Kapitel 9 – Rack
Mein Kopf dröhnte und schmerzte. Es dauerte einen Moment, ehe mir einfiel, warum mir die Augen verbunden worden waren und sich Fesseln in meine Handgelenke schnürten.
»Er kommt zu sich!«
Ted sprach.
»Das trifft sich gut. Er kommt bald.« Der Sprecher nuschelte, so dass es mir schwer fiel, ihn zu verstehen. »Dann kann er ihn befragen. Ist alles andere vorbereitet?«
Stoff raschelte links neben mir. »Alles fertig.« Das Rascheln des Stoffs kam von Ted. Seine Stimme war dicht an meinem Ohr. »Mir wurde gesagt, du bist ein ziemlicher Störenfried.«
Ich drehte den Kopf zur Seite, als ob ich Ted sehen könnte, und lächelte. Einen Kommentar verkniff ich mir, bis ich mehr wüsste. Wer kam bald? Warum sollte er mich befragen? Sollte etwa The Stick persönlich hier auftauchen?
Die Fesseln saßen fest, ich konnte die Hände nicht befreien, egal wie sehr ich es versuchte.
»Der sieht nicht aus, als ob er jemandem ein Haar krümmen könnte.« Das war der Suchende, der mich festgehalten hatte, als ich hinter Jean herwollte. Flint hieß er, wenn mein gepeinigter Verstand sich nicht irrte.
»Das darf der Boss entscheiden. Er sagte mir, dass dieser Rack seine Pläne durchkreuzt, und jetzt ist er in unserer Gewalt. Ich denke, wir werden mit ihm noch viel Spaß haben.«
Ein Schauer rann mein Rückgrat hinunter, als einer der beiden mit einer Klinge über meinen Nacken strich. Unverkennbarer, kalter Stahl auf meiner erhitzten Haut.
Ich hoffte, dass die beiden irgendetwas verrieten. Eine Bande, mit der sie als nächstes zusammenarbeiten oder einen Deal, den sie als nächstes abschließen wollten. Doch das taten sie nicht. Sie sprachen nur über irgendwelche Frauen, die sie besuchen wollten, während wir warteten.
Und das half mir nicht weiter. Ich ruckelte unauffällig an meinen Fesseln, versuchte sie zu lösen, doch wer mir die Seile auch angelegt hatte: Sie saßen bombenfest. Ich konnte sie keinen Millimeter bewegen.
»Ich glaube, er kommt!«, hörte ich Ted mit einem Mal sagen. »Hörst du die Treppe?«
»Ich hole ihn herein.« Flint raste zur Treppe, wenn ich meinem Gehör vertrauen konnte. Meine Ohren klingelten noch seit dem Schlag.
Ich lauschte weiter. Und tatsächlich. Jemand kam die Treppe herauf. Allerdings sehr langsam und da war ein weiteres Geräusch. Ein Klicken nach jedem zweiten Schritt, als ob jemand mit einem Ring auf das Geländer schlug, ehe er sich daran hochzog.
»Guten Abend, Sir. Ich freue mich, Sie zu sehen.«
Ich riss die Augen auf. Was war aus dem Flint geworden, der sonst nur die Gossensprache kannte? Er sprach auf einmal gestochen klar, nicht mal ein Nuscheln mehr.
»Guten Abend, Flint. Vielen Dank für deine Hilfe.« Mir kam die Stimme bekannt vor. Allerdings konnte ich sie nicht sofort zuordnen. Jemand, dem ich im brodelnden Pulverfass begegnet war? »Wie ich sehe, haben wir Besuch. Wer kommt uns denn zu dieser unsäglichen Zeit besuchen?«
Gegen verbundene Augen half das nicht. Meine Neugierde ließ mich meinen Kopf recken, doch auch das half mir nicht weiter.
»Das wird Sie freuen, Sir. Wir haben Rack gefangen.«
Ein leiser Pfiff ertönte, während das Klicken und die Schritte näher kamen. Also doch kein Ring. Etwas anderes. Ob der Besucher ein mechanisches Bein hatte?
»Was wollte er hier, Flint?«, fragte die fremde Stimme.
»Das wissen wir nicht, Sir.« Flints Stimme war unterwürfig, als ob er Angst vor dem Mann hatte. »Wir wollten Ihnen die Ehre lassen, ihn zu befragen.«
»Befragen?« Die Schritte und das Klicken ließen nach. »Was soll ich mit diesem Unkraut? Es weiter in meinem Garten wildern lassen? Was macht man mit einer Pflanze, die keinen Zweck erfüllt?«
»Man rupft sie raus?«, fragte Flint. Er klang nicht so, als ob er einen Garten besaß, geschweige denn pflegte.
»Korrekt, Flint. Sehr gut.«
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Dieser Mann wollte mich einfach umbringen. Ohne vorher all seine Pläne zu verraten, mir die Chance zu geben, abzuhauen und seine Pläne zu durchkreuzen? Was für eine Frechheit.
»Nun, da er schon mal hier ist, können wir noch etwas Spaß mit ihm haben. Ted, löse seine Augenbinde. Er soll sehen, was ihn erwartet.« Ted zerrte an dem Tuch, Licht flutete meine Augen.
In der Sekunde trat Flint um die Ecke und gleich darauf ein weiterer Mann. Das erste, was mir auffiel, war der schwarze Gehstock, mit den silbernen Verschnörkelungen daran. Er war breiter als die meisten Gehstöcke, als ob er viel Gewicht halten müsste. Dabei war der Mann, der ihn benötigte keineswegs dick.
»Guten Tag, Rack.« Der Mann begrüßte mich wie einen alten Bekannten, dabei kannte ich ihn nur von den Bildern aus der Zeitung. Mit Sicherheit hatte ich mich noch nie mit dem Leiter der Kaufmannsgilde unterhalten. Wie war noch gleich sein Name? Er wollte mir nicht einfallen.
Ich reagierte nicht auf seine Begrüßung. Warum auch? Er wollte mich umbringen. Freundlich musste ich zu dem Kerl nicht sein.
»Hat er überhaupt schon ein Wort gesagt?«, fragte der Anführer dieser Bande. Es musste The Stick sein. Warum sonst sollte Ted ihn seinen Boss nennen, wenn er selbst ein hohes Tier in seiner Organisation war?
»Nur zu dem anderen, der abhauen konnte.« Ted sprach davon, als ob es nichts wäre, dabei musste er genau wissen, dass ein geflohener Zeuge ein schlechtes Omen war. »Aber ansonsten schweigt er sich aus, Sir.«
»Dann sollten wir uns lieber mit dem Spaß beeilen.« The Stick zog seinen langen, dünnen Mantel aus und reichte ihn Flint. Der legte ihn ohne einen Knick über seine beiden Arme, als wollte er keine Falte riskieren. The Stick gab seinen Gehstock nicht ab. Im Gegenteil, er nutzte ihn, um auf mich zuzulaufen, bis er noch etwas mehr als eine Armlänge von mir entfernt war.
»Wissen Sie, es ist unhöflich, einen Menschen nicht zurückzugrüßen.«
»Es ist unhöflich, Menschen umzubringen, indem man unschuldige, kleine Mädchen benutzt.«
The Stick lachte gedämpft auf. »Nun, unschuldig würde ich die kleine Jean nicht nennen, aber das sei mal dahingestellt.«
Immerhin. Er hatte zugegeben, Jean manipuliert zu haben. Vielleicht würde ich doch noch mehr aus ihm herausbekommen.
»Was wollten Sie mit dem Professor?«, fragte ich ihn.
The Stick marschierte um mich herum. »Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht, Rack. Im Gegenteil. Sie gehören nicht zu meiner Organisation, warum sollte ich also Informationen mit Ihnen teilen? Damit Sie mich besiegen können? Hoffen Sie darauf, dass Ihre kleine Bande aus Nichtsnutzen Sie retten kommt?« The Stick lehnte sich rechts von mir vor mein Ohr. Ich konnte den Belag seines Abendbrots anhand seines Mundgeruchs erahnen, so dicht war er mir. »Ich denke nicht, dass Sie sich auf einen Jungen, einen Söldner und eine Diebin verlassen sollten.«
Lady C. Er wusste nichts von Lady C. Das war gut. Vielleicht konnte ich das zu meinem Vorteil nutzen.
»Wenigstens weiß ich, dass meine Bande aus Nichtsnutzen Gutes tut.«
The Stick lehnte sich zurück und hob seinen Gehstock an. Zuerst legte er die Spitze gegen meinen Oberarm. Er lächelte mich an, als ob es ihm egal war, was ich sagte. Dann presste er den Stock ein Stück vorwärts. Ich konnte den Griff erkennen. Daran befanden sich winzige Knöpfe. Mindestens ein Dutzend. The Stick betätigte einen davon.
Eine Klinge durchfuhr meinen Oberarm. Ich schrie auf, als The Stick seinen Stock ganz langsam wieder herauszog. Durch einen Nebelschleier vor meinen Augen kam Ted herangeeilt und reinigte mit einem blütenweißen Tuch die hauchdünne Klinge, ehe sie in dem Stock verschwand.
Mein Herz raste, verteilte den Schmerz in meinem Körper und sorgte dafür, dass für den Moment schwarze Punkte in dem Nebelschleier auftauchten.
»Für jede Frage, die Sie mir nun stellen, werde ich Ihnen eine Funktion meines Gehstocks zeigen.« The Stick lächelte. »Und glauben Sie mir, bisher hat noch niemand alle Funktionen überlebt.«
»Ich stelle mich gerne zur Verfügung, sie alle auszuprobieren!«, zischte ich durch die Schmerzen hindurch. Selbst meine Zähne schmerzten, so dass ich sie lieber nicht voneinander trennte.
»Ted, ein Freiwilliger. Findest du, er ist ein Kandidat für die Maschine?« The Stick drehte sich um zu seinem Offizier. »Sobald sie wieder einsatzbereit ist?«
»Oh, mit Sicherheit, Sir. Er wäre ein ausgezeichneter Kandidat.«
Die Schmerzen in meinem Oberarm ließen nach, ich konnte spüren, wie sich mein Körper darauf einstellte, mich zu heilen. Winzige Organismen, die sich auf den Weg zur Wunde machten.
»Gut, dann sollten wir zunächst testen, wie belastbar er ist.«
Damit drehte sich The Stick zurück und setzte mir den Gehstock erneut auf die Brust.
»Bevor Sie mich quälen, habe ich eine Frage frei«, rief ich rasch, ehe er einen der nächsten Knöpfe drücken konnte.
»Nun, stellen dürfen Sie sie.« Er legte den Zeigefinger auf einen Knopf. »Beantworten werde ich Sie jedoch nicht.«
»Wie ist Ihr Name?«
Ted und Flint sogen zischend die Luft ein. Als ob sie genau wussten, dass dies eine Frage war, die man ihrem Boss nicht stellen durfte.
»Mein Name ist The Stick
Er drückte den Knopf und ein stechender Impuls riss meine Brust auseinander. Ich zuckte unkontrolliert, soweit es meine Fesseln zuließen. Mein Kopf überstreckte sich in einem Krampf und meine Hände spreizten sich, als ob alles an mir unter Strom stünde.
Und genau das war passiert. In dem Stock musste es eine anbarische Quelle geben, die sich gerade in mir entlud. Einen klaren Gedanken konnte ich nicht fassen. Ich spürte nur meinen Körper. Jede einzelne Zelle, ich nahm mich besser wahr als jemals zuvor. Die Interaktion zwischen meinen Zellen, die Kommunikation in meinen Nerven, die Schmerzen, wenn ich mich verwandelte. Alles verstärkte sich zu einem schmerzenden Konzert, deren Instrumente nur für mich spielten.
Ich riss die Augen auf. Der Schleier hatte sich gehoben, stattdessen war ich jetzt lichtempfindlicher. Als ob sich meine braunen Augen in blaue verwandelt hatten.
Das Zucken hatte aufgehört. Der Stock lag nicht mehr auf meiner Brust, sondern stand neben seinem Besitzer. Dafür blickten mich The Stick , Ted und Flint an, als ob sie einem Geist begegnet wären.
»Boss?«, brach Ted als erster das Schweigen. »Haben Sie das gesehen?«
Meine Gedanken waren immer noch langsamer unterwegs, brauchten einen eigenen Gehstock. Aber die Angst und das Unverständnis hätte ich sogar erkannte, wenn ich auf dem Sterbebett gelegen hätte.
»Ich denke, wir haben es alle gesehen.«
Unter dem Einfluss der anbarischen Quelle musste sich mein Aussehen für einen Moment verändert haben. Scheiße. Was sollte ich jetzt tun? Verheimlichen war kaum mehr möglich. Träge sammelte ich meine Gedanken ein und häufte sie zusammen. Irgendeine Lösung musste in diesem gegrillten Haufen doch sein.
»Hat sich das Gesicht des Typen verändert?«, fragte Flint und vergaß, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen.
»Das war nur der Schmerz«, murmelte ich und versuchte die drei davon zu überzeugen, dass ich kein Formwandler war, dass ich keine besonderen Fähigkeiten besaß, dass es sich nicht lohnte, mich näher zu untersuchen.
Doch The Stick glaubte mir nicht. Er hob den Stock erneut und drückte ihn mir auf die Brust.
»Der Schmerz verursacht das bei dir?« The Stick schmunzelte. »Das hättest du nicht sagen sollen.«