New York City,
25. Januar bis 13. Februar 1947

SIMONE

Seit ihrer Ankunft in der Neuen Welt war sie eine Gehetzte, ein Derwisch, der sich unaufhörlich durch die Straßen von New York City schraubte. Sie wollte ihren Aufenthalt auskosten. Wer konnte schon sagen, ob sie je wiederkehren würde?

Wie wehmütig hatte sie sich vor zwei Jahren für Sartre gefreut, als er in die Vereinigten Staaten eingeladen worden war, um über die amerikanischen Kriegsanstrengungen zu berichten! Eigentlich hatten sie sich erträumt, diese Reise gemeinsam zu machen. So skeptisch man Amerika und seinen politischen Entwicklungen gegenüber auch sein musste, so war es doch das Land der Befreier, und Sartre und sie liebten amerikanische Romane und Kinofilme ebenso wie Jazz, Blues und afroamerikanische Spirituals. Dem Blick von außen nach schien das Leben hier, für Männer wie für Frauen, insgesamt leichter und freier zu sein. Nun würde sie die Gelegenheit bekommen, Mythos und Wahrheit voneinander zu scheiden.

Obwohl sie in den letzten Jahren gearbeitet hatte, bis ihr die Hände zitterten und sie vor Übermüdung auf Sartres Aufputschmittel zurückgreifen musste, obwohl sie sich seit ihrem existenzialistischen Roman Das Blut der anderen wachsender Bekanntheit erfreute und schon ein Jahr darauf ihr nächstes Buch erschienen war, kam es ihr immer noch beinahe wie ein Wunder vor, dass Philippe Soupault für sie eine Vortragsreise hatte organisieren können. Seit seiner Emigration nach Amerika arbeitete er überwiegend als Journalist und Dozent und hatte beste Kontakte zu den Universitäten. Gut vier Monate lang würde sie nun also in verschiedenen Staaten über die moralischen Herausforderungen der Nachkriegsautoren referieren, öde, aber nötige Geschäftstermine wahrnehmen, Artikel schreiben, Interviews geben und ganz nebenbei, so hatte sie es sich vorgenommen, für ihren geplanten Essay zur Rolle der Frau in der Gesellschaft recherchieren. Mit Vorstudien hatte sie schon im letzten Jahr begonnen, aber der Amerikabesuch würde sicher eine interessante Bereicherung abgeben. Womöglich war die Amerikanerin ja eine andere als die gemeine Europäerin. Die Resonanz auf ihren ersten Vortrag am Vassar College für Frauen legte diese Vermutung zumindest nahe.

In ihrer freien Zeit würde sie ausgewanderte Freunde treffen, so viele Eindrücke wie möglich sammeln und, das stand fest, dabei nicht bloß als brave Touristin genau die Sehenswürdigkeiten abklappern, an die ein jeder zuerst dachte, sondern sich die Städte wirklich zu eigen machen.

Wenn sie in den ersten Tagen durch die Straßen ging, über den Broadway, den Times Square, die 42nd Street, dann ging sie ohne Ziel, und in ihren Blicken lag noch kein Erinnern. Sie glaubte sich selbst nicht, wenn sie dann und wann zu sich sagte: Das hier ist New York! Sie war nicht mehr in Paris, aber sie war auch noch nicht hier. Sie lebte in einer geborgten Gegenwart, in der sie nur die Berichte Sartres wiedererkannte.

Ihre Entdeckungsreisen machte sie im Taxi, auf dem Oberdeck der Busse, manchmal mit der New York Subway, am liebsten aber, auch wenn ihre Füße sie abends manisch schimpften, per pedes und, zur Verblüffung ihrer französischen Gastgeber, ob es nun emigrierte Freunde oder Offizielle waren, durchaus gern allein. Stundenlang streifte sie auch durch Gegenden, von denen es hieß, man könne zwar mit dem Auto hindurchfahren, dürfe aber keinesfalls zu Fuß dort unterwegs sein. Und wenn man schon unvernünftig sein wolle, dann bleibe man wenigstens auf den großen Avenuen und behalte unbedingt die nächste U-Bahn-Station im Auge, um sich bei Gefahr hineinflüchten zu können.

»Man«, das war sie selbst. Doch die sorgenvollen Ratschläge ihrer Gastgeber waren schon ad absurdum geführt, kaum dass sie Harlem betrat. Es war kein ausgehungertes Armenviertel, in dem man ihr zu Recht an den Kragen hätte wollen können, sondern das Abbild einer ganzen Gesellschaft im Kleinen, nur irgendwie gelöster. Die eigentlichen Probleme lagen anderswo.

Den vielleicht schönsten Spaziergang ihres bisherigen Lebens machte sie am Ufer des East River, von der Queensboro Bridge zur Brooklyn Bridge. Sich als Fußgängerin zurechtzufinden, war nicht leicht, aber die Herausforderung machte es umso schöner. Das Wetter war mild, am Ufer saßen Kinder und ausnahmslos freundliche Leute, ein sanfter Wind wehte den Duft von Meer und Gewürzen herüber. Lauter Postkartenmomente, und beim Anblick der Battery, des Parks an der Südspitze Manhattans, durch das Gitterwerk der Brooklyn Bridge im von Möwen gekreuzten Sonnenuntergang hätte sie tatsächlich weinen mögen.

Es war der Besuch dieser Orte, der Museen, Restaurants und Bars, allein, mit ihren Gastgebern und vor allem mit Einheimischen, der Orientierungspunkte setzte und sie endlich in der Neuen Welt ankommen ließ. Außerdem tat es wohl, hier nicht erkannt zu werden, eine vergessene Freiheit, die sie sehr genoss.

Aber wirklich zu eigen machte man sich etwas vor allem in den Details und dort, wo Erwartung und Gewohnheit, die man mit an den neuen Ort gebracht hatte, gebrochen wurden. Im Friseursalon etwa, wo sie dem Mädchen die Haarnadeln nicht reichen musste, da sie an einem Magneten klebten, den es ums Handgelenk trug. Ein Hauch von Zauberei wehte durch den Laden, als sie nach dem Trocknen der Haare mit dem Magneten darüberfuhr und die Nadeln so wieder entfernte. Die Details steckten in einem Orangensaft, getrunken in der Bude eines Schuhputzers, in dem Irrtum, in einen Express-Zug statt in einen Local gestiegen zu sein, in der Art, wie man hier einen Kaffee bestellte und ein Sandwich aß. New York war, die Magie des Nickels zu begreifen, sich über Stehpartys zu wundern und langsam Gefallen an Scotch zu finden, weil er hier gar nicht wie Jodtinktur schmeckte. Und es war der Schmutz, den sie sich abends vom Gesicht waschen musste, weil mitten in den Vierteln der Abfall in Metallcontainern verbrannt wurde.

In den zwei Wochen in New York durchlief sie einen Prozess, der einer Verzauberung glich, und sie nahm sich fest vor, dies in jeder neuen Stadt zu wiederholen.

Etwas, das sich nicht wiederholen würde, jedoch auch dazu beitrug, dass die Pariser Schwere der letzten Monate endlich von ihr abfiel, war ihr Treffen mit Dolores Vanetti, der Journalistin und Schauspielerin, in die Sartre sich während seiner Amerikareise unsterblich verliebt hatte. Seine Vernarrtheit hatte ihr Angst gemacht, denn auch wenn Liebschaften ein Bestandteil ihres 1929 geschlossenen Paktes waren und ihre Beziehung sich ohnehin seit Jahren überwiegend nur noch auf intellektueller Ebene abspielte, war es nie so ernst gewesen wie jetzt. Sartre war noch immer hingerissen, Dolores wollte ihren Mann verlassen und spielte vermutlich schon mit dem Gedanken, ganz nach Paris zu ziehen. Und dass Sartre die erste Ausgabe von Les Temps Modernes Dolores statt ihr widmete, obwohl sie die ganze Arbeit damit gehabt hatte, war ihr wie ein Verrat vorgekommen. Sie hatte versucht, ihren Schmerz darüber zu verstecken, doch es war unmöglich, etwas vor den Argusaugen von la petite famille, dem engsten Kreis der Freunde, von denen sie viele schon seit Studienzeiten begleiteten, zu verbergen.

Es war nicht zu leugnen: Sartre und sie hatten sich durch lange räumliche Trennungen und durch ihrer beider wachsende Berühmtheit, die das gemeinsame Arbeiten oder Amüsieren in Cafés verunmöglicht hatten, voneinander entfremdet. Sie waren verletzbar geworden. Gerade deshalb war diese Frau ein Schreckgespenst, und darum musste sie die Gelegenheit nutzen, ihrer ansichtig zu werden, bevor Dolores nach Paris aufbrach, um die Zeit ihrer Abwesenheit mit Sartre zu verbringen.

Sie trafen sich auf einen Drink im Sherry-Netherland, und das Phantom stellte sich als eine winzige Schönheit mit Milchkaffeehaut heraus, die des Treffens wegen mindestens ebenso aufgeregt war wie sie selbst. Sie bemühten sich beide nach Kräften um eine wohlwollende Haltung; was darunterlag, blieb, zumindest was ihr Gegenüber anging, offen. Aber am Ende des Abends war sie sich sicher: Auch diese Liebschaft Sartres würde wie alle anderen vorübergehen. Während die Realität New Yorks sie hatte bezaubern können, war Dolores von Angesicht zu Angesicht entzaubert worden.

Zwei Wochen nach ihrer Ankunft in der Neuen Welt gehörte die Stadt nicht mehr Sartre, sondern Simone allein. Zufrieden und voller Vorfreude machte sie sich auf den Weg, den Rest Amerikas zu entdecken.