Kapitel

Lucy

GREGOR

eine Person, die gern ertrinkt

Damals

Der Typ tauchte nicht auf.

Verfluchte Scheiße.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen in der Hoffnung, mehr erkennen zu können, aber an meiner Sicht veränderte sich nichts. Ich beäugte einen bläulich schimmernden See. Nur von diesem Typen, der darin geschwommen war, fehlte jede Spur. Er hatte lose Bahnen mit seinen schmalen Armen gezogen, dann war er untergetaucht. Und seit einer guten halben Minute nicht wieder hochgekommen. Mit leicht zitternden Beinen trat ich dem Ufer näher.

Ab wann sollte man nachsehen, ob eine Person gerade ertrinkt oder doch bloß am Seeboden chillt?

Die Frage hämmerte in meinem Kopf, während ich einen Blick über die Schulter warf. Ich war auf der Suche nach einer Passantin oder einem Jogger. Irgendjemandem, der sich die Verantwortung mit mir teilen könnte. Doch ich fand niemanden.

Es war Mittwochmorgen, nicht einmal acht Uhr. Ich stolperte lediglich durch die Allee, weil ich vor lauter Aufregung nicht hatte schlafen können. Ich wollte kurz frische Luft schnappen , als wäre ich diese Art von geordneter Person.

Haha, klar.

Wieder flackerte mein Blick zum Wasser. Doch nichts signalisierte mir, dass er wieder auftauchen würde. Jetzt nicht und jetzt nicht und jetzt immer noch nicht.

Du übertreibst. Als ob der Typ gerade vor deinen Augen ertrinken würde. Du übertreibst immer, vergiss das nicht.

Es war das Letzte, was ich dachte, bevor ich nichts mehr dachte, weil mein Kopf sich ausklinkte. Das passierte ständig, wenn ich mir eines meiner Horrorszenarien zusammenspann. Darin war ich nämlich Spezialistin. Ganz im Gegensatz dazu, Leute zu retten. Aber better safe than sorry . Oder?

Mein Herz pochte heftig, als ich mir hektisch die Riemchensandalen von den Füßen streifte, in meinem Sommerkleid ins Wasser hechtete und …

S-C-H-E-I-S-S-E.

Das Wasser erwischte mich kalt. Eine Million Nadelstiche bohrten sich unter meine Haut. Keine Ahnung, wie der Typ es hier drin überhaupt so lange ausgehalten hatte. Der, der immer noch unter Wasser war. Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Eine Minute? Eineinhalb? Egal , sagte ich mir. Egal, egal, du musst endlich schwimmen.

Also schwamm ich.

Ich schwamm in meinem Sale-Kleid von Zara durch den See, bis ich diesen Körper unter mir ausmachte. Meergrün und verschwommen saß er auf dem Seegrund, seelenruhig und sehr entspannt, als wäre nichts dabei.

Ich musste ihn nicht antippen und nicht einmal näher paddeln, denn bei Gregor war es so: Die kleinste Veränderung in seiner Umgebung reichte, damit dreitausend Alarmglocken in seinem Kopf ertönten.

Aber davon hatte ich damals noch keine Ahnung. In diesem Moment wusste ich bloß, dass der Typ die Lider aufriss, einen Moment lang zögerte und sich dann endlich, endlich in Richtung Oberfläche regte. Letztere erreichte er mit einem Keuchen. Der Laut verklang jedoch sofort in meinen Ohren, weil meine Zähne vor Kälte klapperten.

Oh Gott, oh Gott, oh Gott.

Es war unfassbar eisig. Mein Körper war so sehr mit Zittern und Nicht-Erfrieren beschäftigt, dass ich den Typ fast vergaß. Bloß für zwei Sekunden. Dann erklang seine Stimme.

»Kalt, was?«

Kalt, was? Das sagten Menschen also zu mir, wenn ich sie vorm Ertrinken bewahren wollte. Bebend wandte ich mich nach links und starrte diesem Idioten ins Gesicht. Dunkle Augen, nachtschwarze Korkenzieherlocken und viel zu blasse Haut. Er zitterte nicht einmal halb so viel wie ich, aber so war er. Immun, Eis, eine Statue, mein kalter, kalter Gregor.

»W…was s…sollte d…das?«

»Wie meinst du?« Er klang ehrlich verwirrt.

»I…ich …«

Krieg dein Stottern in den Griff, Wagner.

So ruhig und gleichmäßig wie möglich atmete ich durch. »Ich dachte, du ertrinkst, Mann!«

»Chill mal, ich habe bloß die Luft angehalten.«

»Bitte?« , erwiderte ich fassungslos. »Ist das etwa dein Ding? Einfach so in einem eiskalten See eine Tauchsession abhalten, oder was?«

Meine Beine strampelten. Ich wollte noch mehr sagen – doch genau dann blickte er mich an. Seine Lippen waren einen Tick zu spröde, beinahe so, als würde er ständig darauf herumbeißen. Wassertropfen perlten von seiner Haut und seinen Wangen, fielen ihm sogar von den kurzen Locken auf die schmalen Schultern.

»Ehrlich gesagt: Jepp, es ist mein Ding. Also keine Sorge, nächstes Mal kannst du dir das mit dem Rettungskommando sparen.« Er sagte es viel zu nüchtern und pragmatisch, wie ein wenig emotionaler Vater. Kurz dachte ich, er würde mir zuzwinkern und ein Lächeln hinterherschieben. Es lustig oder lässig machen. Stattdessen zuckte er bloß mit den Schultern.

Ich schluckte, konnte nichts dafür, dass mein Herz zog, diesmal nicht vor Kälte, sondern seltsamerweise vor Wut aufgrund von so viel Gleichgültigkeit.

»Wir sollten raus hier.« Plötzlich nickte Korkenzieherlocken in Richtung Ufer. »Ist echt kalt.«

Aber, Gregor, mein liebster, liebster Gregor, von da an wurde es doch immer nur kälter, meinst du nicht?