Kapitel 6 – Theo
»Ehrlich, dich kann man in letzter Zeit nicht mehr rauslassen, ohne dass du dich verletzt. Du bist wie ein Hundewelpe – wenn man nicht ständig auf dich aufpasst, bringst du Krankheiten und Verletzungen mit nach Hause.«
Ich schimpfte seit ein paar Minuten mit Rack. Er hatte mich aus einem mir unerfindlichen Grund nicht mit zu dem Professor genommen, sondern stattdessen Marcus. Warum Marcus? Der war noch immer verletzt und er kannte ihn kaum.
»Beruhige dich. Ich habe es doch überlebt.«
Während ich Racks Arm versorgte, wischte er sich mit einem Tuch und einer Schüssel Wasser das Blut von den Händen. Lady Cunningham saß mit vor dem Mund gehaltenen Händen daneben, während Jean sich mal wieder ein Brot belegte.
»Beruhigen? Du bist angeschossen worden. Stell dir vor, er hätte dich ein paar Zentimeter weiter rechts getroffen.«
»Das hätte nicht passieren können. Dann hätte er den Stuhl getroffen.«
»Und dieser Stuhl war ein undurchdringlicher Schild gegen Kugeln! Dass ich nicht viel früher darauf gekommen bin, Rack.« Ich wurde lauter, ließ meinem Frust freien Lauf. »Wir sollten ab sofort immer einen Stuhl dabei haben, falls wir in ein Feuergefecht geraten!«
»Jetzt hör auf. Du hast schon schlimmere Verletzungen bei mir versorgt.«
Das stimmte wohl, aber das beruhigte mich nicht sonderlich.
»Er hat vor kurzem zugesehen, wie jemand gestorben ist. Vielleicht solltest du ihn nicht so hart angehen«, sagte Marcus und legte mir eine Hand auf die Schulter.
General Marcus James gab mir einen Ratschlag. Einerseits war ich gewillt, Rack weiterhin eine Standpauke zu halten. Er wurde immer unverantwortlicher, was seine Gesundheit anging. Erst das Zurennen auf eine Bombe, jetzt der Schusswechsel. Andererseits war es General Marcus James - der General Marcus James -, der da endlich mit mir sprach. Das wollte ich nicht aufs Spiel setzen. Ich nickte und versorgte stumm Racks Wunde. Wenigstens war sie nicht tief. Morgen wäre die Wunde nur noch eine von zahllosen Narben an seinem Körper.
»Was genau ist denn nun passiert?«, fragte Jean mit vollem Mund. Lady Cunningham saß stumm neben ihr und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Wir haben den Professor besucht, ihn zu seinem Besuch bei Ted gestern Abend befragt, und auf einmal tauchten diese Kerle auf.« Marcus stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen neben mir und erklärte mit kurzen prägnanten Worten die Ereignisse. »Sie wollten den Professor entführen, was wir zu verhindern versuchten. Im anschließenden Kampf wurde Rack angeschossen und der Professor getötet. Wir konnten entkommen, ehe die Bobbys auftauchten.«
»Wie konnte das passieren, Rack?«, fragte Lady Cunningham mit brüchiger Stimme. Ihre Finger zitterten, als sie sie vom Mund nahm. »Wurde er auch von einer Kugel getroffen?«
Rack schüttelte den Kopf. »Einer der Kerle hat ihn über die Schulter geworfen und verschwand mit ihm aus dem Aufenthaltsraum. Marcus rannte hinterher.«
Rack hob den Kopf. Marcus‘ Schultern waren nach vorne gesackt. »Ich rammte den Entführer von den Beinen. Dabei …« Marcus richtete sich auf und wandte seine Augen in die Weite des Raums. Doch er konnte vor der Ausführung nicht fliehen. Es war einfach zu wenig Platz, um sich zu verstecken. »Dabei fiel der Professor von der Schulter des Entführers und landete im Fallen auf einem Griff, der spitz nach vorne zulief. Fast wie ein Speer.«
Jean hörte auf zu kauen, ich stoppte das Abwickeln des Verbandes. »Du hast ihn also getötet?«, fragte Jean nach ein paar Sekunden und durchbrach die angespannte Stimmung. Sie kaute weiter, als wenn nichts gewesen wäre und biss erneut beherzt zu.
»Es war ein Unfall. Ich konnte nicht ahnen, wie er fällt und dass dort solch ein Griff war«, erklärte Marcus mit geballten Fäusten. »Aber ja, durch meine Unachtsamkeit ist er gestorben.« Marcus murmelte noch etwas, so leise, dass nicht einmal ich es direkt neben ihm verstand.
»Du hast ihn nicht getötet. Das waren die Entführer. Hätten sie ihn nicht entführen wollen, wäre das alles nicht passiert. Und der Auftrag kam mit Sicherheit von The Stick .« Rack erhob sich und befestigte seinen Verband auf den letzten Zentimetern selbst. Mir blieb nur, Nadel und Faden beiseitezulegen, um sie später zu reinigen. »Somit haben wir ein weiteres Opfer auf der Liste von The Stick . Inzwischen sind es zwei, seitdem wir uns mit dem Fall beschäftigen. Oder besser drei. Das Enkelkind des Professors wird ihn nicht mehr kennenlernen. Das muss ein Ende haben.«
»Aber wie wollen wir das Ganze stoppen?«, fragte ich und räumte die Tücher beiseite, die ich zum Reinigen der Wunde genutzt hatte.
»Wir halten uns weiterhin an den Plan. Wir werden Ted weiter ausspionieren.«
»Das bringt uns nicht weiter.« Jean schluckte den letzten Bissen ihres Brotes hinunter. »Wir sollten versuchen, bei ihm einzubrechen und herauszufinden, was Ted vorhat. Dann können wir ihn aufhalten.«
»Einbrechen wäre die falsche Vorgehensweise. Noch wissen die Leute von The Stick nichts von uns. Und so sollte es bleiben. Sie schrecken nicht vor Mord, Anschlägen und Entführung zurück. Was glaubst du, was sie mit uns machen, wenn wir uns offen vor ihnen präsentieren?«
Jean zuckte mit den Schultern. »Dann sollten wir uns nicht erwischen lassen.«
Unwillkürlich musste ich schmunzeln. Diese junge Frau hatte auf alles eine Antwort.
»Mumm hat die Kleine«, sagte Marcus. »Das muss man ihr lassen. Aber Rack hat recht: Wenn wir taktisch vorgehen, bleibt der Überraschungseffekt auf unserer Seite. Die Anonymität bietet den besten Schutz. Das solltest du als Diebin doch wissen.«
Ein Beben ging durch Marcus und übertrug sich auf meinen Arm. Er hatte sich geschüttelt. »Das war ein Zitat von General Simon Porter!«, entfuhr es mir. »Du hast gerade einen der Pioniere der Aeronautik zitiert.«
»Krieg dich ein. Jeder hat irgendwann mal irgendwas gesagt. Aber will man in der Vergangenheit leben oder jetzt handeln?« Marcus hatte die Hände in die Hüften gestemmt und schaute auf mich herunter. Ich fühlte mich wie einer von Marcus‘ Kadetten an Bord eines Luftschiffs, der den falschen Kurs gesetzt hatte. Zumindest glaubte ich, dass der sich so fühlte. Ich duckte mich unter seinen Worten und sagte zunächst nichts mehr.
»Noch einmal: Wir werden nirgendwo einbrechen, Jean!« Rack richtete sich an die junge Diebin.
Jean sackte auf ihrem Stuhl zusammen mit vor der Brust verschränkten Armen.
»Aber was machen wir dann?«, fragte Lady Leonora. »Ich meine, weiter Überwachen ist keine Lösung, oder? Wer weiß, wem er in der Zwischenzeit sonst noch Schmerzen zufügt? Der arme Professor wird niemals sein erstes Enkelkind kennen lernen, das Kind niemals seinen Großvater.«
Rack kam erneut zum Tisch, stützte sich mit seinem gesunden Arm darauf ab. »Ich denke, Überwachen bleibt im Moment unsere einzige, sichere Option.« Er wandte sich an Marcus. »Es sei denn, wir finden heraus, was der Professor mit seinen letzten Worten meinte.«
Lady Cunningham versteifte sich, während ich zum Schrank hinter mir ging und mir ein Glas Wasser aus dem mechanischen Wasserausschenker holte. Ein herrliches Gerät. Man füllte Wasser in ein Gefäß in der Schrankwand, hob einen Hebel und hielt sein Glas unter die Öffnung. Das Wasser schoss über eine aus Metall gegossene halbrunde Form hinunter und ergoss sich in das Gefäß.
»Welche letzten Worte?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Er sprach davon, dass die Männer die Kontrolle wollten. Die Kontrolle über al…«
»Über was?«, fragte ich und betätigte mich im Gegensatz zu der noch schmollenden Jean an der Diskussion.
»Ich vermute, er meinte alles, aber das grenzt es nicht ein. Wenn ich bedenke, dass alles doch ein dehnbarer Begriff ist.«
»Aber hilft uns das nicht zumindest ein wenig weiter?«, fragte Lady Cunningham und spielte mit der knisternden Verpackung des Käselaibs, den sie aus ihrer Speisekammer mitgebracht hatte.
»Wie? Wenn er die Kontrolle über alles übernehmen will, muss er Vorsteher der Gilden werden. Der hat mehr Macht als der Bürgermeister. Aber dazu braucht er keine Maschine, sondern Macht und Geld. Wie passt die Maschine in diesen Plan?«
Alle schwiegen. In meinem Gehirn rumpelte es, ich versuchte herauszufinden, wie die Verbindung sein konnte. Warum The Stick eine Maschine brauchte. »Baut er eine Waffe, mit der er alle anderen einschüchtert?«, fragte ich in die Stille hinein.
»Dieselbe Idee hatte ich auch gerade«, sagte Marcus und nickte mir zu.
Mein Herz machte einen freudigen Hüpfer. Ich hatte denselben Gedanken wie General Marcus James. Vielleicht würde ich eines Tages auch die Möglichkeit haben, ein ebenso großer Luftschiffkapitän zu werden wie er.
»Eine Waffe?« Rack grübelte. »Und wie wollte er sie verstecken? Wenn er alles kontrollieren will, muss diese Waffe dementsprechend groß sein, sonst könnten Menschen der Kontrolle entfliehen.«
Ich presste die Lippen aufeinander. »Vielleicht hat der Professor übertrieben. Vielleicht meinte er etwas völlig anderes?«
»Vielleicht hat er vor, die Kontrolle über die Gilden zu übernehmen?«, schlug Lady Cunningham vor. »Damit hätte er praktisch die Kontrolle über alles.«
»Wie sollte ihm das gelingen?« Rack deutete mir, ihm auch einen Schluck Wasser zu bringen.
Lady Cunningham fing an, mit ihren Händen zu erklären. »Stell dir vor, er besorgt sich seine eigene kleine Armee aus Söldnern. Wie wir an seinem Beispiel erkennen, ist das schon passiert.« Sie deutete auf Marcus. »Und mit dieser Armee besorgt er sich die einzelnen Banden. Die hat er bereits unter seine Kontrolle gebracht, wie wir aus mehr oder minder zuverlässiger Quelle erfahren haben.« Sie holte Luft und wirbelte mit einer Hand immer wieder im Kreis. »Und so mir nichts, dir nichts hat er eine Privatarmee aus Dieben, Schmugglern, Schwarzbrennern und Mördern. Sehen Sie, worauf ich hinaus möchte?«
Rack nickte. »Mit dieser Armee hätte er die Kontrolle über die dunklen Seiten von Victoria. Und mit dieser dunklen Seite kann er die einfachen Bürger und wehrlosen Gilden übernehmen.« Rack streckte eine Hand in die Luft. »Aber was ist mit der Maschine? In Ihrem Plan kommt keine Maschine vor.«
»Sind wir denn sicher, dass diese Maschine wirklich etwas mit der Kontrolle zu tun hat?«, fragte ich leise und stellte das Wasser vor Rack ab.
»Du meinst, sie könnte für was anderes da sein?« Jean lehnte sich das erste Mal seit ihrer Abfuhr von Rack interessiert vor.
»Ich meine, wir sind vor ein paar Tagen in eine Übergabe reingeplatzt. Dieses Bauteil könnte für eine Maschine auf dem Schwarzmarkt gewesen sein. Woher wissen wir, dass es zu dem gehört, was The Stick plant? Eigentlich wissen wir nichts von seinem Plan. Wir nehmen nur an, etwas zu wissen.«
Erneut breitete sich Schweigen in der Gruppe aus. Auf der weiten Brücke gab es kaum etwas, was die Geräusche zurückwerfen konnte. Überall standen Schränke oder Gerätschaften herum, die jeden Hall schluckten.
»Wir wissen es nicht. Da hast du recht. Jeder in diesem Raum nahm es bisher an. Theo, was du gesagt hast, stimmt.« Rack stand auf und lief um den Tisch herum. Dabei berührte er jeden einzelnen von uns an der Schulter. »Wir sollten uns von dem Gedanken lösen, dass es hier um eine Maschine geht. Wir müssen freier denken, weiter denken. Über die Grenzen des Logischen hinaus. Und wir müssen Beweise finden.«
Rack schlug sich in die Faust.
»Gerade heute sollte bei Ted viel passieren. Vielleicht kommt The Stick vorbei.« Marcus drängelte sich an mir vorbei und stellte sich zu Rack. »Ich übernehme den ersten Wachdienst mit dir.«
Rack legte ihm eine Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. »Wenn die beiden anderen wieder bei Bewusstsein sind, kehren sie dorthin zurück. Sie kennen dein und mein Gesicht. Lady Leonora, Sie kommen mit mir.«
Enttäuscht senkte ich den Kopf. »Was ist mit mir? Ich hänge schon den ganzen Tag hier fest!«
»Du bleibst hier und passt auf die anderen auf. Marcus‘ und Jeans Wunden sind noch nicht vollständig geheilt. Sie brauchen jemand, der sie beschützt.«
Ich runzelte die Stirn. »In einer Festung, die niemand kennt, geschweige denn, die ein Elefant nicht einmal finden würde, wenn er den Dreck über uns monatelang wegzerren würde?«
»Genau das!«
Täuschte ich mich oder war Rack wütend auf mich? Seine Stimme klang so kalt. Ich kannte seine übliche Abweisung, seine raue Art, aber er hatte immer eine gewisse Freundschaft in der Stimme mitschwingen lassen. Doch jetzt wirkte er, als ob die Freundschaft zu Eis erkaltet war und nicht mehr mitschwingen konnte.
»Meinetwegen«, murmelte ich und setzt mich beleidigt neben Jean.
»Marcus, du kannst versuchen, unsere heutigen Erlebnisse zusammenzufassen. Versuch eine Beschreibung von den Kerlen zu machen, gegen die du gekämpft hast. Falls du Namen weißt, schreib sie dazu.«
Marcus nickte, während ich neidisch zusah, wie Lady Cunningham mit Rack mitging. Lustigerweise war Lady Cunningham genauso wenig begeistert wie ich. Andersherum wären wir beide zufriedener gewesen. Stattdessen hing sie mit Rack fest, den sie für seine Probleme mit seinen Pillen verurteilte und ich musste weiter im Luftschiff bleiben.
Marcus machte sich gleich an seine Aufgabe. Jean hingegen blieb neben mir sitzen und belegte sich eine weitere Scheibe Brot.
»Das ist nicht fair!«, murmelte ich vor mich hin.
»Vergiss fair! Diese ganze Überwachung ist dämlich. Wir müssten bei Ted einbrechen und schon wüssten wir, was er vorhat.«
Ich drehte mich zu ihr. »Jean, nicht alles kann durch einen Einbruch herausgefunden werden. Manchmal muss man sich einfach ans Gesetz halten.«
Jean richtete sich ebenfalls auf und legte ihre Brotscheibe beiseite. »Meiner Erfahrung nach erfährst du nur durch das Schlafzimmer jede Menge über die Person, die man auserkoren hat, zu überfallen.«
Ich schmunzelte. »Das Schlafzimmer? Wenn du es dorthin geschafft hast, dann bist du bereits eingebrochen.«
»Nicht immer. Manchmal kann man als Dieb auch frei in den Wohnungen alles durchsuchen, ehe man einbricht.« Sie zwinkerte mir zu.
Ich lehnte mich zu ihr hinüber. »Heißt das, die Menschen lassen dich in ihre Häuser und du kannst dich ungeniert umschauen? Warum sollten sie so etwas tun?«
Jean zuckte mit der Schulter. »Es gibt Ausweise, mit denen kommt man überall in jedes Haus und wenn du erst einmal drin bist, kannst du dich in Ruhe umsehen.«
»Das kann wohl kaum sein.« Ich stutzte. »Es sei denn, du hast eine Bobby-Marke.«
Sie schwieg, griff nach ihrem Brot und biss herzhaft hinein. Das konnte sie nicht ernst meinen. Auf das Fälschen einer Marke der Bobbys stand eine hohe Gefängnisstrafe. Andererseits war ihr sonstiger Lebensunterhalt auch nicht wirklich legal.
»Selbst wenn du in die Schlafzimmer kommst, was kannst du daraus schließen?«
Sie schmatzte und ich wartete, bis sie aufgekaut hatte. Marcus hatte sich an den Tisch gesetzt und schrieb stumm vor sich hin. Unsere Diskussion schien ihn entweder nicht zu interessieren oder er hörte einfach weg. Ich nahm einen Schluck Wasser, während ich wartete.
»Nehmen wir zum Beispiel dein Schlafzimmer.«
Ich prustete das Wasser heraus. »Mein Schlafzimmer?«
»Wir leben hier auf engstem Raum. Glaubst du ernsthaft, ich bliebe, wenn ich wüsste, dass einer von euch ein Massenmörder ist?«
Ich starrte sie mit aufgerissenen Augen an. Das war nicht ihr Ernst? »Du warst in meinem Schlafzimmer!«
»Krieg dich ein, in meinem war sie auch«, sagte Marcus, ohne den Kopf zu heben.
Diesmal war es an Jean, überrascht zu sein. »Woher wusstest du das?«
»Mein Kissen lag an einer anderen Stelle als zuvor und die Tür meines Kajütenschranks stand zu weit offen.« Noch immer schrieb Marcus weiter, ohne anzuhalten.
»Faszinierend.« Jean verschränkte die Arme vor der Brust. Sie schien beinahe etwas beleidigt und gleichzeitig herausgefordert. »Normalerweise bemerkt niemand meine Anwesenheit.«
»Normalerweise überfällst du ja auch Menschen, die nicht damit rechnen, ausgeraubt zu werden. Ich hingegen kenne Menschen wie dich. Euch wird schnell langweilig, und wenn euch langweilig ist, werdet ihr unruhig und neugierig.« Marcus zuckte mit den Schultern, als ob es alltäglich wäre, mit einer Diebin ein Luftschiff zu teilen.
Jean brummte etwas, was ich nicht verstand und schob ihre Unterlippe vor.
»Aber trotzdem rechtfertigt Langeweile nicht, in mein Schlafzimmer zu gehen!«
»Krieg dich ein.« Jean biss erneut in ihr Brot, wenn auch mit deutlich weniger Verlangen als zuvor. »Dein Schlafzimmer verrät wenigstens nicht so viel wie das von Rack.«
»Oh, lass ihn das nicht hören.« Ich lehnte mich jedoch vor. »Was verrät sein Schlafzimmer über ihn?«
Jetzt legte auch Marcus seinen Stift beiseite und lauschte unserem Gespräch. Jean setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht. »Rack hat eine Kette in seiner Schatzschatulle mit dem ach-so-schwer-zu-knackenden Schloss versteckt. Du hast sie bisher nicht erwähnt und er sie nicht getragen, deswegen gehe ich davon aus, dass niemand sie kennt.« Sie biss erneut ab und redete mit vollem Mund weiter. Ich fragte mich, welche Schatulle sie meinte. Rack besaß doch keine. »Außerdem ist er darauf bedacht, dass niemand etwas über ihn erfährt. Er hat nur einen Satz Kleidung. Entweder will er in der Masse untertauchen oder aber er will einen gewissen Wiedererkennungswert hervorrufen.«
»Wie hilft dir das weiter, wenn du jemanden überfallen willst?«, fragte ich Jean.
»Diese Kette ist ein Druckmittel. Wenn niemand sie kennt, kann ich sie nutzen, um ihn zu erpressen. Falls der Diebstahl schnell gehen muss oder ich erwischt werde, habe ich so etwas in der Hinterhand. Und die Kleidung? Nun ja, ich weiß, dass er nicht sonderlich reich ist und ich ihn nicht zu überfallen brauche.«
Marcus lachte auf und widmete sich erneut seiner Zusammenfassung.
»Lady Leonora bezahlt alles. Das hättest du auch schon vorher wissen können.«
Jean zuckte mit den Schultern und schluckte den letzten Bissen ihres Brots hinunter. »Sein Zimmer habe ich noch in der ersten Nacht hier durchsucht.«
»Du konntest doch nicht laufen.« Ich griff nach dem Brotmesser und spielte damit zwischen meinen Fingern.
»Das hält mich nicht davon ab, mich zu vergewissern, ob nicht doch einer von euch ein Massenmörder ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt, hat dir das schon mal jemand gesagt?«
»Andauernd.« Sie grinste von einem Ohr zum anderen, als ob sie stolz auf meine Aussage wäre.
Ich stand auf und ließ die beiden alleine. Ich würde mir erst einmal ein neues Zimmer suchen.