Kapitel 5 – Rack
Die Adresse des Professors führte mich zu einem modernen Labor, das von außen nach reichen Unterstützern stank. Das Gebäude war ein rechteckiger Klotz und relativ schmucklos. Nur bei genauerer Betrachtung erkannte man die teuren Spiegelfenster, die verzierten Holzrahmen und die mit Messingzeichnungen verzierte Holztür.
»Warum hast du mich mitgenommen?«, fragte Marcus, als wir vor der Tür standen.
Ich zuckte mit den Schultern. Weil Theo Geheimnisse vor mir hat
, dachte ich, sagte es aber nicht. »Ich will wissen, wie du arbeitest. Du bist Söldner, nimmst Befehle entgegen. Aber kannst du auch eigenständig denken, wenn es darauf ankommt?«
Ein Punkt, der definitiv stimmte, allerdings war es nur ein Vorwand, um mehr über den Kerl herauszufinden und das fehlende Vertrauen gegenüber Theo.
»Ich bin es eigentlich gar nicht gewohnt, Befehle entgegenzunehmen.« Er lachte leise auf. »Eigentlich war ich derjenige, der die Befehle gegeben hat. Früher. Aber selbst über mir gab es eine Instanz, der ich Folge leisten musste.« Ein bitterer Unterton legte sich unter seine Stimme und ich wusste nicht, ob er näher darauf eingehen wollte oder nicht. Allerdings war das der falsche Zeitpunkt, um zu reden. Das konnten wir am Abend noch machen. Derzeit sammelte ich Fragen, auf die ich später eingehen konnte.
»Heute wird es kaum dazu kommen, dass einer von uns Befehle geben muss.« Ich blickte ihn über die Schulter hinweg an und klopfte zeitgleich. »Und du bist auch nicht Theo, der alles sofort erledigt.«
»Worüber habt ihr gestern Abend diskutiert?«, fragte Marcus, während wir warteten.
Ich senkte den Kopf. Nachdem alle anderen weg gewesen waren - oder zumindest hatte ich das angenommen -, hatte ich Theo gefragt, ob er jemanden von The Sticks
Leuten kannte, aber er hatte es bestritten. Dabei hatte ich den Kerl seinen Namen sagen hören. Irgendwann würde er mir mehr sagen. Der kleine Nichtsnutz hatte nie Geheimnisse vor mir gehabt. Warum jetzt? »Nichts weiter. War nur das übliche Streitgespräch in einer Beziehung, die schon zu lange andauert«, murmelte ich mit einem Zwinkern.
»Das Gefühl kenne ich nur zu gut«, erwiderte Marcus und hörte auf zu lächeln. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch.
Der Wind wehte durch seine Haare, wirbelte sie über die Stirn, doch es störte ihn nicht. Dann begann er irgendeine Melodie zu summen, bis die Tür sich öffnete.
»Guten Tag, die Herrschaften. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Ein älterer Herr öffnete die Tür. Kahlköpfig, platte Nase und eine Brille, die viel zu groß für sein schmales Gesicht war. Der Beschreibung von Lady C nach, musste das Professor Simion sein.
»Professor?«, fragte ich zur Sicherheit.
»Ja?«
»Mein Name ist Rack und ich würde gerne mit Ihnen über etwas Dringendes sprechen.«
Der Professor zog die Stirn kraus, wodurch sein sowieso schon zerfurchtes Gesicht noch mehr Falten zeigte. »Ist mit meiner Tochter alles in Ordnung?«, fragte er bestürzt und nahm die Brille ab.
»Ich kenne Ihre Tochter nicht.« Im Hintergrund zischte ein Dampfkessel, gleich darauf entwich links neben der Tür Dampf und erfüllte die Luft mit einer Mischung aus Kohle und … Zimt? Der Professor musste das teure Gewürze aus Asien als Beimischung für seinen Dampfkessel ausprobiert haben.
»Es ist dringend, es hat aber nichts mit meiner Tochter zu tun? Jetzt machen Sie mich neugierig, Herrschaften. Treten Sie ein. Warten Sie, ich führe Sie gleich in mein Arbeitszimmer.«
Der Professor winkte uns durch die Tür. Dahinter zeigte sich mir eine Welt, wie ich sie zuvor noch nie gesehen hatte. Dampfkessel standen nebeneinander aufgereiht wie dicke Köche an der Wand. Jeder schien mit einem eigenen Rezept beschäftigt zu sein und köchelte vor sich hin.
Direkt darüber befanden sich stetig größer werdende Zahnräder, die scheinbar durch die Dampfkraft angetrieben wurden. Manche Zahnräder führten zu Geräten, deren Namen ich vermutlich nicht aussprechen konnte, wenn ich sie denn gekannt hätte, andere schienen ins Nichts zu führen.
»Warten Sie, ich muss meinem Assistenten Bescheid geben. Wir forschen an neuen Materialstrukturen für Zahnräder. Leichter und gleichzeitig stabiler als die bisherigen Eisenräder. Und er muss in ein paar Minuten die Legierung aus der Schmelze holen. In wenigen Stunden wissen wir, ob Zahnräder in der Zukunft noch effizienter hergestellt werden können.«
Ich nickte, auch wenn ich in diesem Moment nicht daran interessiert war. An jedem anderen Tag, wenn ich keinen Auftrag gehabt hätte, wäre ich ihm gefolgt und hätte zu verstehen versucht, wie die Maschinen funktionierten. Doch an diesem Tag wollte ich nur mit dem Professor reden.
Während wir warteten, stieß Marcus mich mit dem Ellbogen an. »Solche Männer hatten wir früher in der Flotte auch.« Er deutete mit dem Kopf auf Simion. »Sie lieben ihre Spielzeuge und wissen gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollen, wenn es was Neues zu entdecken gibt.«
»Lästere lieber nicht zu sehr über Wissenschaftler. Sie haben dir damals deinen Beruf überhaupt erst ermöglicht.«
»Versteh mich nicht falsch.« Er wedelte mit der laschen Hand. »Ich bewundere die Männer und inzwischen auch Frauen, die es schaffen, solche Wunderwerke der modernen Maschinerie zu erschaffen. Allerdings sind sie allesamt etwas … anders, wenn ich es mal vorsichtig ausdrücken darf.«
»Ich weiß. Aber Theo ist auch anders
, wenn es um das Thema Aeronauten geht.«
Marcus Miene verfinsterte sich. »Das habe ich gemerkt. Seitdem ich in diesem vermaledeiten Luftschiff mit ihm festhänge, löchert er mich in jeder freien Sekunde.«
Ich schmunzelte. »Du kennst ihn ein paar Tage, ich ihn seit zehn Jahren. Und wenn du glaubst, dass es irgendwann nachlässt: Mach dir keine Hoffnungen.« Ich schlug Marcus auf die Schulter und er zuckte zusammen, sagte jedoch nichts. Der Schmerz war noch nicht vollends vergangen.
»Entschuldige.«
Schritte näherten sich uns, und ich drehte mich von Marcus weg. Professor Simion kam mit ernster Miene auf uns zu. »So, Herrschaften. Folgen Sie mir bitte.«
Fasziniert lief ich an den irrwitzigsten Maschinen mit angehängten Schläuchen, verbundenen Rohren und untergestellten Kesseln vorbei.
Er schloss die Tür hinter uns und deutete mir und Marcus, uns auf die Stühle am breiten, schmucklosen Tisch zu setzen. Alles war so rein wie in einem Hospiz der Schnösel. Kein Krümel lag herum, alle Geräte und Möbel glänzten, als würden sie täglich geputzt werden.
»Was ist es denn, was Sie mir so dringend mitteilen müssen?«, fragte der Professor und ging zu einem schmalen Tresen, hinter dem sich Regale und Schränke befanden. Professor Simion holte drei Tassen aus dem Schrank und füllte sie mit Wasser aus einer Karaffe.
»Es geht um Ihre Zusammenarbeit mit The Stick
.« Ich dachte mir, dass die Wahrheit in diesem Falle den schnellsten Weg zum Erfolg bedeutete. Der Professor wirkte nicht wie jemand, der jeden Moment eine Waffe ziehen und auf uns schießen würde. Außerdem hatte Marcus recht: Er war zu sehr Wissenschaftler, als dass er auch noch Söldner sein könnte. Die meisten Menschen brachten es nur in einer Sparte zur Perfektion. Und da er in einem Labor arbeitete, das pro Woche zehn Mal so viel verdiente wie ich im gesamten Jahr, würde er sich eher der Profession der Wissenschaft zugeordnet fühlen.
»Wer ist das?«, fragte Professor Simion und brachte die Tassen mit einem Tablett zum Tisch.
Marcus runzelte die Stirn. »Sie waren doch gestern Abend bei seinen Handlangern oder nicht?«
Hatten wir den falschen Professor Simion erwischt? Gab es noch mehr von seiner Sorte in Victoria?
»Ach, sie meinen den Auftrag von den netten Gentlemen mit den Waffen?« Professor Simion stellte die Tassen vor uns ab und schob das Tablett an den Rand des quadratischen Tisches. »Es reizte mich, das muss ich zugeben. Aber ich habe abgelehnt.«
Überrascht zog ich meine Stirn kraus. »Sie haben abgelehnt?« Bisher war ich davon ausgegangen, dass The Stick
kein »Nein« akzeptierte und er jeden durch irgendeinen miesen Trick zum Gehorsam zwang. Auch wenn ich noch nicht wusste, wie er Jean dazu gebracht hatte, tatsächlich einen Anschlag zu verüben. Das ging weit über die Überzeugungsfähigkeiten eines Menschen hinaus. Ein Gedanke kam mir: Ob er auch verändert worden war? So wie ich? Bisher hatte ich noch niemanden wie mich getroffen. Hätte ich es, wäre ich demjenigen auf Schritt und Tritt gefolgt. Es wäre ein weiterer Hinweis bei der jahrelangen Suche nach meiner Vergangenheit gewesen.
»Meine Tochter bekommt ihr erstes Kind und ich möchte derzeit viel Zeit mit meiner Familie verbringen. Wissen Sie, es ist mein erstes Enkelkind, und ich bin genauso aufgeregt wie damals bei meiner Tochter.« Der Professor strahlte über das gesamte Gesicht und steckte sogar Marcus mit seinem Lächeln an.
»Herzlichen Glückwunsch, Herr Professor.« Marcus nahm einen Schluck Wasser. »Ein Enkelkind ist wie ein Jungbrunnen, der sie frisch hält.«
Neugierig schaute ich zu dem ehemaligen General hinüber. Hatte er Kinder? Bisher hatte er nichts dergleichen erwähnt. Ich überlegte einen Moment, was mir Theo über General James erzählt hatte. Da wurde mir klar, dass er kaum Kinder haben konnte. Vor Jahren war er mit seinem Luftschiff verschwunden. Wenn er Kinder hätte, wüssten sie mit Sicherheit, dass er noch am Leben war und womöglich hätte sich darüber ein Artikel in der Zeitung finden lassen. Und dann hätte Theo ihn mir vorgelesen. Selbst, wenn ich den Raum verlassen hätte. Oder gleich das Büro.
»Danke schön. Sagen Sie, kennen wir uns von irgendwoher?«, fragte der Professor und deutete auf Marcus.
Der senkte den Kopf, dann schüttelte er ihn. »Mit Sicherheit nicht. Ich habe so ein Gesicht«, murmelte er und versteckte sich hinter seinem Glas. »Hat jeder.«
»Professor«, lenkte ich rasch ab. Einen Besuch bei der Aeronautenschule und die dazugehörige Presse konnten wir derzeit nicht gebrauchen. »Was genau sollten Sie bauen?«
Der Professor erhob sich und nickte. »Der Auftrag reizte mich. Der Mann bat mich, ein Uhrwerk zu bauen, dass nicht von Dampfkraft angetrieben wird, sondern von der Sonne.«
Ich riss die Augen auf. »Energie aus der Sonne?« Einen Moment lang grübelte ich. »Sie meinen die Wärme, die umgewandelt werden würde?«
»Ganz genau. Angeblich hätte ein Wissenschaftler aus Spanien schon einen Weg gefunden, genau dies zu vollbringen. Sie glauben nicht, wie gespannt ich auf das wissenschaftliche Journal warte.«
Der Spanier! Dieses Teil musste sich in dem Koffer befinden. Aber was wollte er mit einem Antrieb durch Sonnenkraft? »Eine unerschöpfliche Energiequelle!«, entfuhr es mir.
Der Professor nickte und lief hinter mir vorbei. »Stellen Sie sich das vor: Solange die Sonne scheint, könnte alles betrieben werden, was Energie benötigt, um zu laufen.«
Marcus saß neben mir und ich konnte seine in Gedanken gestellten Fragen förmlich hören. Ich drehte mich zu ihm, ballte eine Faust und hob sie an, um sie als Symbol für die Sonne zu benutzen. »Die Sonne strahlt Wärme ab, das merken wir im Sommer, wenn sie durch den Nebel bricht. Seit der Dampfkraft weiß jeder, dass man mit Wärme Maschinen antreiben kann. Die Wärme wird in Energie umgewandelt und schon läuft die Maschine.« Ich ließ ihm einen Moment, um die Erkenntnis einsickern zu lassen. Wie gut der Söldner in der Akademie beim Thema Physik aufgepasst hatte, konnte ich nicht einschätzen. »Der gegenwärtige Nachteil ist, dass wir die Kohle zum Erzeugen der Wärme ständig nachfüllen müssen. Jetzt stell dir vor, es gibt keine Zufuhr, die wir beschaffen müssen, sondern wir nutzen die vorhandene Wärme der Sonne! Professor, das ist genial!«
Der Professor stellte sein Glas ab und applaudierte mir. »Sie interessieren sich wohl für die Physik. Bravo! Diese Energie wäre unerschöpflich, solange die Sonne weiter existiert.«
»Eine unendliche Energiequelle?«, fragte Marcus noch einmal. Physik schien nicht die Stärke des ehemaligen Generals zu sein.
»In der Tat. Stellen Sie sich vor, was für ein innovativer Schritt dies in der heutigen Dampfmotorentechnik wäre. Die Dampfschwaden wären wir los, wir könnten die Motoren beinahe geräuschlos betreiben und es wäre alles so viel einfacher. Wissen Sie jetzt, warum mich der Auftrag so gereizt hat?«
»An Ihrer Stelle wäre ich auch ins Schwanken geraten.« Ich wurde ernst. »Aber ich muss noch einmal fragen: Die Männer von The Stick
haben Sie gehen lassen, nachdem Sie ihnen abgesagt haben?«
Der Professor stand mir gegenüber und lehnte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor, um mir zuzuzwinkern. »Sind Sie wahnsinnig? Die Herren trugen Waffen bei sich. Ich habe mir einen Tag Bedenkzeit erbeten und vor ein paar Stunden einen Boten zu den Herren geschickt, um ihnen meine Absage mitzuteilen.«
Marcus sprang auf. »Sie haben Ihnen die Absage erst heute erteilt?«
»Was ist, Marcus?«, fragte ich und stand ebenfalls auf.
Etwas klirrte im Nebenraum und der Professor ging mit gerunzelter Stirn auf die Tür zu.
»Deine Fragen zu The Sticks
Leuten waren nicht unberechtigt. Sie lassen niemanden gehen, wenn er nicht für sie arbeiten will.« Marcus lief hinter dem Professor her. »Vor allem nicht, wenn sie von seinen Plänen wissen. Ich habe da Geschichten gehört.«
In dem Moment wusste ich, was Marcus befürchtete. Die Geräusche im Nebenraum wurden lauter. Etwas schepperte, als ob Metall auf Metall schlug. Jemand schrie.
Der Professor legte die Hand auf die Türklinke.
»Professor!«, schrie Marcus. »Nicht öffnen!«
Doch es war zu spät. Die Tür schwang in der Sekunde auf, in der Marcus noch rief. Der Lärm des Labors durchflutete den kleinen Aufenthaltsraum und überschwemmte meine Ohren.
»Deckung!«, brüllte Marcus und sprang hinter einen Schrank. Ich tauchte hinter einem Stuhl ab, den ich geistesgegenwärtig hochriss.
»Was tun Sie in meinem …?« Weiter kam der Professor nicht. Er wurde von einem der Männer gepackt und wie ein Sack über die Schulter geworfen.
»Sie wollen ihn entführen!«, rief Marcus und sprang aus seiner Deckung hervor. Geduckt rannte Marcus auf den Mann zu, der den Professor auf der Schulter trug und rammte ihn in vollem Lauf mit der Schulter. Die drei verschwanden durch die Tür.
»Oi!« So ein verdammter Mist! Wo war Marcus hin? Ich versuchte etwas von hinter meinem Stuhl zu erkennen. Der zweite Angreifer, der in den Aufenthaltsraum gestürmt war, schoss in meine Richtung. Ich duckte mich. Ein Revolver. Er trug einen Revolver. Sechs Schuss.
Vier hatte er verschossen. Komm, noch zwei
, dachte ich. Ich musste ihn wohl einladen. Neben mir lagen die Splitter meiner Tasse. Wann war die heruntergefallen? Egal. Ich griff danach und warf sie über die Kante des Stuhls in seine Richtung.
Eine weitere Kugel zischte an mir vorbei in die Wand hinter mir.
Ich warf erneut. Keine Reaktion. Diesmal schoss er nicht. Scheiße! Ich riss den Stuhl nach oben, nutzte ihn als Schild und rannte los. Dann fiel der Schuss. Er traf mich am Unterarm, riss mir die Haut auf. Ich rannte weiter, bis ihn der Stuhl erwischte. Mit aller Kraft drängte ich den Angreifer aus dem Aufenthaltsraum heraus, bis ich mit ihm im Labor stand. Ein Griff und er fiel auf seinen Hintern. Dadurch flog ihm die Waffe aus der Hand. Sogleich verschaffte ich mir einen Überblick.
Links von mir lehnte der Assistent von Professor Simion bewusstlos an der Wand. Ein weiteres Paar liegende Beine tauchte im Gang neben ihm auf. Zu wem diese gehörten, konnte ich nicht sagen. Der Entführer hatte Professor Simion fallen gelassen und kämpfte inzwischen mit Marcus. Der ehemalige General versuchte den Entführer, daran zu hindern, seine Waffe zu ziehen.
Der Professor hielt sich den Kopf, saß da und rührte sich nicht, als ob er von dem Kampf in einem Meter Entfernung vor seinen Füßen nichts mitbekam.
Ich sprang auf und lief los, wollte dem Professor zur Hilfe eilen. Ich kam keine zwei Schritte weit, da packte mich jemand am Bein und hielt es fest, so dass ich wie ein gefällter Baum auf den Marmorboden des Labors knallte.
Hinter mir lag mein Angreifer auf dem Boden und klammerte sich an meinem Bein fest, zerrte daran, als ob er es mir ausreißen wollte. Ich trat nach ihm, traf ihn im Gesicht, aber er ließ nicht los.
»Oi!«, brüllte ich und versuchte weiterhin mich zu lösen. Wenigstens waren es nur zwei Angreifer
, dachte ich und hoffte, dass sich der Professor bald in Sicherheit bringen würde. Aber der rührte sich nicht.
»Was wollt ihr von dem Professor?«, fragte ich, während ich mich mit einem Bein hochdrückte.
Der Kerl antwortete nicht. Das wäre auch zu schön gewesen, wenn der Handlanger des Bösen einmal seine Pläne offengelegt hätte. Ich holte mit meinem Bein im Halbkreis aus und trat mit voller Wucht gegen den Arm, der mein anderes Bein festhielt.
Vor Schmerz klemmte der Typ seinen Arm gegen seine Brust und ließ mich los. Sofort rannte ich weiter. Ich musste den Professor in Sicherheit bringen. The Stick
durfte ihn nicht bekommen.
»Professor Simion!«, rief ich, rannte an Marcus vorbei und schmiss mich neben den Professor auf die Knie. Er blutete am Kopf, wirkte dadurch ziemlich benommen. »Wir müssen hier weg. Können Sie laufen?«
Marcus krachte neben mir zu Boden. Sein Gegner packte mich an der Schulter und zerrte mich vom Professor weg. Dann schlug ihm in den Bauch und er ließ mich fallen.
Marcus stand wieder auf den Beinen, sprang raubkatzengleich über mich auf den Entführer zu und holte ihn erneut von den Füßen. Marcus kniete über dem Kerl und setzte ihm mit einer unaufhörlichen Folge aus Schlägen zu.
Auf allen vieren krabbelte ich zum Professor und packte ihn an der Hand. Als ich ihm aufhelfen wollte, schrie er auf. In dem Moment sah ich den Stab, dessen spitzes, schmales Ende aus seinem Bauch ragte. Erschrocken schluckte ich. Auf seinem dunkelblauen Kittel befand sich ein großer, nasser, roter Fleck. Und er breitete sich mit jeder Sekunde aus.
»Professor! Können Sie mich verstehen?«, fragte ich ihn, wusste aber nicht, was ich tun sollte. Ich presste mit meinem Handballen auf die Wunde, doch das Blut sickerte durch meine Finger, als ob sie kein Hindernis waren.
Der Wissenschaftler versuchte zu sprechen, öffnete den Mund, doch ich verstand ihn nicht.
»Sprechen Sie lauter!« Ich wusste, wie schwer es war, gegen die Schmerzen anzusprechen. Ich wusste aber auch, dass es machbar war, wenn man es wollte.
»Die Männer …«, flüsterte er neben meinem Ohr. »Sie wollen die Kontrolle!«
»Simion! Bleiben Sie bei mir. Hilfe kommt gleich. Welche Kontrolle?«
Die Augen des Professors flatterten. Sein Gesicht war so bleich wie die Wand hinter der Maschine, gegen die er gefallen war.
»Die Kontrolle über al…«
»Simion?« Ich nahm eine Hand von der Wunde und rüttelte an seiner Schulter. »Simion!«
Er reagierte nicht mehr. Sein Oberkörper war zusammengesackt und die Augen geschlossen.
Noch einmal versuchte ich den Professor zu Bewusstsein zu bekommen. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, mir alles zu sagen. Was meinte er mit »Kontrolle«? Was wollte The Stick
kontrollieren? Wen? Und wieso?
Jemand berührte mich an der Schulter. Ich fuhr herum und erkannte Marcus, der auch den zweiten Angreifer außer Gefecht gesetzt hatte. Beide Männer lagen am Boden und rührten sich nicht mehr.
»Wir müssen hier weg!«, murmelte Marcus und schaute sich im Raum um. Außer uns beiden regte sich niemand in dem Labor. Reagenzgläser lagen zersplittert auf dem Boden, Metallsplitter und Flüssigkeiten ergossen sich über den Marmor. Maschinen ruckelten weiter vor sich hin, als ob nichts passiert wäre.
Marcus riss an meinem Arm, zerrte mich auf. Ich spürte den Schmerz kaum, den seine Berührung auf der Schusswunde verursachte. Ich war taub, mein ganzer Körper war es. Vor meinen Augen, unter meinen Händen war ein Mann gestorben. Es war nicht der erste Tote in meinem Leben gewesen. Aber niemand war jemals so nah bei mir gestorben. Die meisten waren längst tot, wenn ich sie fand, oder zu weit weg, um mehr zu empfinden.
Aber dieses taube Empfinden, nachdem Professor Simion direkt bei mir gestorben war, fühlte sich an, als ob sein Geist durch meine Glieder gefahren wäre. Als ob er noch einmal meinen Körper nutzen wollte, um Leben zu spüren, ehe er es für die Ewigkeit aufgab.
»Komm schon!« Marcus zog und zerrte.
»Schon gut«, murmelte ich und gab seinem Drängen nach. Von meinen Fingern tropfte das Blut herunter. Ich hinterließ eine Spur auf dem bis auf ein paar Metallsplitter blitzblanken Marmor.
»Beeilung. Die Schüsse haben sicher jemanden aufgeschreckt. Die Bobbys können jeden Augenblick eintreffen.« Marcus stieß die Tür auf und rannte über den gepflegten Kieselweg im Vorgarten. »Und glaub mir, du möchtest nicht mit Blut an deinen Händen von diesen Banditen gefasst werden.«
»Sprichst du da aus Erfahrung?«, fragte ich aus einem Reflex heraus. Die Taubheit verschwand nach und nach und gab mir die Kontrolle über meinen Körper zurück. Ich verfiel in meine üblichen Muster, wenn ich einen Zeugen befragte.
»Nein, aber ein Freund von mir hatte vor langer Zeit ein ähnliches Problem. Los, links entlang und stopf deine Hände in die Manteltaschen!«
Ich runzelte die Stirn. Es war nicht das erste Mal, dass Marcus sich vor den Bobbys auf der Flucht befand. Bisher hatte ich angenommen, dass er als Söldner sicher den einen oder anderen fragwürdigen Job angenommen hatte. Aber jetzt fragte ich mich, ob er nicht doch mehr Erfahrungen mit den Bobbys gesammelt hatte, als er zugeben wollte.