Kapitel

Lucy

SRY

ein Klassiker

Jetzt

ROMEO (REWE)
sry lucy

Meine Finger umklammerten das Handy fest, während der Bass fiel. Ringsum waren die meisten voll drin, betrunken, high oder beides, ganz im Beat und im Jetzt, um sich vom Techno treiben zu lassen. Alle außer mir. Denn es war nicht meine Musik, mein Abend, mein Tag, meine Woche und mein Monat. Ich stand bloß wie festgewachsen in Samus Flur und blinzelte meinem Display entgegen.

sry lucy

In meinen Ohren knackte es.

sry lucy  – das war nicht einmal ein Tut mir leid , einfach so dahingeschrieben und wenig ernst gemeint. Kein Komma, auf korrekte Groß- und Kleinschreibung geschissen.

Meine Finger umklammerten das Gehäuse fester. Sie zitterten. Ich zitterte.

sry lucy. Gott, wie dekadent und ignorant das war. Genau so, wie es nur Typen konnten, die dich mit ihrem Grübchenlächeln in der Supermarktschlange ansprachen, weil du vor ihnen standest und sie wiederum auf deine Jeans standen. Schließlich waren sie ja Draufgänger mit einer gleichgültigen Ader, die Frauen noch im echten Leben ansprachen. Ihren Bros erzählten sie davon natürlich so stolz, als wäre es eine gewonnene Kriegsgeschichte. Gleich nachdem sie dich hart von hinten gevögelt hatten, während ihr Mitbewohner nebenan ein Pesto aufschraubte. Und danach? Tja, danach schmissen sie dich schamlos raus, weil die Grenzen doch abgesteckt waren. Sie zogen Linien über deinen Slipbund, verharrten dabei allerdings genau auf der Stelle. Immerhin warst du zwar supercute und nett, tatst ihnen unfassbar gut, aber gut und nett und cute reichten nicht. Niemals. Nicht heute, nicht in unserer Generation, in der …

»Na, na, sind wir hier etwa auf einer Handyparty, Lucy-Lu?«

Bei Tillies Lachen zuckte ich zusammen. Hastig wollte ich das iPhone zurück in meine Hosentasche stopfen, doch es war zu spät. Ihr Blick klebte bereits auf dem Display. Zwei, drei Beats lang, bevor sie den Kopf hob. Und mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog.

Wir befanden uns auf der legendären Turmparty – ein Kölner Wohnhaus, drei WGs und eine krasse Feier über mehrere Stockwerke hinweg. Es war der erste Freitag nach Semesterbeginn. Der Abend war perfekt, oktoberlauwarm und klar. Der Boden bebte, unsere Kommilitonen vibrierten. Es roch nach Parfum, verschüttetem Wodka-E und letztem Sommer. Alles war vertraut und aufregend zugleich. Blöd nur, dass ich mit zitternden Beinen vor meiner besten Freundin stand und ein bisschen sterben wollte.

»Sag nichts«, murmelte Tillie. »Rewe-Romeo.« Leise sprach sie seinen Namen aus, als dürfte ihn niemand hören. Dabei gehörte er doch bloß zu einem harmlosen Sportjournalismusstudenten, der am liebsten Gemelli-Pasta in seinen Einkaufskorb schmiss.

Trotzdem besaß eine Nachricht von ihm derart viel Macht über mich.

Magensäure kroch mir den Hals hinauf, während ich das Handy erneut entsperrte und es Tillie reichte. Ich beobachtete, wie sie meine letzte Nachricht noch einmal las, obwohl sie einen Screenshot davon auf ihrem Handy hatte.

Hi Romeo, mir fällt es gerade superschwer, dir zu schreiben, aber glaubst du, du könntest mich nicht ghosten und mir stattdessen einfach sagen, dass du das mit unseren Treffen lassen willst?  Smiley

Als sie aufsah, stachen ihre Knöchel weiß hervor, so fest umklammerte sie das iPhone. Ich machte mich auf eine Hasstirade gefasst, indem ich die Schultern straffte. Tillie war nämlich ENFJ, eine Protagonistin, eine Macherin, extrovertiert und impulsiv und die Beste. Wenn sie einen Raum betrat, wusste man es, ohne aufzuschauen. Sie trug gerade geschnittene Jeans und übergroße Kapuzenpullover, ihre Leggins waren an den Beinen ausgestellt und ihre Docs verbraucht. Ihre alltägliche Rüstung bestand aus tiefrotem Lippenstift und ihrem obligatorischen Jutebeutel, der ein schmieriges Chanel-Logo und darunter das Wort fake zeigte. Auf Instagram betitelten Fremde ihren Style als edgy und Berlin . Ihr Haar war schulterlang und blond, sie liebte Highlighter und fand ihre Nase zu spitz. Wenn sie lächelte, war es immer bloß ein halbes. Außerdem war sie laut, selbst wenn sie schwieg. Jemand mit Präsenz, einer Aura, einer Vision. Sie hatte alles und wollte mehr, so jemand war meine Freundin.

»Es tut mir leid, Lucy«, flüsterte sie.

Und das war verflucht noch mal nicht aufmunternd. Ich wollte Wut, auch wenn sie eine Ersatzemotion darstellte, die stets das darunterliegende Gefühl überdeckte. Doch hier stand meine Freundin, leicht gebräunt in ihrem limettengrünen Crop Top und mit dem traurigsten Lächeln in unserem Universum.

Instinktiv umarmte ich mich selbst. »Ich werde nicht sagen, dass ich okay bin«, begann ich. »Ich …«

»Wagner! Vogt! Ihr. Ich. Trinken. Jetzt!« Keine Ahnung, ob ich weinen oder lachen sollte, als Samu uns mit einer Schachtel Klopfer in der Hand zu sich winkte und damit nach links deutete. »Wir treffen uns in der Küche. Und ja, das ist ein Date. Wenn ihr nicht kommt, geht das direkt in mein verletzliches Schriftstellerherzchen.«

»Lass uns abhauen.« Tillie ignorierte unseren Kommilitonen, der bereits in die Küche verschwand. »Wein, deine Wohnung und endlich gute Musik. Sag einfach Ja, dann schreibe ich Manda, dass sie nach ihrer Schicht gleich zu dir kommen soll. Und ich warne dich: Wenn du behauptest, das würde nicht nach einem besseren Plan klingen als das hier, gibt das schlechtes Karma für deine Lüge.«

Ich schluckte. »Ich kann hier nicht weg.«

»Hä? Bullshit. Klar kannst du. Wir …«

»Ich kann hier nicht weg, weil der Abend sonst damit enden wird, dass ich heulend auf meinem Teppich sitze und unzusammenhängende Sätze von mir gebe, in denen es nicht einmal wirklich um Romeo gehen würde. Selbst wenn ich es ziemlich frustrierend finde, dass er mir auf meine letzte Nachricht eine Woche lang nicht geantwortet hat und jetzt das kam. Aber ich war nie wirklich in ihn verliebt. Klar, manchmal dachte ich, das mit uns könnte mehr werden, wie das halt in guten Momenten so ist. Aber eigentlich, keine Ahnung. Ich bin einfach nur enttäuscht. Weil ich schon wieder darauf reingefallen bin.«

Tillie presste die Lippen aufeinander. Sie wollte diesen Kampf nicht verlieren. Sie wollte das Beste für mich, mir Wein geben, sodass ich weinte, bis ich ausgeweint war. Aber ich hatte die Wahrheit schon gesagt. Ich war so unendlich enttäuscht. Dabei sprach ich lediglich von Dating, Situationships und Ghosting. Alles bloß englische und fremde Begriffe, als könnten sie uns so nicht berühren – was natürlich nur ein Augenverschließen vor der Wahrheit war. Das einzige Problem? Meine Lider waren immer geöffnet. Ich sah alles, wollte alles sehen und nichts verpassen. Ich füllte meine Handynotizen mit interessanten Beobachtungen für Seminare und hatte kein Problem mit dem Alleinsein. Denn ich war nicht einsam, ich war zwanzig, frei und furchtlos. Und trotzdem. Trotzdem schmerzte jedes virtuelle Schweigen. Jedes sry lucy . Jedes unverbindliche Mal Sex, der nie unverbindlich blieb. Schließlich war da immer mehr, weil ich doch so süß und gut und nett war. Aber mehr war nicht alles . Mehr reichte nicht. Nie bei mir, das hatten wir ja schon.

»Morgen«, fügte ich hastig hinzu. »Morgen können wir darüber reden, okay?«

»Verdrängen ist nicht gut.« Tillie schüttelte den Kopf. »Das wollten wir doch lassen.«

»Es ist kein Verdrängen. Es ist ein Aufschieben.«

»Das sind Synonyme.«

»Bist du dir sicher, dass www.synonyme.woxikon.de das auch so sehen würde?«

Ich wackelte mit den Brauen, während Tillie sich seufzend eine Strähne hinters Ohr schob.

»Ehrlich gesagt bin ich alles andere als überzeugt. Aber wenn du unbedingt diese ekelhaften Klopfer in der Sour-Version trinken willst, dann trinken wir sie wohl.«

Nickend atmete ich durch, bevor ich meine Hand zu ihrer wandern ließ. »Danke.« Ich presste meine Handinnenfläche an ihre.

Sie drückte zweimal zurück.