Prolog:

Eine neue Welt

Im Anfang war die Hoffnung: Die Mauer war gefallen und der Eiserne Vorhang verschwunden. In Südafrika endete die Apartheid, und in Washington reichten sich der israelische Ministerpräsident und der Palästinenserführer die Hände. Als der Kalte Krieg zu Ende ging, verkündeten die Staats- und Regierungschefs der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ein «Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit»[1]. Selbst der vermeintlich visionslose US-Präsident George H. W. Bush beschwor die Vision einer neuen Ära,

«in der die Nationen der Welt in Ost und West, Nord und Süd gedeihen und in Frieden leben können. Hundert Generationen haben diesen Weg zum Frieden gesucht, während tausend Kriege tobten. Heute wird diese neue Welt geboren, und sie ist sehr anders als diejenige, die wir kannten: Eine Welt, in der die Herrschaft des Rechts das Gesetz des Dschungels ersetzt. Eine Welt, in der die Nationen ihre gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit erkennen. Eine Welt, in der die Starken die Rechte der Schwachen respektieren.»[2]

Endzeitstimmung im besten Sinne machte sich breit: Francis Fukuyamas Wortschöpfung vom «Ende der Geschichte»[3] gewann ikonische Bedeutung, denn sie traf den Nerv der Zeit. Das westliche Modell von Demokratie und Menschenrechten, Frieden, Marktwirtschaft und Massenwohlstand, so die allgemeine Erwartung im globalen Westen, würde sich fortan unaufhaltsam über die ganze Welt verbreiten. Auch Russland und China würden sich diesem Lauf der Geschichte nicht entziehen können. Und als 2011 der «Arabische Frühling» ausbrach, schien auch die islamische Welt am Anfang vom «Ende der Geschichte».

Gut zehn Jahre später, am 24. Februar 2022, marschierten russische Truppen in die Ukraine ein und begannen einen Krieg, der die Zerstörungskräfte von mehr als einem Jahrhundert kombinierte: den Stellungskrieg des Ersten und die Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung des Zweiten Weltkriegs sowie den Cyberkrieg des 21. Jahrhunderts. Im Jahr darauf, am 7. Oktober 2023, verübte die Hamas in Israel das größte Gewaltverbrechen gegen Juden seit dem Holocaust. Zwei von drei globalen Krisenherden standen lichterloh in Flammen. Und im Hinblick auf den dritten ließ der chinesische Staatspräsident Xi Jinping Ende 2023 keinen Zweifel, dass er – unabhängig vom Willen der Betroffenen – die Einverleibung Taiwans durch China anstrebe.[4]

Am Ende vom «Ende der Geschichte» standen Enttäuschung, Bestürzung und Ratlosigkeit. Wenn die deutsche Außenministerin am Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sagte, «wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht»[5], dann irrte sie insofern, als die Welt noch dieselbe war. Der Westen und insbesondere die Deutschen waren nur aus ihren Träumen gefallen. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz diagnostizierte in einer international anerkannten Rede eine «Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents»[6]. Die Konsequenzen allerdings – «Dialog und Kooperation» gegen «Aggression und Imperialismus», «neue Partnerschaften» gegen einen «neuen Kalten Krieg in einer multipolaren Ära»[7] – klangen eher nach Kontinuität der Hoffnungen von 1990, die sich als illusorisch erwiesen hatten.

Eine Spur der Gewalt hatte sich durch das gesamte vermeintliche «Ende der Geschichte» gezogen: von den Jugoslawienkriegen über Ruanda 1994, die Attentate vom 11. September 2001 und den amerikanischen «War on Terror», den «Islamischen Staat» und den russischen Krieg gegen die Ukraine bis zum Hamas-Angriff in Israel. Warum haben sich die Hoffnungen vom Ende des Kalten Krieges nicht erfüllt? Warum war die Ordnung von 1990 nicht in der Lage, einen Eroberungskrieg in Europa zu verhindern? Und in diesem Sinne: Warum ist sie gescheitert?

Lag es an institutionellen Schwächen der Weltordnung? An mangelnden internationalen Gremien und Verfahren, die alle großen Akteure auf Augenhöhe einbezogen? Oder handelte es sich um unvermeidliche Machtkonflikte, die mit Verschiebungen der internationalen Kräfteverhältnisse virulent wurden? Welchen Einfluss hatten gegenseitige Wahrnehmungen und Missverständnisse? Welche Rolle spielten ideologische Differenzen und unterschiedliche inhaltliche Vorstellungen über die internationale Ordnung? Diese Fragen zielen auf Antworten, die vom Realismus, dem liberalen Institutionalismus und dem Konstruktivismus als den Hauptrichtungen der Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen zu erwarten wären. Und aus historischer Perspektive: Welche Rolle spielten das Zustandekommen der Ordnung und die Behandlung der Verlierer, die Erwartungen an den Frieden, das Management der Ordnung von 1990 und politische Entscheidungen?[8] Und weil es Thukydides in seinem «Peloponnesischen Krieg» so explizit erwähnte: Wie stand es um die Gefahr der Hybris, die das siegreiche Athen mit der Idee seiner eigenen Größe und der Arroganz der Macht infizierte?

Von der Antwort auf die Frage nach den Gründen des Scheiterns hängt die zweite Frage ab: Gab es Alternativen, sowohl bei der Konstruktion der Ordnung von 1990 als auch in politischen Entscheidungen der Folgezeit, mit denen dieses Scheitern, mit denen Kriege und Gewalt in den 2020er Jahren zu vermeiden gewesen wären? Sowie eine dritte: Was lässt sich aus der Geschichte der Ordnung von 1990 lernen – und was ist nach ihrem Scheitern zu tun?

Das sind die Fragen dieses Buches, das eine an den anglo-amerikanischen International Relations orientierte und durch die Expertise der Thinktanks informierte historische Analyse der Großmächtepolitik, der internationalen Ordnung und der großen Machtkonflikte vom Ende des Ost-West-Konflikts bis zum Ende der Ordnung von 1990 leistet (Kap. I–VII). Es beginnt mit grundsätzlichen Überlegungen: Was sind internationale Ordnungen und warum verändern sie sich, theoretisch und historisch? Dieses Gerüst wird an die Geschichte der Ordnung von 1990 angelegt, die in ihren wesentlichen Stationen und im Hinblick auf die Ursachen ihres Scheiterns (und daher bewusst nicht in enzyklopädischer Breite und Vollständigkeit) erzählt wird. Am Ende wird noch einmal systematisch herausgearbeitet, warum die Ordnung von 1990 gescheitert ist. Das Buch verbindet die deutsche und europäische Perspektive des Autors mit den Erfahrungen und Einsichten einer dreijährigen Gastprofessur in Washington. Teil davon ist die Erkenntnis, dass Deutschland und Europa am Anfang der Geschichte im Zentrum der Ordnung von 1990 standen – und darin je länger je weniger eine Rolle spielten.

Die erste These dieses Buches ist, dass der Sieg von 1989 den Westen zur Hybris verleitete und das Ende des Ost-West-Konflikts mit zu hohen Erwartungen überfrachtet wurde: der Überzeugung von der universalen Gültigkeit der eigenen Ordnung, der Vorstellung des globalen Demokratieexports und einer Arroganz der Macht, die in den zweiten Irak-Krieg von 2003 führte. Die Machtverhältnisse nach dem Ende des Kalten Krieges verdeckten unterdessen die fortbestehende Konkurrenz grundlegend unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen, die, so die zweite These, der letztlich entscheidende Grund war: zwischen einer liberalen, universell geltenden Ordnung, die auf der Souveränität und der Integrität der Teilnehmer dieser Ordnung beruht, und hegemonialen Vorstellungen multipolarer Machtzentren, die als Vormächte über die Souveränität und Integrität der Staaten in ihrer Einflusssphäre bestimmen. Diese unterschiedlichen Vorstellungen kamen zum Tragen, so die dritte These, als sich die Machtverhältnisse verschoben und konkrete politische Entscheidungen zur Revision der Ordnung getroffen wurden.

Das Ergebnis ist ein neuer Konflikt zwischen einem herausgeforderten globalen Westen und einem neu formierten, revisionistischen globalen Osten (wobei der Begriff «revisionistisch» in einem rein analytischen Sinne verwendet wird). Welche Handlungsoptionen sich daraus ergeben und welche politischen Schlussfolgerungen aus dieser Geschichte aus der Perspektive der westlichen Demokratien für die internationale Politik zu ziehen sind, ist der Gegenstand des abschließenden Kapitels (VIII).