Lucy
GLASSPLITTERKLAR
nichts, das Gregor jemals beschreiben könnte
Damals
Kalte Luft blies mir entgegen, während ich im Türrahmen verharrte. Rund ein Dutzend Teilnehmer saßen schon an den Tischen. Ich wollte gerade einen Platz auf der linken Seite ansteuern, da fiel er mir auf.
Der Typ.
Schwarze Korkenzieherlocken. Blasse Haut. Volle rote Lippen. Ich verbessere: der Typ, der einfach so auf dem Seeboden chillt. Im Gegensatz zu meinem Haar, das ich provisorisch durchgeföhnt hatte, war seins wieder trocken. Auch von seinem nackten Oberkörper fehlte jede Spur. Jetzt trug er nämlich einen Kapuzenpullover, der ihm zwei Nummern zu groß war. Seine Finger gingen sogar in den Ärmeln unter, während er mich schonungslos anstarrte. Als wäre intensiver Blickkontakt unter Fremden völlig normal.
Meine unnötige Rettungsaktion war keine Stunde her. Nachdem er zum Ufer genickt hatte, hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. Ich war bloß in meinem klitschnassen Kleid in Richtung Unterkunft gestampft und hatte innerlich darum gebeten, niemandem so zu begegnen. Auf dem Weg hierher hatte ich mir schließlich einen Plan zurechtgelegt, der beinhaltete, die seltsame Begegnung in meiner bestimmten Gehirnschublade zu verstauen. Die, die ich Taktisch unkluge Aktionen, an die niemand außer mir sich erinnert nannte. Doch ich kam gar nicht dazu, sie zu schließen, weil alles an Gregor mir vermittelte, dass er sich sehr wohl erinnerte.
Überraschung, Wagner. Ist ja nicht so, als würde man ständig Typen mit Straßenkleidung ins Wasser hinterherspringen.
Da ich nicht weiter wie eine Idiotin im Türrahmen verharren wollte, steuerte ich den Platz an, der am weitesten von ihm entfernt war. Ich packte meine Sachen aus, lächelte den Fremden zu, spielte mit meinem Leuchtmarker und hoffte inständig, dass die nächsten vier Wochen gut werden würden. Doch egal, wie sehr ich mich um Small Talk bemühte, darum, normal und supersympathisch zu wirken, weil ich doch Lucy Wagner war und von allen gemocht werden musste – der Typ blieb in meiner Wahrnehmung omnipräsent.
Selbst wenn er in der hintersten Ecke hockte, das Kinn gesenkt hielt und Wirbelstürme auf sein Schmierblatt malte. Jepp, sogar das erkannte ich. Er war so vertieft in seine grauen Bleistifttornados, dass er nur aufsah, als Ingrid Claasen den Raum betrat.
»Ich freue mich, euch zum diesjährigen Bernhard-Rheiner-Aufenthaltsstipendium begrüßen zu dürfen. Mein Name ist Ingrid Claasen und …« Sie stellte sich vor, erzählte von Veröffentlichungen und Erfolgen. Ich rechnete mit einer gegliederten PowerPoint-Präsentation, die uns einen Ausblick auf die nächsten Wochen geben würde. Doch wider Erwarten sollten wir aufstehen. »Wir beginnen mit einer leichten Morgengymnastik.« Das erklärte dann wohl die zusätzliche Bemerkung Bitte Sportkleidung tragen zu dieser Einheit auf dem Stundenplan. »Anschließend schreiben wir«, fuhr sie fort. »Das Erste, was euch einfällt. Ein Schreibaufwärmen sozusagen.«
Fünf Minuten später tränkte sie den Raum mit ihrer Vorleserinnenstimme, während wir in Yogaposen gingen. Ich hätte mich entspannen und auf die Erfahrung einlassen können, als eine von fünfzehn Leuten unter Hunderten Bewerbern ausgewählt worden zu sein. Ein Aufenthaltsstipendium, wie krass war das eigentlich? Aber als wir uns um kurz nach zehn an die Laptops setzten, erkannte ich aus dem Augenwinkel nur ihn. Ich-chille-gern-auf-dem-Seeboden-Typ. Ich sah ihn so, wie man einzelne Personen inmitten von Menschenmassen wahrnahm. Als wäre ein imaginärer Scheinwerfer auf sie gerichtet. Als wären sie Schauspieler auf der Bühne, im Zentrum, aufregend und außergewöhnlich.
»So«, sagte Ingrid nach fünf Schreibminuten. »Eure Zeit ist vorbei. Habt ihr alle etwas geschrieben? Ja? Sehr gut! Dann stellen wir uns jetzt vor. Name, Alter und ein Satz aus eurem gerade geschriebenen Text.«
Instinktiv begann mein Herz zu pochen. Ich dachte, es wäre bloß eine Aufwärmübung? Ich musterte mein Word-Dokument, das nichts weiter als simple aneinandergereihte Hauptsätze beinhaltete. Nichtssagend. Austauschbar.
Alles, was ich nicht sein wollte.
Alles, was ich fürchtete zu sein.
»Du fängst an.« Ingrid lächelte See-Typ zu, strahlend und mit zwei erhobenen Mundwinkeln. Am liebsten hätte ich ihr erklärt, dass sie sich die Mühe sparen konnte.
Hab heute Morgen versucht, ihn zu retten, und nur eine passiv-aggressive Antwort bekommen. Schätze, Lächeln ist nicht so sein Ding, Ingrid.
Doch das sprach ich natürlich nicht aus. Stattdessen wandte ich mich bloß wie die anderen nach dem Typen um.
»Gregor«, sagte er gleichgültig.
Ich unterdrückte ein Schnauben, denn für mich war seine Masche glassplitterklar. Einen auf cool und unnahbar tun, um seine zerrüttete Seele zu vertuschen. Selbst die abgeschottete Sitzplatzauswahl bewies das.
»Zwanzig«, fügte Möchtegernmiesepeter Gregor hinzu.
»Und dein Satz?«, fragte Ingrid.
Beinahe genervt wandte er sich seinem Laptop zu. Er war schwarz, riesig und ranzig. Rechts fehlte sogar ein Stück des Gehäuses. Doch wie seine Finger darüber zitterten, entging mir nicht.
»Kalt, was?«, las er.
Und mich durchfuhr kein Schauer, sondern ein gewaltiger Donner. Instinktiv bohrte ich die Nägel in meine Oberschenkel. Es brannte, doch ich nahm es kaum wahr, weil Gregor das Gesicht hob und mich ansah. Unter all diesen fremden Personen, nur mich. Bis ich Gänsehaut hatte. Überall. Gänsehaut hatte ich seinetwegen immer überall, von Anfang an.
Kalt, was?
Die Sache war die: Wenn ich gewusst hätte, wie tief seine Worte sich in mir festsetzen würden, hätte ich mir die Ohren zugehalten.