Kapitel 4 – Theo
Lady Cunningham schob mich in die Kutsche hinein, denn in unserer Nähe hielt keine Droschke. Die Kutsche war antik, abgenutzt und stank nach Schweiß. Dennoch erfüllte sie ihren Zweck. Im Schein der Straßenlaternen erreichten wir unbeschadet Lady Cunninghams Haus und. Wenn auch mit einigem Würgen der Lady.
Im Haus empfing uns eine Frau mittleren Alters. Trotz ihrer dunkelbraunen Hautfarbe konnte ich schmale Fältchen um ihre Mundwinkel erkennen, die sie sofort sympathisch wirken ließen.
»Guten Abend, Louise.«
Lady Cunningham hatte ihren Haushalt einer Schwarzen anvertraut? Ich mochte sie unwillkürlich noch ein wenig mehr. Sie gefiel mir schon deshalb, weil sie Rack Kontra gab, zumal er das nicht von einer Frau erwartete. Aber mit diesem Wissen über sie, war sie für mich gleich noch viel liebenswürdiger.
»Guten Abend, Lady Leonora.« Louise knickste perfekt und auch ihre Aussprache erinnerte mich an die einer Hochwohlgeborenen und nicht an die einer schwarzen Bediensteten, wie sie in anderen Haushalten künstlich dumm gehalten wurden. »Wie geht es Ihnen?«
»Ausgezeichnet. Danke der Nachfrage, Louise.« Lady Cunningham zog ihre Handschuhe aus und reichte sie einer Dienstmagd, die mit einem Tablett neben ihr lief. »Wie läuft der Haushalt?«
»Jenna ist erkrankt und fällt aus, aber Daryll und Claire haben ihre Aufgaben solange übernommen.«
»Was hat das arme Kind?« Wir liefen durch die weite Eingangshalle auf einen von Kerzenhaltern erleuchteten Raum am Ende der Halle zu.
»Sie hat Fieber und Schüttelfrost. Der Arzt meinte, es wäre in ein paar Tagen vorbei.« Louise knickste erneut. »Verzeihen Sie, dass ich Sie nicht informiert habe. Ich hoffe, es war in Ordnung, dass ich den Doktor rief.«
Lady Cunningham blieb abrupt stehen. Zunächst glaubte ich, dass sie ihrer Angestellten eine Ohrfeige verpassen wollte, wobei ich mich gleich darauf fragte, ob das wirklich der Art der weltoffenen Lady entsprach. Stattdessen packte sie Louise an der Schulter. »Zum hundertsten Mal: Wenn jemand von euch erkrankt, rufst du den Doktor. Keine Widerrede. Ich möchte nicht, dass jemand von euch zu diesen Pfuschern am Hafen geht und mit mehr Krankheiten nach Hause kommt, als er vorher hatte. In Ordnung, Louise?«
Die Verwalterin nickte und senkte demütig den Kopf. Auf ihren dunklen Wangen zeichnete sich ein rosa Schimmer ab.
Lady Cunningham ließ sie los und drehte sich wieder um. »Gut. Gab es wichtige Post, Louise?«
»Nur die üblichen Einladungen. Die wichtigen habe ich Ihnen in Ihren Salon gelegt, die restlichen wie angeordnet mit einem freundlichen Brief abgelehnt.«
Ich lächelte. Louise konnte schreiben. Genau wie ich. Ich freute mich immer mehr darüber, die Lady zu kennen.
»Danke schön, Louise. Wärst du so freundlich und würdest bitte Theo hier die Liste der Adressen zeigen, die wir für den Weihnachtsball von vor drei Jahren benötigten?«
»Natürlich, Lady Cunningham.« Louise wandte sich an mich, musterte mich einmal von unten nach oben, sagte jedoch nichts zu meinem Erscheinungsbild. Erst da fiel mir siedend heiß ein, dass ich immer noch die zerschlissene Kleidung eines Bettlers trug. »Folge mir bitte.«
Stumm liefen wir durch die Gänge, eine Treppe hinunter auf eine Ebene, auf der es nur in den Zimmern nach Norden hin Fenster gab. Ich blieb vor einem stehen. Vor mir erstreckte sich die Schwärze der Nacht in einem Garten.
»Sie bewahren sämtliche Korrespondenz auf?«, fragte ich, als wir vor einem Zimmer stehenblieben.
»Die Lady wünscht es. Sie plant immer wieder neue Veranstaltungen, und wenn dies der Fall ist, sucht sie ihre Gäste nach der Häufigkeit ihrer Besuche aus.«
»Häufigkeit der Besuche?«, fragte ich. Dieses Leben mit Bällen, Soirees und Musicals entzog sich meiner Lebenserfahrung. Und ich war nicht traurig darum. Wenn ich nachts durch Saintsgate lief, kamen mir manchmal junge Männer der Gesellschaft entgegen. Sie trugen Kleidung, die zu steif für jede Flucht waren, die Schuhe klapperten hart und unbequem über die Bürgersteige und viele von ihnen wirkten nicht glücklich - lediglich betrunken.
»Lady Leonora lässt mich eine Liste führen, auf der ich notiere, wie oft ein Gast bei ihr war. Wenn sie merkt, dass sie jemanden zu häufig einlädt, tauscht sie ihn gegen jemand anderen aus, der bisher nur einmal die Ehre hatte.« Louise öffnete die Tür. Der Schlüssel glitt in die Tasche ihrer Schürze zurück.
Sie trat als Erste in den düsteren Raum und entzündete zwei Kerzenleuchter, die auf einer Kommode direkt neben der Tür standen.
Der Salon, in den mich Louise führte, war größer als unser gesamtes Büro. An den Wänden hingen Ölgemälde in pompösen Holzbilderrahmen, die Möbel waren allesamt poliert und perfekt zueinander ausgerichtet und leichte, rote Stoffvorhänge verdeckten die Fenster. Alles in dem Raum schien »Reichtum« zu schreien und doch war es eine spielerische Art des Reichtums. Nirgendwo glitzerten Gold- oder Silberverzierungen. Alles wirkte gewöhnlich - mal abgesehen von der Tatsache, dass es dies eben nicht war.
»Bei allen heiligen Kühen!«, entfuhr es mir.
»Die Unterlagen befinden sich dort in der Vitrine.« Louise deutete auf eine lange Reihe Regale, vor der ein Schreibtisch stand.
»So viele Ordner?«, fragte ich erneut. Und es klang sogar in meinen Ohren beeindruckt.
»Wie gesagt: Lady Leonora lädt gerne ein und tut dies bereits seit ihrem Debütantinnenball.«
Ich schmunzelte. »Ist so ein Debütantinnenball wirklich so weiß, wie alle sagen?«
Louise sparte sich ihren Kommentar und zog einen dunkelblauen Hefter hervor. Er beulte sich in der Mitte aus, da dort die Kopien einiger Einladungen lagen, sowie eine Liste der Eingeladenen. Es waren zehn Seiten. Ich stöhnte, als ich die Zettel grob überflog. Die Schrift zu lesen war kein Problem. Wer es auch notiert hatte, war ein Meister der handschriftlichen Notizen. Davon konnte selbst ich mir noch eine Scheibe abschneiden.
»Wonach genau suchen Sie?«, fragte Louise schließlich und nahm mir einen der Zettel ab.
»Einen Professor Simion. Er soll bei einem Ball gewesen sein. Welchen genau, sagte Lady Cunningham ja bereits.«
»Die Unterlagen halten wir in den Händen.« Louise nahm mir weitere zwei Blätter Papier ab und ging die Liste durch. Ich tat es ihr nach, fuhr mit dem Finger über die Namen, um keinen zu verpassen. Doch auf dem ersten Blatt hatte ich keinen Erfolg. Die einzigen Namen, die ich erkannte, waren der Anführer der Kaufmannsgilde - Harvey Lewis Dellbridge - und Lady Melissa Manstride, eine Herzogin, über die ich einmal in der Zeitung gelesen hatte. Aber kein Professor Simion.
»Ich glaube, ich habe ihn gefunden.« Louise tippte auf die Unterseite ihres Blatts. »Professor Burkley Simion.«
»Steht dort die Adresse?«, fragte ich Louise und nahm den Zettel aus der Hand.
»Natürlich. Ich notiere alle Daten, damit wir nicht lange suchen müssen.«
»Selbstverständlich. Verzeihung, ich wollte nicht unhöflich erscheinen.« Ich übte mich in den Höflichkeitsfloskeln und hoffte, dass die Hausdame meine Entschuldigung annahm.
Sie nickte mit leicht schräg gestelltem Kopf und nahm mir das Blatt ab. Mit einem wedelnden Handzeichen scheuchte sie mich aus dem Salon, löschte die Kerzen und verschloss den Raum sorgfältig.
Jean durfte ich wohl lieber nichts von diesem Raum erzählen, der so sorgfältig verriegelt war. Das wäre für die nur eine Herausforderung gewesen. Sie wäre eingebrochen und hätte sämtliche Adressen der Adligen gestohlen. Obwohl … wahrscheinlich kannte sie die längst.
Louise führte mich zu Lady Cunningham zurück, überreichte ihr die Liste mit einem Knicks, kehrte dann den Flur zurück und bog nach rechts unter der Treppe ab.
»Da haben wir es doch. Er lebt im Viertel Mathma . Stimmt, jetzt erinnere ich mich daran, dass er von einem Labor im Nebengebäude seines Hauses sprach. Oder anders herum. Er lebt und arbeitet dort.« Lady Cunningham nickte zufrieden. »Das erste Mal, dass ich etwas zu diesem Fall beitragen konnte.«
»Sie sind eine Bereicherung für diesen Fall, Lady Leonora.« Lady Cunningham . »Ohne ihre finanzielle Unterstützung hätten wir gar nicht die Voraussetzungen und wahrscheinlich noch nicht mal einen Fall.«
»Geld kann jeder Idiot zahlen. Ich will mich als Detektiv betätigen. Setz dich bitte in den Salon. Byron bringt dir eine Erfrischung. Warte dort, bis ich fertig bin.«
Ich wollte erst abwinken, doch dann dachte ich mir: Warum? Wenn ich schon mal die Chance hatte, in einem Haus der Oberklasse bedient zu werden, konnte ich das auch nutzen.
Lady Leonora ging zu einem Seitentisch, betätigte eine Glocke und folgte Louise nach rechts unter die Treppe.
Ich blieb in der Empfangshalle der Villa und wartete darauf, dass mich jemand zu dem Salon führte. Tatsächlich kam einen Moment später ein hochgewachsener, dürrer Mann die Treppe herunter. Bei meinem Anblick legte er zunächst den Kopf schräg, ehe er die letzten Stufen hinunterlief.
»Sie haben geläutet, Sir?«
Ich konnte mir knapp ein Lachen verkneifen. Die steife, näselnde Stimme des Mannes wurde nur von der Steifheit seiner Kleidung übertroffen. Wie er in diesem unbeweglichen Anzug laufen konnte, war mir ein Rätsel.
»Sind Sie Byron?«, fragte ich mit einem breiten Lächeln.
»In der Tat, Sir. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Lady Cunningham bat mich, im Salon zu warten, und bittet Sie darum, einige Erfrischungen zu servieren.«
Allein die Worte auszusprechen, war berauschend. Ich fühlte mich sofort, als ob ich jeden Tag in dieser Gesellschaft verkehrte. Gleichzeitig klang ich, als ob nicht ich die Worte ausgesprochen hätte, sondern ein fieser kleiner Wurm in meinem Verstand.
»Folgen Sie mir bitte in den Salon, Sir.« Byron marschierte durch die Eingangshalle voran nach links und in einen Raum hinein, der diesmal nach Reichtum brüllte. Die Rahmen der Vitrinen waren mit Goldkanten eingefasst, Silberteller standen auf einem Tisch in der Mitte des Raums bereit. Edel verzierte Stühle mit dicken Lederpolstern standen um den Tisch herum. In den Ecken befanden sich vier Ohrensessel, mit jeweils einem kleinen Tisch daneben. Darauf lagen Nähnadeln und Wolle. Nur auf einem befand sich ein Teeservice.
Die schweren Brokatvorhänge wirkten wie Türen, durch die man lieber nicht gehen sollte.
Ich fühlte mich augenblicklich unwohl. Wenn ich hier etwas zerstöre, muss ich mein Leben lang die Schulden bei Lady Leonora abbezahlen und würde dennoch nicht alles zusammenbekommen.
»Setzen Sie sich. Welche Erfrischung wünschen Sie, Sir?«
»Ein Kamillentee wäre ausgezeichnet, Byron. Vielen Dank.« Ich hasste Kamillentee, aber ich bezweifelte, dass der Butler mir einen Whiskey eingießen würde, geschweige denn Kaffee im Haus hatte. Und Kamillentee war das einzige, was mir auf die Schnelle eingefallen war.
»Kommt sofort, Sir. Falls Sie sich die Zeit vertreiben möchten: In der hinteren Regalreihe befinden sich mehrere Klassiker der Geschichte.«
Ich nickte ihm zu und ging tatsächlich zu dem Regal. Bei Byron war ich mir nicht sicher, ob er testen wollte, dass ich lesen konnte oder er nur höflich war. Seine Mimik war in etwa so beweglich wie die von Jean.
Byron verschwand aus dem Salon und ließ mich mit meinen Gedanken zurück. Professor Burkley Simion. Mit Aeronautik konnte er zumindest nichts zu tun haben. Sonst hätte ich den Namen bereits gehört gehabt. Vielleicht war er insgesamt nur ein Wissenschaftler von vielen.
Ich schüttelte den Kopf. Eher unwahrscheinlich. Warum sollte The Stick ihn holen, wenn er nicht der Beste in seiner Sparte der Forschung war? Wenn ich ein Schurke wäre, der eine Maschine baut, würde ich zumindest keinen zweitklassigen Forscher an mein Werk lassen.
Professor Simion musste verdammt gut in der Zahnradtechnik sein. Nur, für was brauchte The Stick ihn genau? Ich versuchte mir einen Reim darauf zu machen, doch mir kamen keine neuen Ideen. Also setzte ich mich.
Byron stellte mir den Tee hin und ich nahm die mit blauen Linien und Blumen bemalte Tasse in die Hand. Die Tasse war so zart, dass ich glaubte, sie jeden Moment zu fest anzupacken. In meinem Leben hatte ich zuvor noch nie eine Tasse so vorsichtig abgestellt.
»Entschuldige, dass du warten musstest, Theo. Ein Haushalt macht sich nicht von alleine.« Sie hielt einen Schirm in der Hand, von dem ich noch nicht wusste, was sie damit wollte. Zwar konnte ich durch den erleuchteten Raum nur Schwärze außerhalb der Fenster erkennen, aber Regentropfen rannen an dem Glas nicht herunter.
»Der Raum ist größer als das Büro, in dem Rack sein Büro hat.« Ich stockte und fragte mich, ob ich überhaupt andere Räumlichkeiten kannte. »Und Sie wohnen hier nur mit ein paar Dienern, Lady Leonora.« Cunningham , schob ich in Gedanken nach.
Sie winkte ab. »Größe ist nicht alles. Es geht darum, sich zu Hause zu fühlen. Ob dies eine Ecke in einem Zimmer oder eine Villa ist spielt keine Rolle.« Lady Cunningham verließ den Salon und deutete mir, ihr zu folgen. »So ein großes Haus hat auch Nachteile.« Sie spielte mit dem Saum ihrer Korsage und zupfte an einem Faden. »Als mein Mann verstarb, war es in diesem Haus leer. So leer wie eine Dose mit Tomaten, nachdem Jean sie in die Hand bekommen hat.« Lady Cunningham verzog ihre Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Trotzdem ich in diesem Haus Menschen um mich herum hatte, fühlte ich mich in der Weite der Räume verloren. Ich konnte eine gefühlte Ewigkeit durch das Haus schlendern, ohne jemandem zu begegnen und war dennoch nie für mich.«
Ich schluckte. Das hatte ich nicht vermutet. »Dafür hat man seine Ruhe. Ich würde alles geben, um ein eigenes Zimmer in unserer Wohnung zu haben. Rack ist wie ein Vater für mich, aber wir verbringen beinahe jede Minute miteinander. Ein wenig Privatsphäre fände ich angebracht.«
Ich biss mir auf die Lippen. Lady Cunningham war eine Klientin. Warum besprach ich meine intimen Gedanken mit ihr? »Entschuldigen Sie. Das hat hier nichts zu suchen«, schob ich daher sofort hinterher.
»Schon gut, Theo. Auch diese Seite kann ich verstehen. Du bist jung und möchtest sicher ein Mädchen kennenlernen.«
Abrupt blieb ich stehen. Das war nun wirklich kein Thema, das ich mit einer Lady besprechen wollte.
»Wartet die Kutsche vor der Tür?«, fragte ich und hielt ihr die Eingangstür auf.
»Natürlich. Bei der Aussicht auf Geld bleiben alle stehen. Der Kutscher hat vermutlich ein Nickerchen gehalten, während er gewartet hat.« Sie schwebte die Treppe hinunter, ohne auf die Stufen zu achten, und schlug mit dem Messinggriff des Schirms gegen den Bock. Tatsächlich zuckte der Kutscher zusammen und richtete sich im nächsten Moment auf. Ich musste schmunzeln.
»Wohin, M’Lady?«, fragte er mit dem breiten Akzent eines Mannes aus London.
»Bis in die Ravenstreet . Dort können Sie uns am Straßenende rauslassen.«
Der Kutscher zögerte nicht lange, obwohl er genau wissen musste, dass die Ravenstreet keine Gegend für eine Lady ihres Standes war. Es war das Ende von Boulevardrealm und der Beginn von Lastend . Ich war einmal dort gewesen, weil wir den Diebstahl eines Familiensiegels ermittelt hatten. Die Ravenstreet war der Schwarzmarkt von Victoria. Wenn man etwas verschachern wollte, konnte man es dort tun. Es gab keine Marktstände oder Personen, die man auf der Straße ansprechen konnte. Neben den Dieben war es eine der organsiertesten Banden in der ganzen Stadt. Jeder Schwarzmarkthändler hatte ein eigenes Gebäude. In allen Häusern gab es Geheimgänge oder –zimmer. Bei manchen waren sie nachträglich eingebaut worden, bei anderen waren sie von Anfang an vorhanden. Bobbys, die tatsächlich gegen die Schwarzmarkthändler ermittelten, fanden somit nie etwas Belastendes. Rack hatte das Siegel damals nur wiederbekommen, weil er sich in den Händler verwandelt hatte, der das Siegel verkaufen wollte.
»Wollen Sie wirklich dorthin?«
»Ich war in meinem Leben vermutlich öfter in der Ravenstreet als du und bisher hat mir niemand etwas getan.«
Ich runzelte die Stirn. »Die einzigen Adligen, die dort nicht behelligt werden, sind Kunden der Schwarzmarkthändler.«
Sie stand auf der Stufe der Kutsche und drehte ihr Kinn über die Schulter, ehe sie mir zuzwinkerte.
Ich schüttelte den Kopf. In manchen Momenten wirkte Lady Leonora unschuldiger als ein Kind und dann deutete sie an, dass sie regelmäßig mit Schwarzmarkthändler zu tun hatte.
In der Kutsche setzte ich mich ihr gegenüber. »Du kennst die Ravenstreet also auch?«, fragte sie.
»Bei meinem Beruf kein Wunder, oder?« Ich schmunzelte.
Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, da es in der Kutsche kein Licht gab. Nur vereinzelt wurde ihr Gesicht in gelbes Licht getaucht, wenn wir an einer Straßenlaterne vorbeifuhren.
»Theo?«, fragte sie schließlich.
Ich hob den Kopf. Sie beschäftigte ihre Finger. Diesmal spielte sie mit dem schwarzen Stoffüberzug ihres Schirms.
»Ich weiß, dass Rack keine Krankheit hat.«
»Wie bitte?« Mit diesen Worten verschaffte ich mir einen Moment Bedenkzeit, um herauszufinden, was sie genau meinte und wusste.
»Das, was im Gefängnis passiert ist.« Sie atmete tief ein und aus. »Ich weiß, dass es keine Krankheit war, die ihn da befallen hat.«
Verdammt! Bisher hatte diese Ausrede funktioniert, vor allem, da Rack für gewöhnlich nicht zu viele von seinen Pillen nahm, wenn er in der Öffentlichkeit war. Was sollte ich sagen? Mein Herz pochte mir bis zum Hals und ich schluckte hart, um es erneut an seinen angestammten Platz zu schicken.
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
»Ach, Theo. Deine Loyalität ist löblich, aber es ist nicht das erste Mal, dass ich jemanden sehe, der zu viele Drogen genommen hat.«
Sie hatte es ausgesprochen. Stand es mir zu, sie noch weiter zu belügen? Konnte ich Rack verraten? Durfte ich es? Musste ich es? Vor allem fragte ich mich, wieso sie damit zu mir kam.
»Wie kommen Sie darauf?« Ich versuchte erst einmal, mehr Informationen zu bekommen. Lady Cunningham hatte bisher nur eine Vermutung.
Oder?
Rack und sie hatten sich tagelang angeschwiegen und zeitweise ignoriert. Hatte sie ihn etwa darauf angesprochen?
»Er hat Pillen genommen, kurz bevor er seinen Anfall bekam. Diese Pillen sind sicher nicht gegen eine Krankheit gewesen.«
Na ja, ganz stimmte das nicht, aber ich verstand den Punkt hinter ihrer Vermutung. »Glaubst du nicht, dass er während eines Falls einen klaren Verstand haben sollte?«
»Hören Sie, Lady Leonora«, murmelte ich und lehnte mich vor. »Rack funktioniert genau so, wie er ist. Es gibt einen guten Grund, weswegen er diese Pillen nimmt. Gut, diesmal hat er es übertrieben, aber glauben Sie mir: Er weiß, was er tut.«
»Wir wären beinahe alle verhaftet worden.« Sie blieb genauso leise wie ich, doch der Druck hinter ihren Worten schob mich ein Stück von ihr her.
»Es hat funktioniert. Das ist alles, was zählt.«
»Aber was, wenn es nicht mehr funktioniert?« Das Licht einer Straßenlaterne schimmerte kränklich gelb in ihren Haaren, da sie den Kopf schüttelte. »Theo, ich möchte nicht, dass wir aufgrund seiner Unverantwortlichkeit zu Schaden kommen. Verstehst du das?«
»Ja, Lady Leonora. Aber ich kann Sie beruhigen. Rack nimmt diese Pillen, seit ich denken kann. Normalerweise weiß er, was er tut. Das im Gefängnis war eine Ausnahme. So was passiert nie wieder.«
»Bist du dir da sicher?« Lady Cunningham lehnte sich in ihren Sitz zurück und überließ mich meinen Gedanken.
Keinen guten Gedanken. Ich vertraute Rack bedingungslos mein Leben an. Aber was, wenn er tatsächlich mal nicht mehr wusste, was er tat? Was, wenn er einen Aussetzer in einer Verfolgungsjagd hatte? Oder noch schlimmer? Was, wenn er mich retten müsste?
Vielleicht sollte ich mit ihm reden und ihn bitten, keine Pillen mehr zu nehmen? Zumindest solange wir einen Fall bearbeiteten.