Die Geschichte war und ist nicht zu Ende. An ihr Ende kam stattdessen die Ordnung von 1990, weil relevante Akteure sie aktiv und gewaltsam zurückwiesen. Der globale Westen als Sieger von 1989 steht nicht mehr vor der weltweiten Verbreitung seiner Ordnung, sondern vor der existenziellen Herausforderung seiner Selbstbehauptung.
Die Entstehung der neuen Ordnung erfolgt, um die Begrifflichkeit aufzugreifen, der dieses Buch gefolgt ist,[1] spontaner denn je. Historisch vergleichbar ist sie am ehesten mit derjenigen der Ordnung nach 1945 (allerdings ohne die vorangehende Übereinkunft von Jalta über die Respektierung von Einflusszonen), als die bestehende Situation mangels einer Einigung eingefroren wurde und in die Ordnung des Kalten Krieges überging. Jedenfalls entspringt sie keinem internationalen Kongress wie der Westfälische Frieden von 1648, die Wiener Kongressakte von 1815 oder die Pariser Ordnung von 1919/20. Eine umfassende internationale Ordnung am Verhandlungstisch zu schaffen, hat sich im 20. Jahrhundert als unmöglich erwiesen. Nach wie vor aber gibt es Momente, in denen die bestehenden Verhältnisse sich verflüssigen und gestaltbar werden. Nach dem Ende der Ordnung von 1990 sieht es so aus, als bilde sich die neue Ordnung auf der Grundlage einzelner Arrangements und Entwicklungen inkrementell heraus. Ein erfolgversprechendes Ordnungsmanagement setzt vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen nicht auf endgültige Lösungen, sondern auf Regelungen mittlerer Reichweite.
Die Machtverteilung in der neuen Ordnung ist zerstreuter, als der «unipolare Moment» und die liberale Hegemonie der USA nach 1990 und auch als die bipolare Ordnung des Ost-West-Konflikts es waren. Zugleich ist sie konzentrierter als die Ordnungen von 1648 und 1815, von 1919/20 oder die balance of power des 19. Jahrhunderts. Sie ist weniger als hegemonial, aber sie ist mehr als multipolar; ohnehin neigt die Rede von der «multipolaren Welt» zu multilateralistischem Wunschdenken und zur Beschwörung eines amerikanischen Abstiegs, der historisch nie eingetreten ist.[2]
Die machtpolitischen Fakten sehen vielmehr so aus, dass eine Achse imperialer revisionistischer Mächte im globalen Osten den globalen Westen und die liberale Ordnung herausfordert. Die neue Ordnung ist bipolar, aber sie ist komplexer und unberechenbarer als der alte Ost-West-Konflikt nach 1945. Dieser war in erster Linie eine Auseinandersetzung des transatlantischen Westens mit dem sowjetkommunistischen Osten, die angesichts der gegenseitigen nuklearen Vernichtungsdrohung ein erhebliches Maß an Berechenbarkeit und Stabilität entwickelte. In der neuen Ordnung hingegen sind Akteure (Russland, China, der Iran und weitere auf Seiten der Revisionisten), Konfliktfelder (Ukraine, Gaza und Israel, Taiwan) und Bedrohungen deutlich diffuser; Wladimir Putin verband konventionelle Kriegführung in der Ukraine mit atomaren Drohungen, ohne dass die gegenseitige Vernichtungsdrohung gegriffen hätte, und zusammen mit Cyber-Krieg und Desinformationen eröffnen sich komplexe Formen hybrider Kriegführung.[3]
Am Beginn des ersten Ost-West-Konflikts stand ein Bericht, den der amerikanische Diplomat George F. Kennan am 22. Februar 1946 aus Moskau nach Washington schickte und der als «Langes Telegramm» in die Geschichte eingegangen ist.[4] Dort hieß es:
«Wir haben es mit einer politischen Kraft zu tun, die fanatisch dem Glauben anhängt, dass es mit den USA keinen dauerhaften modus vivendi geben kann, dass es wünschenswert und notwendig ist, die innere Harmonie unserer Gesellschaft und unseren way of life zu zerstören und die internationale Autorität unseres Landes zu brechen, um die sowjetische Macht zu sichern.»
Kennans Analyse der Politik Stalins leitete die erste Zeitenwende der westlichen Nachkriegspolitik ein: von der Hoffnung auf Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zur Notwendigkeit ihrer Eindämmung, zur Politik des Containment. Neben der Stärke nach außen betonte Kennan nicht weniger die Notwendigkeit der Stärke von innen: ein «positives und konstruktives Leitbild» sowie «Prosperität und Lebenskraft unserer eigenen Gesellschaft». Jede selbstbewusste Maßnahme zur Lösung interner Probleme sei «ein diplomatischer Sieg über Moskau».
Kennans Telegramm hat nichts von seiner Aktualität verloren. Angesichts des Übergangs in den neuen Ost-West-Konflikt steht es erstens dafür, die Reihen des globalen Westens – einschließlich Australiens und Neuseelands, Japans, südostasiatischer Staaten und Israels – zu schließen. Zweitens signalisiert es die Bedeutung glaubwürdiger Abschreckung, statt den Eindruck zuzulassen, der Westen weiche gegenüber Gewalt und ihrer Androhung zurück. Moskau verstehe die Sprache der Stärke, schrieb Kennan. Und demgegenüber gilt die alte Einsicht: si vis pacem, para bellum – wenn Du den Frieden willst, bereite den Krieg vor. Einem Aggressor klarzumachen, dass die Kosten seiner Aggression deutlich höher ausfallen würden als ihr Nutzen, ist der Kern funktionierender Abschreckung. Sie setzt freilich den entsprechenden Willen und die nötigen Ressourcen voraus, von Rüstungsausgaben und waffentechnischer Ausrüstung bis zur Bereitschaft, im Notfall auch das zu tun, was man angedroht hat, um es nicht tun zu müssen.
Drittens verweist Kennans Langes Telegramm auf die Bedeutung vitaler Demokratien als Voraussetzung für die Selbstbehauptung des Westens. «Democracy protection» statt «democracy promotion»[5] bedeutet, Demokratie nach innen zu wahren statt nach außen zu verbreiten. Unterdessen wird die liberale Ordnung innerhalb der westlichen Gesellschaften selbst in Frage gestellt: Eine postkoloniale und identitätspolitische Linke hält sie für strukturell diskriminierend und neigt dazu, den globalen Süden pauschal als historisches Opfer des Westens anzusehen[6] und antiwestliche Bewegungen bis hin zur Hamas zu unterstützen. Eine populistische Rechte stellt unterdessen nicht nur die offene Gesellschaft, sondern auch die staatlichen Institutionen der westlichen Demokratie in Frage, wie am 6. Januar 2021 mit dem Sturm auf das Washingtoner Kapitol geschehen. Sie greift zugleich auf Carl Schmitts Großraumtheorie mit ihrem «Interventionsverbot für raumfremde Mächte» zurück,[7] die sich auch in China und Russland aktueller Beliebtheit erfreut, und findet auf diesem Wege Anschluss an den imperialen Autoritarismus der Revisionisten des globalen Ostens. Dieser wiederum findet auch auf Seiten sozial-ökonomischer Linker ein anti-amerikanisch grundiertes Verständnis.
Daher liegt eine wesentliche Herausforderung des globalen Westens darin, das eigene Haus in Ordnung zu bringen und die historischen Stärken westlicher Demokratien zu revitalisieren: die Fähigkeit zu Selbstkritik und Selbstkorrektur statt Selbstablehnung sowie den offenen Wettbewerb der Argumente, um zu besseren Lösungen zu kommen, als es autoritäre Regime vermögen. Die Voraussetzung dafür ist «robuste Zivilität»[8] innerhalb der demokratischen Öffentlichkeit statt moralisierender Selbstüberschätzung und Diskursverengung – nach innen und nach außen.
Die Hybris des Westens, die eigene Ordnung zu verabsolutieren, übersah die wesentliche Ursache für das Ende der Ordnung von 1990: das Fortbestehen unvereinbar unterschiedlicher, liberaler und imperialer Ordnungsvorstellungen. Wie aber lässt sich mit dieser Diskrepanz umgehen?
Es gibt keine ordnende global governance. Vielmehr wird die globale Ordnung trotz aller multilateraler Institutionen von Staaten bestimmt, die sowohl friedlich kooperieren als auch antagonistisch und gewaltsam handeln können. Die Geschichte der Ordnung von 1990 hat die Annahme zerstört, alle Welt wünsche die westliche Demokratie. So nachvollziehbar George W. Bushs Vorstellung sein mochte, die Iraker würden lieber in Freiheit leben als unter dem Joch eines brutalen Diktators[9] – sie waren den USA nicht dankbar für seinen Sturz; die Ägypter wählten in freien Wahlen einen islamistischen Präsidenten, und in Afghanistan fanden die Taliban breitere Zustimmung als die westliche Mission Resolute Support. Und dass ökonomische Verflechtung nicht automatisch zu friedlichem Wandel führt, mussten nicht nur die Deutschen in ihrem Verhältnis zu Russland erfahren, sondern auch Teilnehmer der Belt and Road-Initiative. Macht und Bedrohung, Gewalt und Krieg bleiben elementare Bestandteile der internationalen Politik. Sie entzieht sich moralischer Eindeutigkeit, und keine globale Ordnung ist endgültig.
Die Konsequenz aus diesen Erfahrungen lautet: Ambiguitätstoleranz und Abwägung ohne Absolutheitsanspruch. Sie führt zu einer wertebasierten Realpolitik, die Prinzipien und Realismus miteinander verbindet und die beide Extreme vermeidet: die moralische Überhöhung einer wertegeleiteten Außenpolitik – etwa in Form der Regenbogenbinde am Oberarm der deutschen Innenministerin bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Qatar 2022, um der islamischen Welt den Umgang mit sexueller Diversität zu weisen – ebenso wie den Zynismus einer rein interessegeleiteten Politik, die Polen oder die baltischen Staaten nach 1991 der russischen Einflusssphäre überlassen hätte, um Konflikte mit Russland zu vermeiden. Die letzte historische Konsequenz eines solchen Denkens waren der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und die Verabredung von Einflusssphären in Jalta 1945 – die beide in den 2010er Jahren erneuten Zuspruch von revisionistischer Seite erhielten. Wertebasierte Realpolitik bedeutet, historische Verantwortung anstelle reinen Interessenkalküls für eine relevante Kategorie zu halten, ohne in moralische Hybris zu verfallen.
Der Ordnungskonflikt mit Russland, China und dem Iran war grundsätzlich nicht zu verhindern. Er hätte aber anders geführt werden können, wären die strategischen Prioritäten anders gesetzt worden. Ambiguitätstolerante Abwägung und wertebasierte Realpolitik hätten bedeutet, die innere und die äußere Seite der liberalen Ordnung zu trennen: zwischen den Staaten die Herrschaft des Rechts und die Integrität souveräner Staaten zu behaupten und diese nicht dem Vormachtanspruch hegemonialer Mächte zu überlassen, nicht aber Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft in anderen Ländern zu erzwingen. Das heißt: Selbstbestimmung zu unterstützen, aber auf Demokratieexport zu verzichten. Die liberale Ordnung zwischen den Staaten zu behaupten, sie aber nicht in anderen Ländern zu erzwingen, geht hinter die Hoffnungen von 1989 zurück, folgt aber den historischen Erfahrungen. Und für den Ausnahmefall schwerer Menschenrechtsverletzungen wie in Ruanda 1994 bleibt die ultima ratio einer humanitären Intervention – möglichst mit einem Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, für den Fall von dessen politischer Blockade aber auch ohne. Die Vereinten Nationen sind ein Forum der internationalen Konsultation und der Legitimation, aber sie sind keine absolute moralische Größe. Vollversammlung und Sicherheitsrat sind vielmehr stets Foren machtpolitischer Konflikte gewesen – schwere Menschenrechtsverbrechen aber sind kein politischer Verhandlungsgegenstand, sondern Ausnahmetatbestände, die nur im konkreten Einzelfall entschieden werden können – mit allen Defiziten und Dilemmata, die damit verbunden sind.
Geschichte ist nicht eindeutig und endgültig, sondern offen und unabsehbar. Weder wird die Welt safe for democracy, noch ist die Weltgeschichte eine automatische Abfolge hobbesianischer Machtkonflikte. Sie verläuft nicht linear, sondern ohne erkennbare Richtung und absehbare Zukunft. Sie ist nicht vorherbestimmt, sondern resultiert aus komplexen Verknüpfungen verschiedener Faktoren mit unabsehbaren Folgewirkungen. Das macht Entscheidungen, zumal ordnungspolitische Weichenstellungen in Umbruchssituationen, so schwierig.[10] Möglich und erfolgversprechend ist allerdings ein strategisches Ordnungsmanagement, das im Sinne einer wertebasierten Realpolitik abwägt, die Extreme meidet und fünf Grundsätze beherzigt.
1. Historische Phantasie: Strategisches Ordnungsmanagement bemüht sich um Vorstellungskraft für die Offenheit der Geschichte. Selbstgewisser Mangel an Phantasie oder die unreflektierte Fortschreibung jüngster Erfahrungen in die Zukunft sind immer wieder von der Realität überholt worden: Kaum jemand hatte mit den Anschlägen des 11. September 2001 gerechnet, obwohl «das System rot blinkte»;[11] die Weltfinanzkrise von 2008 war «in erster Linie ein Versagen der kollektiven Vorstellungskraft vieler kluger Menschen, die Risiken des Gesamtsystems zu erkennen»;[12] und selbst die gefahrengewohnten Israelis wurden am 7. Oktober 2023 vom Angriff der Hamas völlig überrascht.
2. Mittlere Reichweite: Strategisches Ordnungsmanagement betreibt weder pfadabhängiges muddle through, wie es Europa in den 2010er Jahren tat. Noch zielt es auf eine vermeintlich endgültige Neuordnung wie die Pariser Ordnung von 1919/20 oder die liberale Ordnung am «Ende der Geschichte». Es setzt stattdessen auf Ordnungsmaßnahmen einer mittleren Reichweite, die immer wieder neu justiert werden können.
3. Revisionsmanagement: Strategisches Ordnungsmanagement ist zu systemimmanenten Anpassungen an Veränderungen bereit, um die Ordnung funktionsfähig zu erhalten. Es antizipiert revisionistische Ambitionen und adressiert sie innerhalb eines strategischen Gesamtrahmens, der die Instrumente wirtschaftlicher Kooperation, politischen Entgegenkommens und militärischer Abschreckung kombiniert.[13]
4. Glaubwürdigkeit statt moralischer Überheblichkeit: Eine wertebasierte Realpolitik weiß um die Schädlichkeit ideologischer Selbstgewissheit, gleich ob ein amerikanischer Exzeptionalismus in Unilateralismus führt oder das deutsche Dogma der «Zivilmacht» in Illusionen endet. Statt moralischen Überlegenheitsdenkens ist es wichtig, die eigenen Prinzipien glaubwürdig zu praktizieren. Doppelstandards und Doppelmoral hingegen kosten Glaubwürdigkeit und Legitimität – vom war on terror bis zum Wandel durch Handel.
5. Konsequenz: Glaubwürdigkeit bedeutet schließlich, aus dem kapitalen Fehler von Bukarest 2008 zu lernen und bei aller Ambiguitätstoleranz und Abwägung in strategischen Fragen nach der Maxime All in or all out zu verfahren. Europa und der Westen müssen klare strategische Prioritäten definieren, diese konsequent verfolgen und die Gesamtausrichtung ihrer Politik daran orientieren.
Was aber bedeutet dies für Deutschland, Europa und den Westen nach dem Ende der Ordnung von 1990 konkret?
1. Stärke nach außen: Die aktive Aufrechterhaltung der liberalen Ordnung zwischen den Staaten verlangt die konsequente Verteidigung der Integrität souveräner Staaten und die Eindämmung des Expansionismus imperialer Mächte. Sie bedarf der glaubwürdigen und angemessenen Unterstützung für angegriffene und bedrohte Staaten wie die Ukraine, Israel und Taiwan und zugleich der strategischen Suche nach belastbaren, für alle Seiten akzeptablen Lösungen. Und sie erfordert die Pflege und den Aufbau strategischer Beziehungen mit transpazifischen Partnern wie Japan, Südkorea und Australien, mit potenziellen globalen Partnern wie Indien und mit kooperationsbereiten Staaten in neuralgischen Weltregionen wie dem Nahen Osten oder Afrika.
2. Stärke von innen: Die Wiederbelebung der freiheitlichen Demokratien des Westens setzt voraus, akute politische Probleme zu lösen, allen voran im Zusammenhang mit Migration, und die grundlegenden Staatsaufgaben zuverlässig zu erfüllen. Die liberalen Demokratien müssen die begründete Zuversicht vermitteln, dass sie eine lebenswerte Zukunft ermöglichen. Und sie benötigen eine neue Hausordnung für ihre angegriffene Herzkammer: eine sach- und vernunftorientierte politische Öffentlichkeit, die kontrovers in der Sache, aber respektvoll im Umgang streitet und die ausgrenzende Empörungskulturen, Polarisierung und Blasenbildungen ebenso vermeidet wie die Unterminierung durch fake news und Manipulationen von außen. Dies mag angesichts entgrenzter social media illusorisch erscheinen, beschreibt nichtsdestoweniger die zentrale Herausforderung für die Selbstbehauptung der westlichen Demokratien von innen.
3. Transatlantische Solidarität: An prominenter Stelle der National Mall in Washington liegt der German-American Friendship Garden, der während der Präsidentschaft Ronald Reagans als Symbol transatlantischer Partnerschaft angelegt wurde, nachdem die Bundesrepublik die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses vollzogen hatte. Im 21. Jahrhundert haben die Beziehungen vielfältige Belastungen erfahren: Free Riding und mangelnde Solidarität auf deutscher und europäischer Seite, Unilateralismus und Unberechenbarkeit auf amerikanischer. Strategische Priorisierung bedeutet demgegenüber, die Dinge in Perspektive zu setzen: Auch von Donald Trump regierte Vereinigte Staaten stehen Europa ungleich näher als Putins Russland oder Xi Jinpings China. Die Selbstbehauptung des Westens bedarf mehr denn je solidarischer transatlantischer Partnerschaft von beiden Seiten: der USA und Europas.
4. Europäische Handlungsfähigkeit: Europa muss eine gestaltende Rolle als verantwortungsvoller Spieler des globalen Westens wahrnehmen – als zuverlässiger Partner gegen chinesischen und russischen Expansionismus ebenso wie als selbstbewusster Partner gegenüber amerikanischem Protektionismus und Unilateralismus innerhalb der westlichen Allianz, aber nicht unabhängig davon. Dazu gehört auch eine konstruktive Zusammenarbeit der Europäischen Union und ihrer Staaten mit dem Vereinigten Königreich als dem globalsten Player in Europa. Diese Handlungsfähigkeit verlangt einen verlässlichen und eigenständigen sicherheits- und verteidigungspolitischen Beitrag Europas sowie die Stärkung und Vertiefung europäischer Kooperation in Bereichen wie Sicherheit und Verteidigung, Grenzsicherung und Migration sowie technologischer Innovationen und Wettbewerbsfähigkeit. Die Konzentration auf Kernbereiche europäischer Zusammenarbeit erfordert zugleich eine Strategie für die Weiterentwicklung der EU anstelle sukzessiver Krisenreaktionen: für ihre Rolle auf dem Westbalkan oder in Osteuropa ebenso wie für ihr Selbstverständnis als Quelle aktiver Selbstbehauptung statt als verblassender «soft-power-Idylle»[14]. All dies verlangt politische Führung, die nicht allein aus Brüssel kommt, sondern wesentlich von den großen Staaten bzw. einem «Kern handlungsfähiger und handlungswilliger Staaten»[15] abhängt – und insbesondere von Deutschland.
5. Deutsche Führungsverantwortung: Der polnische Außenminister Radosław Sikorski mahnte schon 2011: «Ich fürchte deutsche Macht weniger als […] deutsche Untätigkeit. Sie sind Europas unentbehrliche Nation geworden. Sie dürfen nicht versäumen zu führen.»[16] Ein handlungsfähiges Europa braucht Deutschland als benevolente Führungsmacht, die nicht dominiert, aber die bereit ist, strategische Debatten proaktiv zu führen, europäische Meinungsbildung gestaltend zu moderieren – einschließlich der lange verweigerten Debatte über Emmanuel Macrons Initiativen – und großzügig in die europäische Ordnung zu investieren.[17] Auch im Hinblick auf sein europäisches Selbstverständnis und seine Rolle in Europa benötigt Deutschland eine Zeitenwende.
Das Ende einer Ordnung ist der Anfang einer neuen, und dieser Anfang prägt die neue Ordnung. Daher ist so wichtig, was unmittelbar nach dem Ende der Ordnung von 1990 entschieden und getan wird, wenn sich Verhältnisse verflüssigen und für kurze Zeit gestaltbar werden, bevor sie sich wieder verfestigen. Es gibt kein Patentrezept für globale Neuordnungen, und es gibt keine eindeutigen und endgültigen Lösungen. Was es gibt, sind historische Erfahrungswerte von Staatskunst in liberalen Demokratien: wertebasierte Realpolitik und historisch-politische Vorstellungskraft, eine Handlungsperspektive von mittlerer Reichweite und strategisches Ordnungsmanagement, Glaubwürdigkeit statt moralischen Überlegenheitsdenkens, Führungsbereitschaft und strategische Prioritätensetzung. Sie sind die Voraussetzungen verantwortungsvoller internationaler Politik auch im neuen Ost-West-Konflikt nach dem Ende der Illusionen und dem Verlust des Friedens von 1990.