liebsten einer in des anderen Wange bissen. Ihre glatten Stirnen nutzen unterdessen geschäftstüchtige Luftgeister für ihre billigen Werbespots.
Sie, die die Schwelle als erste überschritt, hinter der die nahe Umgebung immer näher rückte. Übermächtige Vergrößerung, jede Einzelheit monströs und alles Tun gedehnt in zäher Verzögerung. Nähe überall … die würgt das Auge.
Was wir sehen, ist durch Nähe versengt.
Um jeden Preis: das Vordere, das Zudringliche abweisen. Was kann ich mir entfernen, was mir unerreichbar machen jeden Tag?
Selbst wenn du dich am Ende, nachdem alles getan, gedacht, erlitten und verstanden ist, wieder als ein Kind entpuppst, die Larve der Erfahrungen abstreifst, diesen Nährhäuten von Schläue, Schmerzen, Wissen, Skepsis und Bestürzung entschlüpfst, bleibst du Neugeborene roh und hilflos, wund und ungewiegt in deinen Hüllen liegen.
Manch andere aber … baumelnd, baumelnd mit aneinanderklöppelnden Beinen. Das sind unter den Elenden die vom Erdboden Gehobenen, denen geholfen ward. Man hat ihnen unter die Arme gegriffen! Man hat sie zum Lüften hinausgehängt, nebeneinander, sie flattern wie Tücher an der Leine. Grund! Grund! Einmal wieder den Boden berühren, einmal wieder festen Boden unter den Füßen haben! Ach, viel größer der Wunsch, die Erde zu berühren, als noch höher zu steigen — oder gar zu fliegen.
Innovatives soll es nun auch fürs Elend geben. Es heißt: ›Wir werden in eine ganz neue Dimension der Verzweiflung vorstoßen.‹
»Was aber überträfe die Verzweiflung des gequälten Philoktetes?«, fragte der Migrant. Verstoßen, ausgesetzt von seinen Mitstreitern in Troja wegen des unerträglichen Gestanks seiner Wunde (nach einem Schlangenbiß). Seine einzige Inbrunst noch: in den Vulkan geschmissen zu werden. Wenn ihn die unheilbare Wunde anfällt wie ein Feuer, das nur der allesverschlingende Kraterschlund wird tilgen können. Brüllen. Stinken. Dulden. Hinken. Fallen. Aber mit Arm und Bogen sich die Vögel aus der Luft holen zur Nahrung. Ruhloses Männergeschrei. Und wo Liebe, da nur zum Vater in der fernen Heimat.
Auf Höhenwegen immer allein. Der fehlende Eine trieb sie ins Gebirge und im Gebirge immer steiler in die Höhe. Nicht irgendeinen Rest verloderter Dinge sucht sie, sondern das Hirn des Feuers, das sich erinnert: Jede Schuppe der grauen Asche weiß noch ein goldener Funke gewesen zu sein.
Sein Gesicht durchwandert das meine. Ich fühle mich er, wenn ich lächle oder maule.
Eine Folge unserer blasphemischen Zweihaftigkeit. Unser Götzendienst am Leib.
Die Abgeschlagene rappelt sich wieder. Besitzt nur Traum und Trippelschritte. Sie muß dahin, wo’s aufwühlend zugeht. Täler und Schluchten durchquert sie, steigt auf schwindelnde Höhen, in einer schroffen Klamm lernt sie das Rufen aus tiefster Not.
Und die auswärts Schreitende wird schöner. Ein Rücken, eine aufrechte Gestalt, an der, um sie immer deutlicher werden zu lassen, das Licht schnitzt oder spachtelt. Kuhlen und Kerben, das Weggenommene formt die Figur.
Unterwegs trifft sie auf einen Wurzelmesser, der an alten Bäumen die langen Ausleger entblößt. Er schrubbt und säubert sie und prüft dann die »Wasserleitung« mit einem kleinen spitzen Hydrometer.
»Messen messen messen …« So hört man ihn an jeder Esche murmeln.
Ohne aufzublicken jetzt, spricht er zu Elissa hinauf:
»Was ist mit den Wasserläufen dieser Wurzeln? Was mit der Kraft des Bodens überhaupt, wenn er nur die allerschwächsten Luschen trägt?«
Darauf Elissa: »Du hast mich aufgehalten. Ich tat gerade einen wetterwendenden Gang. Zehn dicke Regenwolken habe ich zur Umkehr bewegt. Illhoven und ich sind wohl die letzten, die das noch können.«
»Illhoven? Ein Unbekannter?«, fragte der Wurzelmesser.
Elissa: »Für wen spreche ich noch, die ich hier so weit außen stehe und stehe in vollem Rüstzeug der Davongehenden? Abseits hat man den Mund zu halten. Vorwärts muß man ihn aufreißen.«
Der Wurzelmesser: »Es ist mir ein Schrecken, daß du mich anstarrst, bis mir der eigene Name entfällt. Jedesmal, wenn du mich so ansiehst, schießt du ein Nennwort, einen Namen, einen Begriff in mir ab. Dein Blick trifft auf ein Wort, auf das ich nicht komme. Dein Blick ist böse Erwartung: Sag es mir! Heischt er. Na, sag’s doch! — und feuert auf den Namen, der mir auf den Lippen liegt … Meine Zahlen rutschen von den Tabellen. Meine Zahlen, die Meßdaten, haften nicht mehr am Blatt. Sie rieseln herunter und bilden ein heilloses Gewimmel. Es ist nichts gewesen. Und das gilt für alles und jedes, das ich gemessen und ermittelt habe. Wie soll ich neu beginnen? So spät und mit leeren Händen.«
Elissa: »Die leeren Hände hattest du immer. Das nächste Mal, wenn mich der Schleier des Vorbeikommens bedeckt, des Unbleibens, wirst du, falls es dir für kurz gelingt, mich aufzuhalten, erfahren, wer ich vor dir bin, ein Mann oder eine Frau.«
»Quelle promesse de bonheur. Welch Glücksversprechen!«, murmelte der Messende und stach erneut sein Hydrometer in die nackte Wurzel.
Sie hob im Boden ein Viereck aus, drunten kauerte ihr Ebenbild. Zwei, die sich was zu erzählen haben! Die unten sagte: »Ich bin die, die du sein wirst.« Die oben sagte: »Ich bin die, die du warst.«
Nur der Totenschädel blickt. Die anderen äugen.
Gute Frau, willst du denn Minute für Minute die Kürze des Lebens beklagen!?
Stöhnen unter der geringen Dauer, die dir auf Erden vergönnt ist! Sieh in die Nacht hinauf, leih dir Zeit vom Firmament. Jeder ergreife zu seiner Zeit einen Zipfel vom Immerwährenden. Töpfe voll Dauer sind überall an deinen Wegen aufgestellt — doch du siehst einfühlsam von aller Schöpfung nur die Fliege an.
Daß mich die Schönheit des Mannes verbrannte, da ich schon leicht wie Distelflaum war, der im Herbst über die Weide weht.
Hin und wieder verließ ihn nebenbei ein Wort, eine ausweichende Bemerkung, das Gegenteil einer zutreffenden, eine ungefähre eher, die einen Tatbestand bloß streifte oder leicht an ihm vorbeistreifte. Nicht viel anders erging es mir.
Es ist ja das Treffenwollen, was einem manchmal die Sprache verleidet. Das unbedingte Geschicktseinwollen bei all dem gottgegebenen Ungeschick, das in unseren Worten herrscht und über sie. Das unbedingte Treffenwollen, das einen zuweilen auch langweilt und daran hindert, das Verschwommene im Wesen der Dinge zu erfassen.
Ich sah auf ihrem Sessel meine weiße Mutter, längst verblichen, im Traum eine Frau in mittleren Jahren. Ich sah eine untreue Frau, Gattin, Liebhaberin, daneben ihren schmalen hilfsbereiten Mann mit der kleinen Gertrud an der Hand.
Die Mutter: Wie leicht er lachte! Wie schnell er lustig war.
Das Töchterchen (ich): Von wem redet Mama?
Mein Vater: Von einem Menschen, der ihr einmal viel bedeutet hat.