Kapitel 10 – Theo
»Das kann nicht funktionieren!«, murmelte Jean neben mir. Wir saßen in einem Velocar, das am hinteren Ende über den blickdichten Aufbau einer Kutsche verfügte, so dass man ungesehen von A nach B kam. Lady Cunningham hatte dieses neumodische Fahrzeug mit folgenden Worten angeboten: Das steht seit der Entwicklung von einem Freund in meiner Scheune.
Ich hatte über solch einen selbstverständlichen Umgang mit Wertgegenständen nur mit dem Kopf geschüttelt.
»Es muss. Und jetzt pssst. Wir sollen uns still verhalten, bis wir dran sind.«
Auch wenn ich ihr offiziell widersprach, stimmte ich ihr innerlich zu. Der Plan war zum Scheitern verurteilt. Wir sollten Rack aus der Gewalt eines Gangsters befreien, von dem wir nicht wussten, ob er Rack am Leben gelassen hatte.
»Da kommt die Lady. Sie hat sich echt in Schale geschmissen. Glaubst du, sie hat das Zeug dazu?«
Eine Figur lief direkt über die Straße und an unserem Velocar vorbei. »Du hättest sie sehen müssen, als wir euch aus dem Gefängnis befreit haben. Sie konnte auf Knopfdruck weinen und war verdammt überzeugend.«
»Welche Frau kann nicht auf Knopfdruck weinen?«, fragte Jean unbeeindruckt.
Ich ließ das unkommentiert, denn egal was ich sagte, ich hätte mich in Schwierigkeiten gebracht.
Wir schwiegen und verfolgten Lady Cunninghams Weg bis zur Haupttür der Lagerhalle. Sie klopfte, wie vereinbart. Dann mussten wir warten. Ich hielt den Atem an. Alles hing davon ab, wie gut Lady Cunningham lügen konnte.
Ich versuchte im oberen Stockwerk, in dem Licht brannte, etwas zu erkennen, doch an den Fenstern lief niemand vorbei. Es gab nichts, was darauf hindeutete, dass jemand die Tür öffnen würde.
Der Druck in meiner Lunge wurde zu stark und ich musste einatmen. Ich roch das Leder von Jeans Jacke, ihr herber und zugleich zerbrechlicher Duft, den ich immer wieder gerne einatmete. Ich versuchte, ihren Geruch zu analysieren, herauszufinden, was genau es war, das mich daran so faszinierte. Mit dem Kopf lehnte ich mich weiter zu ihr hinüber, tat so, als würde ich damit einen besseren Blick auf alles bekommen. Tatsächlich steckte ich meine Nase beinahe mitten in ihre schulterlangen Haare. Gerade, als ich tief einatmete, rührte sie sich und drehte sich von mir weg.
»Die Tür bewegt sich!«
Ein schmaler Lichtstrahl fiel auf Lady Cunningham, so dass derjenige, der drinnen saß, sie unweigerlich sehen konnte.
Wir standen dicht genug an der Tür, um alles genau zu hören.
»Gott sei Dank haben Sie aufgemacht.« Lady Cunninghams Stimme glitt mit den ersten Nebelschwaden zu uns herüber und ich konnte ihre Erleichterung heraushören. Die war nicht gespielt, denn ohne den ersten Schritt des Plans wäre alles andere nichtig gewesen, und dann wäre nur der Frontalangriff geblieben.
Der Mann, der die Tür öffnete, musterte sie von unten nach oben. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Das hoffe ich. Mein Velocar ist einfach stehengeblieben und mein nichtsnutziger Fahrer hat leider so gar keine Ahnung, wie man es zum Laufen bringt. Es ist so schwer heutzutage, kompetente Menschen zu finden. Sie wirken, als ob Sie sich mit diesem neumodischen Kram auskennen. Können Sie mir helfen?«
»Milady, versuchen Sie es bitte die Straße hinunter bei einem der Wohnhäuser.«
Mein Herz blieb beinahe stehen, als der Türsteher das sagte. Sie durfte nicht aufgeben. Lady Cunningham musste ihn dazu bekommen, rauszukommen.
»Bitte, Sir, ich flehe Sie an. Wenn ich jetzt diese Straße hinuntergehe, bin ich entweder tot oder werde überfallen. Sie erscheinen mir wie ein anständiger Kerl. Einer, der einer Lady in Nöten hilft. Ein Retter in der Not.«
Auch wenn ich die Mimik nicht erkennen konnte, vernahm ich doch den Blick des Mannes über die Schulter nach oben. Als ob er sich vergewissern wollte, dass niemand hinter ihm wartete.
»Aber nur ganz schnell. Wenn ich das Problem nicht auf Anhieb erkenne, dann müssen Sie auf meine Dienste verzichten, Milady. Ich habe noch einiges … zu erledigen.«
Damit öffnete er die Tür und lief hinter Lady Cunningham her, die ihm wiederum tausendmal auf der kurzen Strecke zum Velocar dankte. Sie führte ihn zum vorderen Teil, an dem der Motor befestigt war. Dort stand Marcus als vermeintlicher Fahrer über den Motor gelehnt. Er hielt eine Laterne in der Hand und leuchtete damit in den abgeschirmten Bereich des Motors hinein.
»Sie werden den heutigen Abend nicht als Fahrer überleben!«, schimpfte Lady Cunningham mit ihm.
»Hätten Sie nicht eine Stadtrundfahrt machen wollen, wäre das alles nicht passiert. Ich habe Ihnen gesagt, dass das Velocar noch nicht eingefahren ist.« Marcus war längst nicht so überzeugend wie Lady Leonora, aber dennoch würde es wohl reichen. Ich hoffte es zumindest inständig.
»Wo ist das Problem?«, fragte der Türsteher und stellte sich neben Marcus, um ebenfalls den Motor zu untersuchen . Jean zog neben mir den Kopf noch tiefer in den Schatten zurück. Dabei waren wir mit Sicherheit von draußen nicht zu erkennen.
»Sehen Sie hier den Kolben? Ich glaube, den hat’s zerschossen.«
»So schnell passiert das nicht bei diesen neuen Fahrzeugen. Lassen Sie mich da ran.«
Damit schob sich der Türsteher an Marcus vorbei und lehnte sich hinunter. Marcus hielt die Laterne weiterhin so, dass der Kerl alles erkennen konnte.
Jetzt
, dachte ich. Jetzt!
Als ob Marcus mein Flehen gehört hätte, holte er mit dem freien Arm aus und schlug dem Türsteher mitten ins Gesicht. Dieser taumelte, schwankte gegen Lady Cunningham, die ihn auffing.
Er fiel nicht um, sondern schüttelte nur kurz seinen Kopf, ehe er die Hand hob, um sich zu wehren. Marcus zögerte nicht lange. Er holte mit der Laterne aus und donnerte sie ihm gegen das Kinn. Wie eine Schlange verbog sich das Metall der Laterne und passte sich den Umrissen des Kinns an.
Diesmal fiel der Kerl. Ohne lange zu überlegen, zog sich Lady Cunningham den Schal vom Hals, und Marcus hievte den Mann zur Tür des Velocars.
»Jetzt sind wir dran«, murmelte ich aufgeregt zu Jean.
Die gähnte und streckte sich, ehe sie die Tür des Fahrzeugs aufstieß und rauskletterte. Marcus reichte mir den Kerl an und ich fesselte ihn so gut es ging an die Inneneinrichtung des Velocars. Mit einem weiteren bereitliegenden Tuch knebelte ich ihn. Es war unwahrscheinlich, dass jemand dort draußen seine Schreie hörte, aber wir wollten sicher gehen.
Danach sprang ich raus und drückte die Tür möglichst lautlos zu. Jean war bereits am Eingang zum Lagerhaus. Wie in stummer Absprache nickten wir einander zu. Der Söldner, die Lady, die Diebin und der Assistent des Ermittlers. Alle bereit das zu tun, was nötig war, um Rack zu befreien. Für einen Moment erfasste mich das erhabene Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein, etwas Besonderes zu sein. Doch Marcus unterbrach den Moment, indem er sich wegdrehte.
»Ich bleibe im Wagen und halte ihn am Laufen«, sagte Lady Cunningham, während sie auf den Fahrersitz wechselte. Der Rest lief hinter mir her.