Chicago,
21. Februar 1947

NELSON

Wann immer ihn jemand fragte, was das Beste nach der Rückkehr aus dem Krieg gewesen sei, antwortete er, es sei die Tatsache, einen Ort für sich allein zu haben. Das stimmte, war aber nicht die ganze Wahrheit. Die Kirsche auf der Torte ließ er jedes Mal weg.

In seinem dritten Jahr in der Armee war der Wunsch nach Privatsphäre zu einer fixen Idee geworden. Irgendwann hatte es damit begonnen, dass er, wenn sein Konvoi haltmachte, um ein weiteres Lazarett zu errichten, hoffte, sie würden eine Weile bleiben. Natürlich blieben sie nie lange. Wenn ich wieder daheim bin, hatte er sich bei jeder Wache gesagt, werde ich für den Rest meines Lebens an einem einzigen Ort sein. Eine einzige Sache tun. Kein Vagabundieren mehr. Keine Jobs. Schreiben.

In Mönchengladbach war es besonders schlimm gewesen. Sie hatten ein katholisches Krankenhaus eingenommen, das aussah wie ein größenwahnsinniges Lebkuchenhaus. St. Franziskus, den Namen würde er nicht vergessen, denn verdammt noch mal, es war herrlich dort gewesen. Abgesehen von den Zwölfstundenschichten, während derer sie längst brandige Wunden verbanden, Diphterie-Läsionen bei der Ausbreitung zusahen, das Husten und Würgen derer anhörten, die sich die entzündete Lunge aus dem Leib kotzten, und immer neue Verwundete aufnahmen, deren größtes Pech es war, dass ihr Brustkorb sich immer noch hob und senkte, hob und senkte.

Aber all das war normal und überall gleich gewesen, alles andere war im St. Franziskus anders. Es gab eine große Küche mit eigener Backstube, es gab frische Eier, und es gab Frauen. Nonnen, fünfzig an der Zahl, aber dennoch: Frauen. Schon ihr Anblick änderte alles. In ihrer freien Zeit spielten die Männer auf dem Rasen vor dem Krankenhaus Softball, nachts tauschten sie in den umliegenden Dörfern Kaffee und Zigaretten gegen Wein und ließen die Würfel rollen.

Nein, keiner von ihnen wollte dort weg, aber nach zweiundvierzig Tagen war der Spaß vorbei, und es ging weiter nach Düsseldorf. Die Kesselschlacht an der Ruhr wurde die einzige Gelegenheit, bei der sein Sanitätstrupp in die Nähe von Artilleriefeuer geriet. Zuvor hatte er sich nur darum sorgen müssen, von dem Schuss eines nervösen Kameraden getroffen zu werden.

Aber es war der Morgen des Aufbruchs in Mönchengladbach, der sich tiefer als der Beschuss in das Gedächtnis seines Körpers gebohrt hatte. Beim Packen war er erfüllt gewesen von der gleichen hohlen Traurigkeit, mit der er als Junge am Morgen des ersten Schultages nach den Sommerferien auf dem Klo gesessen und sich die letzten Wochen zurückgewünscht hatte.

Und nun, seit gut einem Jahr: zwei Zimmer im polnischen Viertel, damals grundehrlich annonciert. Keine Heizung, keine Dusche, kein Licht. Aber eine Küche, ein Schlafzimmer und eine Toilette mit Handwaschbecken. Der reine Luxus. Zum Heizen und Kochen hatte er sich einen Ölofen besorgt, Licht gab es inzwischen auch, und duschen konnte er auswärts.

Sonst: ein Tisch unter dem Fenster, ein Bett, ein Pult an der Wand, eine Schreibmaschine darauf, eine Spüle mit Wasserhahn und ein sich stetig füllendes Bücherregal. Eigene Entscheidungen zu treffen über alles, was diese kleine Welt anging, war immer noch ein Privileg. Und das Beste daran, die Kirsche, die er allen vorenthielt, weil sie ihn nicht für einen Waschlappen halten sollten: das langsame Aufwachen am Morgen. Kein Weckruf mehr, kein gleichzeitig aus dem Traum und aus dem Bett fallen, kein Salutieren. Kein Appell und kein: »Zack, zack!«

Nur ein langsames, stetiges Auftauchen, bis Körper und Geist auf gleicher Höhe waren, mitunter ein kurzes Wiederwegdriften in die Untiefen eines zu verführerischen Traums mit dem Versuch, ihn weiterzuträumen, was ihm aber selten gelang. Dann das Aufschlagen der Augen, das Strecken der Glieder unter der warmen Decke, noch eine Weile daliegen, den Blick durch das Zimmer gleiten lassen, als wäre es das erste Mal, die Gedanken laufen lassen, bis sie sich zu einem konkreten Vorhaben formten, das den Entschluss aufzustehen rechtfertigte.

Meist stand er früh auf, heute allerdings schwang er seine Beine erst gegen Mittag aus dem Bett. Leichter Schwindel erinnerte ihn daran, dass es spät geworden war in der Polonia Bar. Er hatte seinen Kumpel Wójcik trösten müssen, wobei, vor allem musste er ihm zuhören, Satz für Satz und Schnaps für Schnaps, denn es war eine lange Geschichte, die er zu erzählen hatte.

Der arme Tropf war mit seinem Wochenlohn nach Hause gekommen, stolz, denn er hatte zum ersten Mal seit Langem erfolgreich einen Umweg genommen, der an keinem Spielsaal vorbeiführte. Und dann war seine Frau nicht da gewesen, nicht einmal eine Nachricht hatte sie ihm hinterlassen, und Essen stand auch keins im Ofen. Die Enttäuschung darüber führte Wójcik und sein Geld gleich wieder auf den üblichen Weg, wenn auch aus entgegengesetzter Richtung, was sich fremd anfühlte und ihn seltsam im Gehirn kitzelte. Allerdings brachte es ihm auch das Glück einer unglaublichen Strähne beim Würfeln, wie er sie schon lange nicht mehr oder eigentlich noch nie gehabt hatte. Noch weniger zu glauben war die Tatsache, dass er aufhörte, bevor sie vorbei war. Beinahe rannte er nach Hause, nun noch viel stolzer als vor ein paar Stunden, aber es brannte immer noch kein Licht, und die Laken waren immer noch auf die gleiche Weise zerwühlt wie am Morgen.

»Immer wenn der Lohn weg war, ist das gottverdammte Weib da gewesen«, hatte Wójcik ihm ins Ohr geheult. »Und heute musses nu ausgerechnet andersrum sein. Wasn das fürn Scheiß, hä?«

Die Frage war selbstverständlich eine rhetorische gewesen, er hatte seine Geschichte weitererzählt, ohne eine Antwort abzuwarten, hatte nur vorher noch einige Salzbrezeln aus der Schale gefischt und sie sich in den Mund gestopft.

Diesmal war es Trotz gewesen, der ihn zurück in den Spielsaal trieb, und der machte ihn genau so lange leichtsinnig, bis zuerst das Portemonnaie und dann die Lohntüte leer war. Klar wie Kloßbrühe, dass er jetzt nicht nach Hause gehen konnte, denn nun saß seine Alte ja garantiert wartend und mit offener Hand auf dem Sofa. Also war er hergekommen, um das Geld, das er nicht mehr hatte, zu versaufen.

Ein paar weitere Schnäpse später war Wójcik plötzlich still geworden, hatte sicher zwei Minuten lang schwankend dagestanden und sich dann über den Tresen gebeugt und den Wirt zu sich gewunken. »Dürft ich ma was sagn?«, fragte er.

Pawel, der zu gutmütig war, um zu sehen, was kommen sollte, trat heran und beugte sich, das Ohr Wójcik zugewandt, zu ihm. »Schieß los, mein Freund.«

»Ich würd gern was sagen, hab ich gesagt.«

»Klar doch, sag’s einfach, leg los!«

»Aber was soll ichn sagen?«

Pawel ließ den Kiefer hängen und wollte sich eben wieder aufrichten, da packte Wójcik ihn am Kragen. »Scheiße noch mal, was denkstn dir eigentlich, du Saukerl, dassde mir befehlen willst, dass ich was zu sagen hab?«

Damit war der Moment zum Einschreiten gekommen, auf den Nelson gewartet hatte, denn der Ausbruch hatte schon die ganze Zeit über ihren Köpfen geschwebt und wie ein Habicht auf den geeigneten Augenblick zum Herabstoßen gewartet. Er packte Wójcik seinerseits beim Kragen und drängte sich zwischen ihn und den Tresen, was dazu führte, dass Pawels Hals seine Freiheit wiederbekam.

»Bis morgen«, verabschiedete Nelson sich mit einem entschuldigenden Blick beim Wirt, der nur abwinkte, und zog den immer noch blökenden Wójcik mit sich.

Draußen hieb ihnen die Kälte eine Gerade mit der Faust mitten ins Gesicht.

»Mensch, Wójcik, du hast sie doch nicht alle«, sagte er, nachdem er den Schlag verdaut hatte. »Lässt es an dem aus, der am wenigsten dafür kann und dich auch noch hat anschreiben lassen.«

Aber Wójcik war plötzlich nicht mehr in der Lage gewesen zu antworten, sondern schwer damit beschäftigt, sich auf den Beinen zu halten. Was Wunder. Also hatte er ihn gestützt und bis nach Hause gebracht. Die Wohnung hatte im Dunkeln gelegen, doch als Wójcik endlich das Schlüsselloch traf, war im Schlafzimmer umgehend das Licht angegangen. Armer Tropf, oh ja.

Auf dem Nachhauseweg hatte er darüber nachgedacht, dass er die Begebenheit des Abends eigentlich niederschreiben müsste, stünde nicht schon eine ganz ähnliche bereits in Im Neon-Dschungel. Bei seinen Recherchen hatte er die Bewohner des polnischen Viertels ausgequetscht wie Zitronen, die Stapel der Notizen und Protokolle waren meterhoch. Es gab keine neuen Geschichten mehr in der Polonia Bar.

Trotzdem war das Schreiben der Anlass, der ihn heute aufstehen ließ. Er hatte sich selbst gegenüber Wort gehalten im letzten Jahr. Der Band mit den Kurzgeschichten war gerade erschienen, und die Rohfassung seines neuen Romans stand kurz vor dem Abschluss. Die Kargheit dieser beiden Zimmer in der West Wabansia Avenue gab eine perfekte Schreibklause ab, das konnte man wohl sagen. Er war gut vorangekommen, auch wenn von diesem ersten Entwurf am Ende nicht viel übrig bleiben würde.

Nachdem er sich ein wenig Wasser ins Gesicht geworfen hatte, brühte er sich bei der ersten Zigarette des Tages einen Kaffee auf und löste dem getigerten Kater, dem er in den kälteklirrenden Nächten Obdach am Ofen gewährte und der ihm zum Dank dafür ein paar Schaben wegfing, einen Löffel Milchpulver in heißem Wasser auf und gab eine Gabel Büchsenfleisch hinein. Er selbst verzichtete aufs Frühstück – ein Rudiment seiner auf der Uni entwickelten Liebäugelei mit den Stoikern. Ansonsten war von Askese inzwischen keine Rede mehr. Er stellte den Ofen auf volle Leistung und setzte sich an die Schreibmaschine.

Doubleday zahlte ihm für diesen Roman sechzig Dollar die Woche im Voraus, zehn mehr, als er auf Nachfrage gefordert hatte. Ein guter Deal. Seinen miesen Vertrag bei Harper & Brothers für Nacht ohne Morgen schlug er um Längen, und Vorschriften, was den Inhalt anging, machten sie ihm auch keine.

Eigentlich hatte er nach seiner Rückkehr aus Europa über den Krieg schreiben wollen, aber der schimmerte nur schwach zwischen den Zeilen des Manuskripts hindurch. Einen Roman über den Krieg konnte man nur schreiben, während man noch mittendrin war, sonst glitt er einem schneller davon, als man sich wahrhaftig erinnern konnte. Zwei Monate nach seiner Rückkehr war alles weg gewesen; der Krieg ging ihn nichts mehr an. Was ihn anging, das war Chicago, das waren die Leute, in deren Nachbarschaft er jetzt lebte, der Bodensatz dieser aufstrebenden Stadt. Seine Aufgabe war es, ihn an die Oberfläche zu spülen, auch wenn es den Leuten nicht passte oder sie zu den seltsamsten Fehlschlüssen verleitete. Nacht ohne Morgen war deswegen aus der Chicago Public Library verbannt worden, aber das interessierte ihn inzwischen einen Dreck. Er würde sich nie wieder so aus der Bahn werfen lassen wie von dem Misserfolg seines ersten Romans über die Große Depression. Damals wäre beinahe alles zu Ende gewesen. Inzwischen glaubte er, das Buch war zu Recht gescheitert, aber er glaubte auch, dass er es jetzt besser konnte.

Er spannte einen neuen Bogen in die Maschine ein und musste plötzlich an den Bookie denken, den kleinen italienischen Buchmacher, den er während seiner letzten drei Monate in Marseilles – in Gedanken nannte er es das Glücksspielquartal – kennengelernt hatte, als er auf die Entlassung aus dem Kriegsdienst gewartet hatte. Verdammt guter Würfelspieler. Manchmal hatten sie gemeinsame Sache gemacht, und immer wenn er nervös wurde, sagte der Bookie nur: »Nix sorgen, mein Freund. Habe Arm aus Gold.« Wie es aussah, hatte mit dem kleinen Italiener doch ein Teil des Kriegs überdauert, auch wenn in seinem Roman aus ihm ein kartendealender Veteran mit polnischen Vorfahren geworden war.

Das eingespannte Blatt füllte sich nur langsam. Es dauerte nicht lange, und die Schreibmaschine verstummte ganz. Er nahm sich lieber noch einmal die bereits geschriebenen Seiten vor. Der Raum zwischen den Zeilen und alle freien Flächen waren mit Korrekturen und Notizen gefüllt, aber einem großen Problem war er bislang nicht auf die Schliche gekommen. Frankie Machine gaunerte sich mehr schlecht als recht durchs Leben, und seine Träume und Ambitionen ritten ihn nur immer tiefer in den Dreck, so viel stand fest. Aber der Story fehlte etwas. Eine Klammer, die alles zusammenhielt.

Eine halbe Stunde und zwei Zigaretten später gab er auf. Er kam gottverdammt einfach nicht darauf. Das Beste war es wohl, den täglichen Gang zum YMCA einfach vorzuziehen. Erst wenn er an nichts mehr dachte, kroch ihm oft genug heimlich eine Lösung zwischen den Hirnwindungen hervor, und das schien besonders dann zu gelten, wenn er gerade einen Sandsack bearbeitete. Die Sporttasche war noch gepackt, er musste nur frische Wäsche hineinwerfen. Heute Abend würde er weiterwissen, kein Grund, jetzt missmutig zu sein, komm schon, Junge, los geht’s.

Wie ein Hund begleitete ihn der kleine Tiger über die Außentreppe hinunter, fand aber seine wahre Natur wieder, kaum dass seine Pfoten die Straße berührten. Ohne einen Blick zurück huschte er davon. Der Schnee hatte auf sie beide gewartet. Frische Flocken begleiteten ihn auf seinem Weg zur Hochbahn.

SIMONE

Nur sechsunddreißig Stunden für Chicago! In dieser Zeit konnte man eine Stadt nicht kennenlernen, noch nicht einmal die eigenen Vorurteile bestätigen, in ihrem Fall solche aus Gangsterfilmen wie Scarface oder aus James T. Farrells Romanreihe Studs Lonigan. Schon seit New York war ihr das sonnenklar, und die meist kurzen Stippvisiten auf den anderen Stationen ihrer Reise hatten es bestätigt. Bei einigen dieser Städte war das nicht weiter bedauerlich; bei Chicago war es mit Sicherheit eine Schande. Und da es bei ihrer Ankunft schon fast halb drei am Nachmittag war, hatte sie gleich das Art Institute besucht, zwei Stunden lang die alten Impressionisten und ein wenig Zeitgenössisches betrachtet, von einer Terrasse aus einen sagenhaften Blick auf den Lake Michigan genossen und war dann, begleitet von einem eisigen Wind, ein Stück weit die Michigan Avenue hinuntergegangen. Die Wolkenkratzer hier erschienen ihr ehrlicher als die in New York: Massivität und harte Linien, keine Renaissancefenster oder gotischen Türme. Überfordert von den Möglichkeiten hatte sie schließlich doch ein Taxi zum Hotel genommen.

Nun saß sie ausgerechnet in einem Zimmer des absurd gigantischen Palmer House, das mit seinen Bars und Restaurants, mindestens drei großen Sälen und Geschäften aller Art gleichsam eine eigene Stadt für sich war. Eine reiche Stadt. Wohin sie sich auch wandte, in jedem einzelnen Gang roch es nach Geld. Das lag gewiss nicht nur an der besonderen Schärfung ihrer Sinne, da ihr eigenes im Moment knapp war. Bisher waren weniger Vorträge in trockenen Tüchern als geplant, und die Reisekosten waren ihr immer noch nicht erstattet worden. Das Zimmer hatte der Konsul für sie gemietet, und vermutlich war neben dem obligatorischen Dinner auch bereits eine Stadttour für den nächsten Tag vorbereitet. Doch sie hatte schon in ihrer Zeit in New York begriffen, dass sich die Wahrheit einer Stadt nur über ihre Bewohner entziffern ließ. Unruhe machte sich in ihr breit. Sie wollte etwas erleben, den mit großen Schritten nahenden Abend nicht vergeuden.

Um Chicago wenigstens in Streiflichtern so nahe zu kommen wie ihrer bisherigen Lieblingsstadt, brauchte sie einen Einheimischen. Während sie aus dem Fenster starrte, als käme dort gleich einer vorbeigeflogen – sie befand sich im 16. Stock –, musste sie plötzlich an Zabaione denken. An geronnene Zabaione. Natürlich! Rasch sprang sie auf und kramte in ihrer Tasche. Irgendwo musste er doch sein. Da! Na bitte, da war er, der Zettel mit den beiden Telefonnummern.

An einem ihrer letzten Abende in New York hatte Pearl Kazin, Redakteurin bei Harper’s Bazaar, für das sie im letzten Jahr einen Artikel über Sartre geschrieben hatte, sie unter ihre Fittiche genommen und zum Abendessen zu ihrer einzigen Französisch sprechenden Freundin mitgenommen. Was nett gemeint gewesen war, hatte sich als reine Folter entpuppt.

Mary Guggenheim war eine Art Wunderkind gewesen, es dauerte keine halbe Stunde, bis das unmissverständlich klar war. Mit achtzehn hatte sie bereits das College abgeschlossen – Sonderzulassung mit fünfzehn, französische Literatur –, war dann für einige Jahre professionelle Tänzerin bei den Ballets Russes gewesen, um sich dann, weniger erfolgreich, dem Schreiben und schließlich, erfolgreicher, der Malerei zuzuwenden. Sie hatte im Krieg als Übersetzerin im United States Office of War Information gearbeitet und gab, während sie in ihrem überaus komfortablen Apartment, das nach Zölibat roch, ein wahrlich miserables Essen servierte, diverse Anekdoten zum Besten. Auch Sartre hatte sie damals kennengelernt, sie hielt sich aber mit Geschichten über ihn verständlicherweise in Simones Gegenwart zurück. Aber unglaublich reizend sei er, so viel musste sie dann doch gesagt haben.

»Und André Breton war auch bei uns, er hat während der Besetzung Frankreichs Rundfunksendungen vorbereitet, die täglich dort ausgestrahlt wurden, Sie haben sicher einige davon gehört!«, erzählte Mary, während sie zu dritt den Hauptgang abräumten, der aus verbranntem Fleisch und undefinierbarem versalzenem Gemüse bestanden hatte. »Der war vielleicht ein Charmeur, kann ich Ihnen sagen! Ich denke, er mochte mich richtig gern. Zu der Zeit war ich verrückt nach Hüten, und immer wenn ich mit einer Hutschachtel ins Büro kam, rief er mich zu sich und wollte sich den neuen Hut unbedingt genauestens anschauen.«

Männer irrten leicht, was Frauen anging. Sie selbst jedenfalls konnte diese Mary absolut nicht leiden, spätestens seit ihrer Behauptung, die Frauen dieser Welt unterschieden sich kulturell praktisch nicht, vielmehr seien sie doch überall gleich. Zur besonderen Lage der Frauen in Amerika wusste sie rein gar nichts zu sagen, stattdessen begründete sie alles und jedes mit der Psychoanalyse. Gedanklich setzte Simone ihre Gastgeberin als weiteren Punkt auf die Liste mit den Gründen, die für eine Ausweitung ihres in Arbeit befindlichen Essays über die Frau sprachen.

Sie zählte die Minuten bis zum Dessert, die bedauerlicherweise nicht enden wollten, da Mary sich in der Küche ungefähr eine Stunde lang um eine Zabaione bemühte, während sie Interna aus Ballettzeiten durch die Durchreiche schrie. Schlussendlich gab es dann Pralinen, und auch anderweitig nahm der Abend ein erfreuliches Ende. Als Simone erzählte, wohin ihre Reise sie noch führen würde, wurden Marys gerötete Augen plötzlich groß. »Chicago? Ich wüsste da einen Kerl, der würde Sie sicher rumführen. Keiner kennt die hintersten Ecken besser als er. Wir waren zusammen auf dem College, ich hatte ihn dann fast vergessen, aber während des Kriegs hat er mir geschrieben, und seitdem sind wir so etwas wie ein Gelegenheitspaar auf Distanz.«

»Warum nicht?«, hatte sie geantwortet, damit den Redefluss aber nur kurz unterbrechen können.

»Er gibt sich gern für einen Proleten aus, aber er ist ein waschechter Intellektueller; Schriftsteller und Kommunist. Hat ein bisschen was von einem Eremiten, viele Schrullen und so weiter, aber er hat seine Momente. Warten Sie, ich schreibe Ihnen seine Nummer auf!«

Sie hatte gewartet und außer seiner auch noch die Nummer einer älteren Dame erhalten, bei der Mary damals in Chicago untergekommen war. Dann hatte sie sich schleunigst entschuldigt, nicht ohne sich, schon in der Tür, noch über eine indiskrete Frage Marys nach Dolores ärgern zu müssen.

Dieser Zettel war nun also ihre Eintrittskarte zu einem doch noch voll auszunutzenden Abend. Und es stand fest, welcher der beiden Nummern sie für diese Tageszeit den Vorzug geben musste. Lächelnd setzte sie sich aufs Bett und griff nach dem Telefonhörer.

NELSON

Das YMCA war ihm ein vertrauter Ort. Hier gab es die Dusche, die ihm zu Hause fehlte, und nach einer Sporteinheit war sie für jedermann gerechtfertigt. Manchmal kam er auch zum Lesen oder Schreiben her, manchmal ging er schwimmen, aber nichts leerte den Kopf besser als das Abarbeiten am Sandsack.

Für alle Veteranen war die Mitgliedschaft nach der Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg kostenlos, auch eine psychologische Beratung wurde angeboten. Die hatte er nicht nötig. Selbst war er nie in Kriegshandlungen involviert gewesen, und das Letzte, was er gebrauchen konnte, war irgendwer, der noch einmal an ihm herumklempnerte.

Die Einrichtungen der Young Men’s Christian Association, einer Organisation, die sich vornehmlich um Körper, Geist und Seele sozial schwacher junger Männer kümmerte, waren so oder so eine der wenigen Konstanten in seinem Leben. Wenn er es sich früher selbst nicht leisten konnte, war seine Schwester für den Mitgliedsbeitrag aufgekommen. 1931, während seiner Wanderjahre durch den Mittleren Westen nach dem Abschluss in Journalismus, hatte er eine Zeit lang in einer Einrichtung in Milwaukee als Nachhilfelehrer gearbeitet. Nur einer von vielen Jobs, er hatte so gut wie alles gemacht, um wenigstens noch die Nasenspitze über Wasser zu halten. Journalisten waren zur Zeit der Großen Depression nicht gerade das gewesen, wonach es Amerika verlangte.

Umkleiden, ging ihm jetzt durch den Kopf, waren Schleusen zwischen den Welten. Nach der trockenen Kälte der Straße umfing ihn in der Sporthalle das feuchtwarme Klima der Tropen, statt vom Schnee gereinigter Luft füllte würziges Dschungelaroma seine Lungen.

Wie entartete Lianen hingen Sandsäcke in mehreren Reihen von der Decke herab, unterbrochen von den gigantischen Tropfen der Maisbirnen. Beinahe jeder Platz war besetzt, auch die Wandschlagpolster steckten einiges ein. Kein Mann, der hier nicht vor Schweiß glänzte, als hätte man ihn mit einer Speckschwarte eingerieben.

Er kannte einige der Kerle an den Säcken vom Sehen, sie grüßten ihn im Vorbeigehen, ohne aus dem Rhythmus zu geraten. Hinten in der Halle machten zwei Burschen Sparring im Boxring, rundherum ließ der alte Baginski eine Gruppe Jungs Schlagfolgen in die Luft dreschen. Die Jungen, zwischen zwölf und fünfzehn vielleicht, machten alle Ernst, jeder Einzelne. In ihren Blicken lag die Gier nach einem anderen Leben; es musste kein besseres sein, nicht in erster Linie, bloß anders als das, was sie jeden Tag zu Hause sahen. Und für Jungs wie sie würde sich das noch am ehesten als Vier-Runden-Boxer in den Marigold Gardens finden lassen. Das College war keine Option, und den staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wäre das Boxen allemal vorzuziehen.

Er begann mit ein paar Dehnübungen, hörte dabei Baginskis Ansagen zu und beobachtete die Ausführungen der Gruppe. Mit den Zweier- und Dreierkombinationen kamen sie gut klar, bis auf einen hohlwangigen Blonden mit Bürstenschnitt, der es immer wieder schaffte, sich in seinen langen Gliedern, die ihn an die spindeldürren Arme und Beine von Popeyes Freundin erinnerten, zu verheddern.

»Gewicht aufs hintere Bein beim Jab!«, versuchte Baginski zahnlos nuschelnd zu retten, was nicht zu retten war. »Da kommt die Kraft raus, Pimsky, nich ausm Arm, wie oft muss ichs noch sagen?« Wenig später ließ er mit einer letzten Ermahnung von der Bürste ab. »Die Hand nach jedem Schlag wieder zurück! Ganz zurück, verflucht noch mal!«

Als Nelson sich aus dem Equipmentregal ein Springseil holte, erblickte der alte Baginski ihn und rollte leidend die Augen gen Himmel.

»So, aufpassen jetzt, besonders wer nich so helle is«, wandte er sich wieder an seine Schüler und stellte sich in Positur. »Jetzt kommtn Fünfer.« Baginski machte jeden Schlag der Kombination in Zeitlupe vor, während er weitersprach, beim zweiten Mal dann in Echtzeit. »Jab, Jab, Cross, Haken zum Körper, Haken zum Kopf. Die ersten drei bringen die Deckung vom Gegner zum Kopf, dann mussa den Körpertreffer entweder nehm’, oder die Deckung geht runter, und der nächste Haken trifft. Ich sag an: eins, eins, zwei, drei, drei. Kapiert?«

Und los ging’s. Nelson machte zum Warmwerden hundert Sprünge die Minute, außerdem wollte er beobachten, wie die Jungs sich bei der komplexen Kombination anstellten. Nicht wenige hatten Probleme mit der raschen Gewichtsverlagerung bei den Haken. Baginski war gnädig. Als alter Hase wusste er, dass die Übung auf dem Weg zum Meister den langen Umweg über die Gewöhnung gehen musste. Er gab ihnen ein paar Minuten und gesellte sich augenzwinkernd zu ihm.

»Guck sie dir an, Kumpel«, sagte er, zog eine Kautabakdose aus der Hemdtasche, klopfte dreimal damit an seinen Ellenbogen, klappte den Deckel auf und stopfte sich eine reichliche Prise unter die Oberlippe. »Alles Luschen, bis auf einen. Ganz außen, der Glatzkopf. Den bring ich inne Gardens, ich werd sein Manager. Kohle satt werd ich einstreichen, der Junge is ne Goldgrube! ’n wildes Tier isser. Bisschen Techniktraining, und ich krieg den eins a dressiert.«

Die Glatze war ihm auch schon aufgefallen. Gute Körperspannung, die Schläge wuchtig, aber kontrolliert, in den Augen ein Entschluss. Für ihn konnte der Traum von der kleinen Flucht in den Boxring vielleicht Wirklichkeit werden.

Im Gegensatz zu ihm und den anderen Jungs hatte Baginski selbst schon zu viel erlebt, um noch ein Verlangen zu verspüren oder auch nur zu begreifen, das nicht eines nach Geld war. In gekauften Kämpfen hatte er sich viele Jahre lang für ein paar Dollar die Innereien zu Haggis schlagen lassen. Wie dumm, dass Leber und Nieren sich nicht, so wie sein Nasenrücken, vorsorglich hatten entfernen lassen. Wie von einer Dampfwalze gebügelt lag er eben und glatt vor dem kleinen Hügel der Nasenspitze in der Landschaft seines faltigen Gesichts.

Er stimmte Baginski zu. Mit ein bisschen Geduld würde er sicher alles Gold aus dem Jungen schürfen, was in ihm war. Nach dem letzten Wort erhöhte er auf hundertvierzig Sprünge die Minute.

Baginski verstand und ließ ihn allein. »So isses, wirst sehen!«, drehte er sich noch einmal um, bevor er den Jungs eine neue Kombination vormachte.

Wenig später legte er das Seil zurück und hoffte, es würde ihn niemand mehr ansprechen. Zeit für den Boxsack.

Auf dem Weg nach Hause machte er noch einen Abstecher zum Seven Stairs in der Rush Street. Inzwischen hatte sich unmissverständlich gezeigt, dass heute kein guter Tag für zündende Ideen war. Vielleicht war es wenigstens ein guter Tag zur Erweiterung seiner Büchersammlung.

Sein Magen knurrte, also nahm er im Vorbeigehen eine Gurke aus dem Fass neben der Tür und hielt sie hoch, damit der Ladeninhaber sie anschreiben konnte.

»Dass du mir damit bloß nicht die Bücher ruinierst, Nelson!«, tönte es von hinter dem Tresen.

»Eher schluck ich sie im Ganzen runter, Stu. Kennst mich doch!«

Stuart Brent war ein schwieriger Typ, aber dass er seine Bücher hegte, pflegte und verteidigte wie eine Glucke, hatte ihn gleich bei seinem ersten Besuch für den Mann eingenommen. Der Laden war winzig, die Gegend nicht gerade belesen, aber Stu hatte sich seit der Eröffnung vor einem Jahr einiges einfallen lassen. Im Januar hatte er zum Erscheinen von Im Neon-Dschungel eine Party gegeben, groß getrommelt und den zahlreichen Gästen Kaffee, Salami und Äpfel serviert. Kaum zu glauben, dass dieses Marketinggenie sich wirklich, wie er kolportierte, verzählt haben sollte, als er dem Geschäft seinen Namen gab. In Wahrheit waren es nämlich acht Stufen, die zum Eingang hochführten. Eine gute Geschichte war es allemal, das musste er ihm lassen.

»Und? Hast du was Gutes reinbekommen, Stu?«, fragte er nach dem letzten Stück Gurke.

»Ich glaub’s ja wohl nicht? Ich habe nur Gutes, wenn ich bitten darf! Aber etwas, was dich besonders interessieren dürfte, habe ich auch. Kam mit der Lieferung gestern.« Er griff hinter sich und präsentierte ihm das Buch auf den ausgestreckten Handflächen wie ein Kleinod.

Seine Laune kletterte um ein paar Grad nach oben, als er den Namen des Autors las. Er verehrte Malaquais, seit er sein großartiges Kriegstagebuch gelesen hatte. »So, haben sie Planète sans visa endlich übersetzt? Gekauft!«

Stu grinste zufrieden und wickelte ihm das Buch ein.

In der El, wie er die Chicago Elevated für sich nannte, las er die ersten Seiten und freute sich darauf, abends mit der Lektüre fortzufahren. Zuerst musste er sich allerdings etwas zu essen machen und dann noch ein wenig arbeiten. Er hatte überraschend großen Appetit auf Latkes, und möglicherweise wollte er mit diesem in der Vorbereitung aufwendigen Gericht bloß den Moment des erneuten Starrens auf das weiße Blatt hinauszögern. Egal.

Die Zwiebeln waren geschnitten, er rieb gerade die dritte Kartoffel, da schellte das Telefon. Er ließ den Kopf über der Schüssel hängen. Wie immer im unpassendsten Moment. Kurz überlegte er, es einfach klingeln zu lassen, aber dann hielt er die Hände unters Wasser, wischte sie an seiner Hose ab und ging ran.

»Hallo?«

SIMONE

Sie hatte ihn bei irgendetwas gestört, das erkannte sie am Klang seiner Stimme. Und war es nicht, wenn sie es genau bedachte, überhaupt anmaßend, in das Leben eines Fremden zu platzen, ihn aufzustören in der Erwartung, er möge für sie seine Abendplanung über den Haufen werfen und sich mehr um ihr Wohl kümmern statt um sein eigenes?

Verunsicherung äußerte sich bei jedem Menschen auf ganz verschiedene Art und Weise. Sie sprach noch schneller als sonst, als sie ihr Ansinnen vortrug. »Bitte entschuldigen Sie die Störung, mein Name ist de Beauvoir, spreche ich mit Mister Algren? Ich bin auf der Durchreise, Ihre Nummer habe ich von einer gemeinsamen Bek…«

»Sie haben die falsche Nummer«, unterbrach er sie mit einer Feststellung, die nicht auf Bestätigung wartete. Es klickte. Aufgelegt!

Sie hatte seinen Namen erwähnt, hatte er sie denn nicht verstanden? So schlecht war ihr Englisch nicht, ihre bisherigen Gastgeber hatten es sehr gelobt. Nun gut, beim nächsten Versuch würde sie langsamer sprechen. Diesmal kam sie allerdings gar nicht dazu, überhaupt etwas zu sagen.

»Falsche Nummer!« Und schon wurde wieder aufgehängt.

Wie konnte man nur so ungeduldig sein? Sie legte auf, ließ die Hand aber am Hörer. Die ältere Dame wäre sicherlich einfacher im Umgang, wenn der Abend auch an Spannung einbüßen dürfte. Sie wählte also die andere Nummer auf ihrem Zettel, doch niemand ging ran. Frustriert warf sie sich auf dem Bett zurück.

Die innere Unruhe, die sich nun in ihr breitmachte, bekämpfte sie in der nächsten halben Stunde mit hastiger Arbeit an einem Artikel über die Probleme der Frauenliteratur für die France-Amérique, den sie ohnehin bald wegschicken musste. In ihrem Augenwinkel lauerte das Telefon. Schließlich legte sie den Füller so energisch zur Seite, dass ein paar Tintentropfen aus der Spitze stoben. Nein. Sie hatte nun einmal Lust, mit diesem Mann auszugehen, sollte er es doch sagen, wenn er nicht mochte! Aber anhören konnte er sie wenigstens.

Bei diesem Versuch bat sie die Telefonistin um Hilfe.

»Seien Sie doch bitte so freundlich, die Verbindung einen Augenblick zu halten, Miss de Beauvoir aus Frankreich würde Sie gern sprechen.« Die samten autoritäre Stimme ließ das Wunder tatsächlich geschehen. Er war so freundlich.

Bei ihrer erneuten Vorstellung zwang sie sich, langsam und deutlich zu sprechen, und erwähnte Mary Guggenheim gleich zu Beginn. »Ich halte einen Vortrag in Chicago und würde vorher gern die Stadt kennenlernen«, kam sie zum Wesentlichen, immer noch ununterbrochen. »Mary meinte, es gäbe niemanden, der mir dabei besser helfen könnte als Sie.«

Als er jetzt sprach, klang seine Stimme zugänglicher, den Sinn seiner Sätze konnte sie aber kaum entschlüsseln. In jeder Stadt sprachen die Amerikaner ein anderes Englisch, jede Person schien dazu besondere Angewohnheiten zu haben; sie musste die Sprache mit jedem Gesprächspartner von Neuem lernen. Sie verstand nur einzelne Fetzen, die sie sich zusammenreimte zu etwas.

Natürlich, er erinnere sich jetzt, Mary habe ihm von ihr geschrieben, und ja, er könne ihr vieles zeigen, alles, was sie sehen und auch nicht sehen wolle, Dinge, die sicher nicht in einem Reiseführer zu finden seien.

Sie schielte zu ihrem eigenen, der, studiert und mit Markierungen versehen, parat auf dem Schreibtisch lag. »Das klingt ganz wunderbar, danke, dass Sie sich die Zeit nehmen. Wo soll ich hinkommen?«

Plötzlich erwies er sich als Gentleman. »Nirgends hin. Ich hole Sie ab. In welchem Hotel sind Sie einquartiert?«

»Palmer House.« Ihr fiel ein, dass es ein an die Lobby angeschlossenes Café gab. »Wir können uns im Little Café treffen.« Eigentlich hieß es Le Petit Café, aber sie wollte ihn lieber nicht mit Französisch verwirren.

»Palmer House.« Er pfiff durch die Zähne. »Ein Luxusschuppen. Mir scheint, die bezahlen Sie sehr gut für Ihren Vortrag. In einer halben Stunde bin ich da.«

Sie beschloss, nicht auf seine Bemerkung einzugehen. »Das klingt wundervoll. Ich werde ein Exemplar der Partisan Review bei mir tragen, damit Sie mich erkennen.«

Die Zeitschrift musste Algren mehr als ein Begriff sein, wahrscheinlich waren schon Texte von ihm darin erschienen. Sie selbst hatte sich in New York auf einer Party mit den Herausgebern arg zerstritten; es war ihr gegen den Strich gegangen, wie sie Hemingway, Steinbeck und im Grunde alle Literaten der Gegenwart in der Luft zerrissen, den Naturalismus verabscheuten und sich ganz offensichtlich den Klassizismus zurückwünschten. Als es dann politisch wurde, ließ sie ihr Essen stehen, denn natürlich hassten sie den Stalinismus mit einer Intensität, wie es nur ehemalige Stalinisten konnten. Überhaupt schlugen sie als Linke so sehr in die Kerbe der von der amerikanischen Presse munter verbreiteten roten Angst, dass sie sich ereifert hatte, bis schließlich allen Anwesenden der Schweiß auf der Stirn stand. Beim nächsten Aufeinandertreffen hatten sie sich dann gegenseitig, immer noch peinlich berührt, an Höflichkeiten überboten und im Gespräch an Unverfänglicheres gehalten.

Algren schnaubte, abgetönt mit einem Lachen. »Wenn es Sie kleidet. Also, bis dann.«

Sie hängte ein und stand auf. Der Mann schien tatsächlich, wie Mary angedeutet hatte, ein ziemlicher Kauz zu sein. Erst jetzt kam es ihr in den Sinn, dass ein Treffen mit einem Unbekannten immer auch bedeutete, einen Abend in vollendeter Langeweile oder ausgeprägtem Unwohlsein zu riskieren. Das kribbelnde Gefühl der Vorfreude in ihren Eingeweiden wollte davon allerdings nichts wissen. Sollte sie sich umziehen? Sie hatte nicht viel Kleidung dabei, einen Rock, ein paar Blusen, eine uralte Hose; meist trug sie genau das, was sie auch jetzt gerade am Leib hatte: ein wollenes Kleid, das Oberteil hochgeschlossen mit einem kleinen Stehkragen und einfarbig marineblau, der bodenlange Rock groß kariert in Blau und Braun. Es war der letzte Schrei in Paris gewesen und hatte entsprechend gekostet. Den Amerikanerinnen mit ihren kurzen Röcken ließ es regelmäßig den Mund vor Staunen offen stehen. Auch für diesen Abend war es das Richtige, also blieb sie so.

Er ließ sie warten. Angespannt tigerte sie zwischen der Lobby, der Bar und dem Außenbereich des Cafés hin und her – jetzt sicher schon zum vierten Mal! –, hielt drinnen und draußen Ausschau, obwohl sie ja gar nicht wusste, wie Algren aussah. Dann hörte sie plötzlich in ihrem Rücken die Worte »Bonsoir, mademoiselle de Beauvoir«, vorgetragen wie das kürzeste Gedicht der Welt. Ihr Rücken musste einen Schreck abfangen, auf ihrem Gesicht ließ sie ein Lächeln erscheinen, dann drehte sie sich um. Algren stand breit grinsend vor ihr, einen Kopf größer als sie, drahtig, in einem dicken Pullover mit abgewetzter Lederweste darüber.

»In großer Verzweiflung habe ich Ihr ›Leetell Café‹ gesucht, ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie mir so wenig Französisch zutrauen. Wollen wir uns setzen?«

Ein wenig verwirrt entschuldigte sie sich. »Oh. Ich wollte es Ihnen nur leichter machen. Ja, gern.«

Er geleitete sie zu einem Tisch. »Schon in Ordnung. Zu diesen drei Wörtern gesellen sich vielleicht noch dreißig, vielleicht auch dreihundert weitere, aber dann sind wir auch schon am Ende der französischen Straße angelangt, also war Ihre Nettigkeit so gut wie angebracht.«

Sie konnte seinen Worten nicht ganz folgen, aber jetzt wenigstens seinen Ausdruck zur Interpretation heranziehen. Er scherzte, sagte sein Lachen, und für den Fall, dass das nicht reichte, ließ er auch sein Augenlid sprechen. Er wirkte selbstsicher und ein wenig respekteinflößend, der Eindruck wurde aber gebrochen von seinem unsteten Blick, der hinter runden Brillengläsern mal hier, mal da hinhuschte, als bräuchte er etwas zum Festhalten in dieser Situation.

Algren bestellte Drinks, und sie begann zu reden, erzählte von dem langen, unruhigen Flug, von New York und den schrecklich langweiligen Partys und Abendessen, den meist öden Nachtlokalen mit schlechtem Jazz, ihrem Eindruck, Amerika bestünde überwiegend aus aufstrebenden Biedermännern ohne Interesse an Politik, kam von einem zum nächsten, zum anderen und wunderte sich, dass er nirgends einhakte.

»Nun, das klingt alles in allem doch ganz gut«, sagte er schließlich unverbindlich und prostete ihr zu. Da wusste sie, er verstand ihre Worte ganz offensichtlich noch weniger als sie die seinen.

»Sie waren in Frankreich während des Kriegs?«, fragte sie und gab ihm damit, was er brauchte. Jetzt konnte er reden und gestikulieren und hörte so schnell nicht mehr auf damit; die Worte flossen aus ihm heraus wie ein zwölftaktiger Blues, dem sie manchmal sogar folgen konnte.

Sie verstand: Er hatte nicht gekämpft, sondern war eine Art Sanitäter gewesen, nach der Operation Overlord für einige Monate in den Ardennen stationiert, dann in Marseille, auf die Entlassung aus dem Kriegsdienst wartend, tags auf dem Schwarzmarkt handelnd, nachts mit dem Geld pokernd. Er vermied die Frage danach, wo sie während der Besetzung von Paris gewesen war, was sie in dieser Zeit getan hatte, und sie war nicht böse darum.

Sie sah ihn gern an, während er sprach. Mit seinem spitz ansetzendem sandfarbenen Haar und der schmalen, sanft geschwungenen Nase sah er aus wie eine Mischung aus Robert Mitchum und Kirk Douglas mit einem wohltuenden Einschlag von Harold Lloyd. Mit einem Mal wurde ihr der fehlende Zahn bewusst, den sie seit dem Fahrradsturz noch nicht hatte ersetzen lassen. Es hatte erst an Geld, dann an Zeit und schließlich an dem Gefühl einer Notwendigkeit gemangelt. Jetzt versuchte sie, die Lücke zu verbergen, wenn sie über etwas lachte, hinter dem sie einen seiner Scherze vermutete.

Es war nur ein kleiner Tisch, der sie voneinander trennte, aber während die Worte flossen, waren sie beide nah an die Kante gerückt, Oberkörper waren vorgeneigt und Unterarme auf die Tischplatte gelegt worden. Attraktion, dachte sie, war ein wahres Wort. Und sie wollte mehr über ihn erfahren.

»Warum sind Sie Schriftsteller geworden?«

»Die Tellerwäscherjobs waren alle weg.« Er lachte, dann drehte er eine Weile sein Glas in den Händen und schien etwas abzuwägen. »Wissen Sie, die Menschen sind verschieden, keiner ist wie der andere, aber alle sind sie gleich darin, dem Rest der Welt etwas vorzumachen, es wird gelogen und betrogen am laufenden Meter. Das hat mich unsagbar wütend gemacht. Da war ich so ungefähr Anfang zwanzig, da fing es an. Ich will jeden Einzelnen jedem anderen so zeigen, wie er wirklich ist, verstehen Sie?«

Sie verstand immerhin genug, um etwas Passendes zu antworten. »Das ist kein kleiner Anspruch. Ich will unbedingt Ihre Bücher lesen, es ist doch gerade eins erschienen, hat man mir zugetragen?«

»Das nächste wird besser, warten Sie darauf.«

Genierte er sich etwa? »Warum warten, wenn ich jetzt schon eines lesen kann?«

Der Schelm, der beinahe die ganze Zeit in Algrens Augenwinkeln gesessen hatte, zog sich zurück. Sein Blick wurde ernst. »Sie wollen es also wirklich lesen?«

»Unbedingt.«

Er sprang auf, streckte Arm, Hand, Zeigefinger vor. »Dann warten Sie hier.«

Überrascht sah sie dabei zu, wie er in der Lobby verschwand. Die Unmittelbarkeit seiner Reaktionen machte ihn ihr noch sympathischer. Nein, langweilig würde der Abend sicher nicht werden.

Ein paar Minuten später kam Algren wieder und rückte seinen Stuhl noch ein wenig näher als zuvor an den Tisch, als er sich setzte. »Ich habe telefoniert. Das Buch wird spätestens morgen Mittag an der Rezeption für Sie bereitliegen.«

»Vielen Dank, das ist sehr nett.«

»Aber nun: Sie wollen Chicago kennenlernen. Was möchten Sie sehen? Die Jazzlokale der Mittelklasse sind hier nicht besser als in New York, das sollte ich besser vorausschicken. Für die Schlachthöfe ist es heute schon zu spät, die Touristen sind ganz wild danach.«

Nicht alles, was sie gesagt hatte, war also für ihn unverständlich gewesen. »Gut, dass Sie es erwähnen, mehr vom selben muss ich sicher nicht hören. Ansonsten würde ich mich gern ganz Ihnen überlassen.«

Er hob die Brauen und schürzte anerkennend die Lippen. »Sie haben Mut, Miss, das sollte belohnt werden.« Er trank aus und legte ein paar Münzen auf den Tisch. »Ich zeige Ihnen eine Gegend, die zu besuchen Sie sicher nicht so schnell wieder die Gelegenheit bekommen werden. Das wirkliche Chicago findet sich nirgends anders als in seiner Unterwelt. Aber sind Sie auch bereit?«

»So bereit, wie man nur sein kann«, sagte sie, stand auf und nahm den dargebotenen Arm. Ein leichter Schlag trieb ihr eine Gänsehaut von der Hand bis zur Schulter hinauf. Sein kratziger Pullover musste sich wohl statisch aufgeladen haben.

NELSON

Er war früh da gewesen und hatte sich draußen auf einem Stuhl im Schatten verborgen, um zu entscheiden, ob er mit dieser Frau wirklich den Abend verbringen wollte. Wenn sie ausgesehen hätte wie eine Abonnentin der Partisan Review, hätte er sich schleunigst aus dem Staub gemacht. Dass sie keine war, hatte er sofort gesehen. In Schleifen war sie heraus- und wieder hineingelaufen, Ausschau nach ihm haltend, aber nicht besorgt oder verzagt, sondern mit der stählernen Geschmeidigkeit eines Raubtiers; ihr Blick glitt wie ein Messer zwischen den Passanten hindurch. Der weiße Mantel, der um ihre Schultern hing, und die Enden ihres grünen Schals wehten gehorsam hinter ihr her, und schließlich war auch er aufgestanden und ihr gefolgt.

Und nun saßen sie hier, er sah in ihre von hellblauer Intelligenz erleuchteten Augen und wusste, dass sie eine Getriebene war. Eine attraktive Getriebene. Unweigerlich fragte er sich, welche Wege sich ihre im Zaum gehaltene Energie wohl im Bett bahnen, wie ihr dickes, rötlich braunes Haar aus der strengen Frisur gelöst aussehen und wie es sich unter seinen Händen anfühlen würde.

Er hatte eine ganze Weile Zeit, sich das zu fragen, denn sie hatte gleich zu erzählen begonnen; er verstand kein Wort, aber sie klang wie seine Schreibmaschine an einem selten guten Tag. Ihr Akzent hackte die Silben unaufhörlich in die Luft wie er die Worte in die Tastatur.

Mary hatte aufgeregt geschrieben, Beauvoir sei eine angesehene Intellektuelle und Jean-Paul Sartres Schatten; die beiden hätten eine faszinierende Beziehung, seien Kollegen und ein Paar, dennoch hätten sie beide auch offene Affären. Er hatte im üblichen Stil geantwortet, diese Simone »Boudoir« höre sich sehr »chichi« an, und dieser Sartre, wer immer er sei – das war untertrieben, natürlich war der Existenzialismus nicht an ihm vorbeigegangen –, habe wirklich Glück. Sicher sage sie laufend zu ihm: »J.-P., mein Süßer, beiß in meine kleinen Tittis.« Und Sartre, das kleine Schwein, kaue ihr dann ihre sauberen Brüste ab.

Mary, die langsam unerwartet anhänglich wurde, mochte es, wenn er derb schrieb, also hatte er sich nicht zurückgehalten. Jetzt und hier war er allerdings sehr froh, dass sein Gegenüber nie von seinen Worten erfahren würde.

Beauvoir fragte ihn nach dem Krieg, und er plapperte vor sich hin, während er sich die ganze Zeit überlegte, was sie wohl währenddessen in Paris gemacht hatte, ob sie hatte hungern müssen, ob sie in Gefahr gewesen war. Sie schien ihn ebenfalls kaum zu verstehen, aber wie ihm selbst machte es ihr offenbar nichts aus.

Schade nur, dass ein echtes Gespräch über das Schreiben so nicht möglich war. Kurz überlegte er, ob er ihr auf ihre Frage hin erzählen sollte, dass er vier Monate im Knast gesessen hatte, weil er in Texas eine Schreibmaschine hatte mitgehen lassen, nachdem der Vertrag für seinen ersten Roman unter Dach und Fach gewesen war. »Es gibt nichts, das für meine schiere Existenz wichtiger ist«, stand in seinem Geständnis. »Dieser Mann ist ein Künstler, kein Krimineller. In diesen schwierigen Zeiten der wirtschaftlichen Depression stahl dieser Mann aus dem gleichen Grund eine Schreibmaschine wie Jean Valjean einen Laib Brot – um zu überleben«, trug sein Anwalt den Geschworenen und dem Richter vor. Aber nein, das war keine Geschichte für eine flüchtige Bekanntschaft.

Er war froh, als sie sich schließlich aufmachten und klar war, dass nun unverbindlichere Gespräche folgen würden. Er würde erzählen, und sie würde dazu nicken, »aha« sagen und »interessant!«, und es wäre nicht weiter schlimm, wenn die Hälfte seiner Worte verloren ginge, denn bald würden die Eindrücke für sich sprechen.

Um wenigstens ansatzweise in die Unterwelt der Stadt einzutauchen, mussten sie den schnieken Loop in Downtown Chicago verlassen; die Bowery, das Glasscherbenviertel, war ihr Ziel. Sie gingen zu Fuß, überquerten den Kanal südlich des Chicago River und marschierten flott die West Madison Street hinunter, als könnten sie so der Kälte entkommen, vorbei an Bars, Billardsalons, Spielhöllen und den Hotels für alleinstehende Männer, in denen man ein Zimmer für drei Dollar die Woche bekam, in der lange hereingebrochenen Dunkelheit umgeben vom Bunt der Neonreklamen, die die Etablissements, vor allem aber Likör, Bier und Schnaps anpriesen.

Er hätte Tage, vielleicht Wochen gebraucht, um Beauvoir alles zu erzählen, was er ihr erzählen konnte, also fing er mit dem an, was die Leute üblicherweise am liebsten hörten. Er ließ ein paar Geschichten über die Mafia vom Stapel, ihre Verbindungen zur Polizei, der Politik und dem Handel; dann ging er nahtlos zu dem Lippenstiftmörder über, der die Stadt die letzten zwei Jahre in Atem gehalten hatte. »Nachdem er die zweite Frau abgestochen hatte, schrieb er mit ihrem Lippenstift eine Botschaft für die Polizei an die Wand: ›Um Himmels willen, verhaftet mich, bevor ich wieder töte. Ich habe mich nicht unter Kontrolle.‹ Gestellt hat er sich trotz dieser Einsicht natürlich nicht, aber gekriegt haben sie ihn dennoch.«

»Erstaunlich!«

Verstohlen sah er sie an. Sie schien die ganze Zeit über sehr interessiert an seinen Geschichten, sagte aber wenig. Vermutlich musste sie sich darauf konzentrieren, nicht auszurutschen, denn die Straßen wurden immer glatter.

Vielleicht hätte er ihr seinen Arm anbieten sollen, aber vorerst wagte er es nicht und blieb bei dem, was er besser konnte. »Meine Ohren sind zu Eis gefroren, sie fallen gleich ab, und dann müssen wir die Scherben auflesen.«

Sie lachte, und er war zufrieden.

Inzwischen wurden die Häuser schäbiger, die Straßen schmutziger, die Zahl der zwielichtigen Gestalten, die sich im Schatten der Tore oder in den Hauseingängen verbargen und ab und zu zum Schnorren hervorstießen, größer, und schließlich waren sie bei der kleinen Taverne angelangt, die er Beauvoir zeigen wollte.

»Das hier ist eins der Wasserlöcher, aus dem ich für meinen Roman schöpfe. Hier kommen sie alle zusammen, es lässt sich gut beobachten. Und jeder Einzelne ist natürlich teuflisch gefährlich«, raunte er ihr beim Hineingehen zu.

Inzwischen hatte sie sich offenbar nicht nur an seinen Chicagoer Einschlag, sondern auch an seinen Humor gewöhnt. Ungerührt klopfte sie sich den Schnee von den Schuhen. »Ich glaube ja, der einzig Teuflische hier sind Sie.«

Drinnen war die Kälte sofort vergessen, der Raum war geflutet von Jazz und kochte vor Leben, das Rauch, Bier und Schweiß ausdünstete. Er bestellte ein Ale, Beauvoir wollte einen Bourbon, und dann tranken sie und lauschten den schwarzen Musikern, die auf einer kleinen hölzernen Bühne in einer Ecke spielten, und beobachteten schweigend.

An der Bar kippten schmuddelige Säufer neben ruinierten Schönheiten ihre Drinks, und wann immer ihnen der Kopf auf die Theke sank, stieß der Barkeeper sie an, und sie bestellten ein weiteres Glas.

Unter einem großen Schild mit der Aufschrift »Tanzen strengstens verboten« wiegten und drehten sich zerlumpte Pärchen. Ein Hinkebein schleppte sich mit schweren Watschelschritten auf die Tanzfläche. Wie von Zauberhand gehorchtem ihm plötzlich seine Beine, und mit jeder Drehung wurde das Lächeln auf seinen Lippen verrückter.

Beauvoir stieß ihn an und machte ihn auf die Wunderheilung des Mannes aufmerksam.

»Den kenne ich«, sagte er und orderte neue Drinks. »Bei dem ist es jeden Abend das gleiche Spiel. Wie gefällt Ihnen übrigens die Musik?«

»Oh, sehr gut, besser in jedem Fall als alles, was ich in Amerika bislang gehört habe.« Sie betrachtete die kleine Kapelle eine Weile. »Mich macht nur eines unglaublich wütend. Um in den Bars zu spielen, sind sie gut genug, aber sonst werden die Schwarzen immer noch wie Dreck behandelt. Kennen Sie Richard Wright? In New York war ich zusammen mit ihm und seiner Frau unterwegs, es ist furchtbar, welchen Anfeindungen sie als Paar mit unterschiedlichen Hautfarben ausgesetzt sind. Ich habe die beiden in ihrer Überlegung, ganz nach Paris zu ziehen, bestärkt. Dort wird es so viel einfacher für sie sein.«

»Und ob ich Dick kenne. Inzwischen hat er sich vom Kommunismus abgewandt, aber wir waren beide Mitglieder im John Reed Club und in der Partei. Eine Zeit lang hat uns das Federal Writers’ Project, eine Maßnahme der Regierung, über Wasser gehalten, wir haben Reiseführer, Kochbücher und ähnlich schöne Dinge zum Wohl der Allgemeinheit geschrieben. Er hat das natürlich seit Langem nicht mehr nötig. Ich gönne ihm den Erfolg, aber ich wünschte, er hätte Chicago nie verlassen … Ich halte ganz allein die Stellung hier, mal abgesehen von dem Taschendieb, den ich mal interviewt habe und der danach meinte, das Schreiben könnte eine Spitzenidee sein, auf den rechten Weg zu finden. Letztlich musste er bei seinen Diebestouren Extraschichten einschieben, um seine Ergüsse drucken zu lassen. Es ist ein einsamer Job.«

Sie nickte. »Das muss hart sein. Gemeinschaft befruchtet.«

Dann tranken, lauschten und schwiegen sie wieder.

Eine Frau mit Unmengen Schminke im Gesicht und langem, lockigem Feenhaar, das so oft gebleicht worden war, dass sie im rauchgetrübten Licht mal wie ein kleines Mädchen, mal wie eine Greisin aussah, kippte ein Bier nach dem anderen in sich hinein, sprach mit sich selbst und brach immer wieder in spitze, herausfordernde Schreie aus, während sie irr um sich blickte. Manchmal stand sie auf, hob ihr Kleid bis zur Hüfte, mäanderte brabbelnd durch die Bar, um sich wenig später wieder zu setzen und in sich zusammenzusinken. Dann ging alles von vorne los.

Ein Säufer, der an einem Tisch mit dem Kopf auf der Platte geschlafen hatte, erhob sich mit einem Ruck, fasste eine dicke Rothaarige bei den Hüften und hüpfte mit ihr davon. Nicht nur er, alle hier tanzten mit einer entfesselten, an Wahnsinn grenzenden Freude, die im tiefsten Innern nichts anderes als Verzweiflung war.

Beauvoir an seiner Seite war nachdenklich geworden, sie hatte so lange in ihrem Bourbon gerührt, dass das Eis zur Gänze geschmolzen war. Jetzt bemerkte sie, dass er sie anschaute, und sah auf. »So alt, so verbraucht und elend sie auch sein mögen«, sagte sie, »hier vergessen sie für einen Moment lang alles und sind glücklich.« Sie legte das Glasstäbchen zur Seite und nahm einen Schluck. »Danke, dass Sie mich hergebracht haben. Es ist wunderschön.«

Für einen Augenblick war er wie vor den Kopf geschlagen. Sie verstand ihn, sie begriff, wie manches tragisch und wundervoll zugleich sein konnte. »Nicht wahr? Hier in Amerika betrachtet man das Schöne und Hässliche, das Tragische und das Verabscheuungswürdige, das Gute und das Böse gern als scharf voneinander getrennt. Die Idee, die Extreme könnten sich vermischen, wird rigoros abgelehnt.«

Beauvoir trank aus. »Natürlich, denn alle haben unsägliche Angst davor. Wissen Sie, ein bisschen erinnert mich diese Bar an Sammy’s Bowery Follies in New York, und gleichzeitig ist sie eben doch ganz anders. Ins Sammy’s gehen die wohlhabenden Sozialisten, um sich einmal dieser Angst zu stellen und den kathartischen Nervenkitzel des gemeinsamen Trinkens mit den Armen zu erleben. Dies hier ist eine ganz eigene Welt für sich, und ohne Sie, Mister Algren, wäre ich hier nur fremd und niemals willkommen gewesen.«

»Es gibt Menschen«, gab er zur Antwort, »die, wenn sie einmal verstanden haben, dass der Weg nach oben für sie versperrt ist, genauso hartnäckig in die Gosse streben wie Ihre Biedermänner nach einem Häuschen im Grünen und einer Mitgliedschaft im Country Club. Das wollte ich Ihnen zeigen. Irgendwie bin ich ja auch einer von ihnen.«

Ihr war anzusehen, dass sie ihm den letzten Satz nicht glaubte. Und er glaubte nicht, dass er ihn gesagt hatte.

Kurz darauf verließen sie die Bar, weil er ihr unbedingt noch etwas zeigen wollte, und diesmal zögerte er nicht und hielt ihr den Arm hin. Sie nahm ihn dankbar an, und dicht beieinander gingen sie weiter. Die Kälte konnte ihnen nichts mehr anhaben.

»Wolln Se ’n Bleistift kaufen? Oder hier, ne Schere? Erstklassiger … Dings, ich schwör’s.«

Sie kauften nichts, gaben dem Mann mit dem seltsam eingedellten Kopf aber zwanzig Cent, um ihn loszuwerden, denn er verströmte einen penetranten Geruch nach ranzigem Fett, stockfleckiger Wäsche, in der Sonne verwesendem Fisch und Formaldehyd, der nicht zu ertragen war. Der Kerl machte sofort die Biege, fröhlich grinsend das Geld in seiner Hand betrachtend. Die Duftwolke stellte sich als hartnäckiger heraus.

Nun hatte er Beauvoir zu jenen gebracht, die schon am Grund des Bodensatzes angekommen waren. Seit sie das Flophouse betreten hatten, eine Absteige, in der es Bier für einen Nickel und einen Schlafplatz für einen Dime gab, war es rasch voller geworden. Jetzt, um kurz nach eins in der Nacht, herrschte Hochbetrieb. Auch die Gefallenen wollten für ein paar Stunden im Warmen schlafen. Die Männer hier waren nicht mehr in der Lage, ihre Verzweiflung zu verbergen; sie prangte als offene Wunde auf ihren verwüsteten Gesichtern, rot wie frisches Hack, das diese Stadt genüsslich langsam durch den Fleischwolf gedreht hatte.

»Wie schmutzig die armen Kerle sind«, sagte Beauvoir, ihr Mund seltsam geschrumpft unter den Eindrücken. »Es sieht aus, als ginge ihnen der Dreck bis auf die Knochen.«

»Viele von denen sind Veteranen, traumatisiert vom Schlachtfeld gekommen und nicht willens oder in der Lage, zu ihren Familien zurückzukehren. So gesehen hatte ich großes Glück. Ich habe nie jemanden getötet.«

Ihre Augen funkelten dunkel. »Auch als Sanitäter werden Sie genug Furchtbares erlebt haben.«

Er beschloss, das Thema zu wechseln, und zum Glück hatte er etwas ziemlich Gutes in petto. »Sehen Sie die Wasserstoffblondine da an der Kasse? Lorraine Kimion. Alles, was ich von moderner französischer Literatur weiß, habe ich von ihr.«

»Sie scherzen mal wieder.«

»Mitnichten. Nachts führt sie den Schuppen hier, und tags zerstreut sie sich mit Lektüre und Kokain. Zwischendurch ist sie mal im Gefängnis, mal im Krankenhaus, aber sie ist immer auf dem Laufenden. Warten Sie!«

Er stand auf und ging zur Kasse, und schon bald kam er mit einer angefixten Lorraine zum Tisch zurück. Sie umarmte Beauvoir überschwänglich und legte sofort los.

»Wie weit ist Malraux mit seinem neuen Buch? Wird es einen zweiten Band geben? Und Sartre, was ist mit Die Wege der Freiheit? Hat er den Zyklus schon abgeschlossen?«

Beauvoir wechselte einen sprachlosen Blick mit ihm, dann fing sie sich wieder, und er war für die nächsten zehn Minuten aus dem Gespräch abgemeldet.

Zum Dank für die Informationen war auch Lorraine bereit, etwas preiszugeben. »Viele Kerle geben ihre letzten zehn Cent lieber für zwei weitere Bier aus als für einen Strohsack oben im Schlafsaal. Denen erlaube ich, kostenlos drüben im Korridor bei den Toiletten zu schlafen. Wollen Sie’s sehen, Madame?«

Beauvoir wollte, aber auf den Anblick war sie im Gegensatz zu ihm nicht vorbereitet.

Die meisten Männer schliefen im Sitzen, an die Wand und die Glücklicheren in eine Ecke gedrückt, einer hatte sich auf einem Tisch zusammengerollt. Sie schliefen in ihrem eigenen und fremdem Dreck, mit hängenden Kiefern, während Ungeziefer auf ihnen herumwanderte. Der Rest ihres Körpers blieb angespannt, sicher würden sie sich kaum rühren können, wenn sie erwachten. Vollkommene Entspannung hätte eine Schutzlosigkeit bedeutet, die sie sich nicht leisten konnten.

»Mein Gott«, sagte Beauvoir und griff nach seinem Arm. »Ich glaube, für heute habe ich genug gesehen.«

Draußen lag die schwarze Decke der Hochbahn schwer über ihnen. Er bestand darauf, ein Taxi zu nehmen und sie in ihrem Hotel abzusetzen. Beauvoir war einverstanden. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie war etwas grau um die Nase, und so hielt er es für eine gute Idee, auf dem Weg noch einmal zum unbeschwerten Anfang des Abends zurückzukehren.

»Warum haben Sie eigentlich ausgerechnet die Partisan Review als Erkennungszeichen gewählt? Ich muss Ihnen sagen, ich kann die Köpfe dahinter nicht ausstehen und hätte Ihnen deshalb noch beinahe abgesagt.«

Sie sah ihn überrascht an. »Tatsächlich? Na, dann wird es Sie sicher freuen, dass ich mit ebenjenen in New York in einen heftigen Streit geraten bin. Erst der Literatur wegen, und als die Politik ins Spiel kam, war es ganz aus.«

»Dann bin ich ja beruhigt.« Das war er wirklich, gleich in doppelter Hinsicht, also blieb er dran. »Diese Typen brauchen Idole, weil sie in sich selbst keine Stütze finden; darum haben sie Stalin bewundert, darum sind sie zu Trotzki übergegangen, und darum ist jetzt die sogenannte Tradition ihr Abgott und die Rechtfertigung für ihren Hass. Ich sage Ihnen, diese Idioten verabscheuen alle lebenden Schriftsteller, weil sie selbst keins von beidem sind. Weder Schriftsteller noch lebend.«

Eine kurze Stille trat ein, dann sahen sie sich an. Beauvoir schlug die Hand vor den Mund und lachte. Er fiel ein, und als sie sich wieder beruhigt hatten, lehnte Beauvoir sich an ihn.

»Ich will noch nicht wieder in mein furchtbares Hotel. Möchten Sie mir vielleicht Ihre Wohnung zeigen?«

Er legte den Arm um sie. »Mit dem größten Vergnügen.«

Auf der Treppe nach oben war aus dem Nichts plötzlich der Kater maunzend um ihre Beine gestrichen, jetzt lag er schnurrend vor dem Ofen und ließ es sich gefallen, von Beauvoir gestreichelt zu werden.

»Sieht so aus, als ob es unentschieden stünde, müsste der Tiger sich zwischen Ihnen und seinem Ofenplatz entscheiden. Sie können sich geehrt fühlen.« Als er nach dem Wasserkessel griff, fiel sein Blick auf die Stapel alter Zeitungen, die sich auf dem Linoleum türmten. Er hatte nicht aufgeräumt, aber wie hätte er das auch ahnen sollen? »Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe auch ein paar französische Schallplatten. Was soll ich auflegen, Charles Trenet vielleicht?«

»Gern.« Sie stand auf und sah sich ein wenig um, während er den Kessel aufsetzte. »Gemütlich haben Sie’s hier.« Sie ging weiter ins Schlafzimmer, strich mit den Händen über die bunte Tagesdecke auf dem Bett und setzte sich dann darauf. Sie rührte sich nicht, bis er mit dem Kaffee kam.

»Ich könnte ewig auf dieser Mexikanerdecke sitzen«, sagte sie, ohne ihn anzusehen, und brach plötzlich in Tränen aus, verbarg das Gesicht in den Händen.

Die Eindrücke im Flophouse hatten ihr doch nachhaltig zugesetzt. Er stellte den Kaffee beiseite und ging zu ihr, legte ihr tröstend eine Hand in den Nacken, und sie griff nach seinem Arm, nachdrücklich, bis er neben ihr saß und sie hielt. Irgendwann lehnte sie die Stirn an seine, ihre Wange an seine, und dann lagen seine Lippen auf ihren.

Wenig später fand er sich im Bad wieder, um frische Bettwäsche aus dem Schrank zu holen. Als er mit den Laken über dem Arm wieder ins Schlafzimmer kam, lag sie bereits ausgezogen unter dem Plumeau.

»Ich mag es, wenn es nach Ihnen riecht«, sagte sie.